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Hommage zum Jubiläum - „Shakespeare altert nie “

450 Jahre Shakespeare: Wie lässt sich der größte Dichter aller Zeiten entschlüsseln? Regisseur Thomas Ostermeier und Schriftsteller Hartmut Lange über Poesie, Politik und den ewigen Zwang zur Verstellung

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Thomas Ostermeier: Der aus Soltau stammende 45-jährige Regisseur ist seit 2009 alleiniger künstlerischer Leiter der Berliner „Schaubühne“. Bereits fünf Mal wurden seine Inszenierungen zum Theatertreffen eingeladen. Zuletzt führte er Regie bei Lillian Hellmans „Die kleinen Füchse“

Hartmut Lange: Der 1937 in Berlin geborene Schriftsteller arbeitete in der DDR als Dramaturg und schrieb Stücke, ehe er sich 1965 in den Westen absetzte. Für seine tiefgründigen und lakonischen Novellen, zuletzt in dem Band „Das Haus in der Dorotheenstraße“, wurde er vielfach ausgezeichnet

 

Christian Wulff griff auf William Shakespeare zurück, um seine Zeit als Bundespräsident zu bilanzieren: „Mir ist mehr Unrecht geschehen, als ich je Unrecht getan habe.“ So drückt der tragisch scheiternde König Lear seinen gerechten Zorn gegen eine ungerechte Weltordnung aus: „I am a man more sinned against than sinning.“ Ist Wulff eine Figur von shakespearescher Größe?
Hartmut Lange: Er ist es insofern, als ich mich angesichts der massiven Anwürfe der Presse gefragt habe, ob er sich nicht irgendwann am Fensterkreuz erhängt. Ansonsten hat er mit diesem Zitat immerhin gezeigt, dass er gebildet ist. Einen Shakespeare-Kenner würde ich ihn nicht nennen.

Sie hingegen, Herr Ostermeier, haben den „Sommernachtstraum“, „Maß für Maß“, „Hamlet“ und „Othello“ inszeniert. Demnächst werden Sie sich „Richard III.“ vornehmen. Warum ist das Theater vernarrt in Shakespeare?
Thomas Ostermeier: Ganz einfach: Weil er der komplizierteste Autor überhaupt ist.

Inwiefern?
Ostermeier: Seine Stücke haben sehr unterschiedliche Echoräume, die es freizulegen gilt. Ich inszeniere ihn, um ihn besser zu verstehen. Erst auf der Bühne entkleidet sich vieles, was man bei der Lektüre nicht begreift. Der dreidimensionale Raum macht es offenbar.

Was wird da offengelegt?
Ostermeier: Die zwei wichtigsten Gründe für meine Lust an Shakespeare sind die politische Dimension der Stücke und die Beziehung der Figuren zum Zuschauerraum. Beides hängt zusammen: indem die Figuren wissen, dass ihnen zugeschaut wird, und indem sie sich gegenseitig dabei zugucken, wie sie sich verstellen. Der Zwang zur Verstellung kommt aus der Situation. Darin war Shakespeare ein Meister. Dieses Maskenhafte, dieses Schauspielen in der Öffentlichkeit hat eine eminent politische Bedeutung.

Sie, Herr Lange, nannten Shakespeare jüngst „den Größten aller Zeiten“. Laut Ralph Waldo Emerson schrieb er den „Text des modernen Lebens“.
Lange: Herr Ostermeier spricht als Mann des Theaters. Sie können aber die Stücke auch wie einen Roman lesen. Mich fasziniert er als literarisches Phänomen, da ist Shakespeare jemand, der nie altert. Er bleibt archetypisch. Er hat im 16. Jahrhundert die ganze Psychopathologie der Mächtigen, aber auch die Psychopathologie des Privaten vorweggenommen, alles, was nach ihm kam, von Goethe bis Ibsen. Im Unterschied zu diesem aber hatte er einen großen Sinn für Dichtung. Shakespeare ist in Blankverse geschmiedeter Geist.

Auf Blankverse wartet man in Ihren Inszenierungen vergebens. Ihr „Sommernachtstraum“ von 2006 sah sich der Kritik ausgesetzt, Shakespeare sei bloß Vorwand für zappeliges Körpertheater.
Ostermeier: Der „Sommernachtstraum“ für das Theaterfestival Athen war ein spezielles Projekt in Zusammenarbeit mit der in Berlin lebenden argentinischen Choreografin Constanza Macras. Meine gewissermaßen seriöse Beschäftigung mit Shakespeare beginnt danach, und da spielt die Sprache eine unwahrscheinlich große Rolle. Wenn Marius von Mayenburg, Autor und Dramaturg an der Schaubühne, eine Übersetzung erstellt, versucht er immer, die Form aus dem Stoff heraus zu entwickeln, nicht umgekehrt. Ich habe eine viel zu große Demut vor und viel zu viel Bewunderung für Shakespeare, als dass ich mich einem sprachlichen Einerlei überließe. Vieles bleibt unübersetzbar. Wenn Hamlet sagt, „I’m too much in the sun“, schwingt mehr mit, als wir im Deutschen ausdrücken können: der Sohn, die Sonne an sich, die Sonne als Herrschersymbol, das von der Hitze ausgetrocknete Gehirn. Wir wollen Shakespeares geistige Welt für die Ohren heutiger Zuschauer nicht vereinfachen, aber verständlich machen.

Muss es deshalb Prosa sein?
Ostermeier: Durch die Prosaübersetzungen sind wir näher am inhaltlichen Gehalt, als wenn wir uns an deutschen Blankversen versuchten. Die Worte in der englischen Sprache haben wesentlich weniger Silben als in der deutschen. Wenn man versucht, die gleiche Silbenanzahl im deutschen Blankvers zu bedienen, kommt es unweigerlich zu verkürzten oder sinnentstellenden Sätzen. Noch schlimmer wird es, wenn man noch den Reim am Versende einhalten will. Dies ist auch einer der Gründe, warum die klassischen Übersetzungen Shakespeares so unverständlich sind. Und wenn man im Theater nichts versteht, schaltet man nach kürzester Zeit ab.

In Ihrem „Hamlet“, Herr Ostermeier, sagt Ophelia, der Prinz habe ihr „seine Zuneigung signalisiert“. Das ist flapsig.
Lange: Es ist eben falsch, Shakespeare in Prosa zu übersetzen. Die Unerlöstheit seiner Figuren ist eingebunden in Sprengkapseln des Poetischen. Die Form gehört zur Substanz. Wenn Hamlet den „Sein oder Nichtsein“-Monolog in Prosa hielte, wäre er schon in einer Psychoanalyse gewesen, wo man ihm gesagt hätte: Versuchen Sie doch, vom Blankvers wegzukommen, dann geht es Ihnen besser. Nein. In den Wänden des Blankverses muss Hamlet mit sich zurechtkommen. Deshalb ist Shakespeare letztlich nicht zu übersetzen. Man muss ihn nachdichten, wie es die großen Romantiker getan haben. Dann wird er „unser Shakespare“.

Darum konnte Ferdinand Freiligrath im Vormärz dichten: „Deutschland ist Hamlet.“ Jede Nacht nämlich gehe „die begrabne Freiheit um“. Haben wir Deutschen einen besonderen Bezug zu diesem gedankenvollen, tatenarmen Helden? Immerhin hat ihn ein Studium in Wittenberg zum Zauderer gemacht.
Ostermeier: Marcel Reich-Ranicki sagte einmal, jede Zeit müsse ihren „Hamlet“ entdecken. Insofern ist „Hamlet“ an die jeweilige Zeit und den jeweiligen Ort gebunden und nicht spezifisch deutsch. Das Zaudern möchte ich aber ein wenig in Schutz nehmen: Es ist eine entscheidende Kulturleistung, dass Hamlet immer wieder vor dem Mord zurückschreckt. Im protestantischen Wittenberg ist ihm der katholische Glaube, der in dieser Zeit auch einen großen Anteil Aberglaube hatte, ausgetrieben worden. Nun aber redet auf einmal ein Geist zu ihm und drängt zur rächenden Tat. Wie soll er sich da verhalten? Aus Hamlet spricht eine metaphysische Unsicherheit. Ihm kam das Weltbild abhanden.
Lange: Die Ursache des unglücklichen Bewusstseins von Hamlet – dass das Denken Feiglinge aus uns allen macht – begründet erst die Zivilisation des Menschen. Für Bertolt Brecht hingegen, der in seinen Dramen das Archetypische durch Ideologie ersetzt, war dieses Zurückschrecken vor der Tat eine logische Schwäche. Hamlet erschien ihm als Zauderer, den man in einer Parteiversammlung zur Ordnung rufen müsste.

Zu den überzeitlichen Erkenntnissen gehört, was Sie so benannten: An den Dramen Shakespeares könne man studieren, „wie die Triebhaftigkeit des Menschen ( … ) ausschließlich durch das Denken pervertiert wird“. Ermuntert uns Shakespeare, weniger zu denken?
Lange: Nein, es gibt da keinen Ausweg. Menschliches Existieren bleibt eine große Unvereinbarkeit. Diese Unvereinbarkeit müssen wir in eine menschenfreundliche Haltung sublimieren. Wenn wir stattdessen eine gerechtere gesellschaftspolitische Ordnung schaffen wollen, landen wir in China oder Nordkorea.

Da wäre die politische Dimension perdu.
Ostermeier: Shakespeare ist immer politisch. Der Soziologe Ulrich Beck prägte 2006 den Begriff der „Generation Hamlet“ und meinte die damals 30- bis 40-Jährigen, die eine Welt gestalten sollen, „die auf entmutigende Weise kompliziert geworden ist“. Wie Hamlet haben sie das diffuse Gefühl, etwas sei faul, wissen aber nicht, wo der Feind steht. Sie spüren nur diesen Zwang zur Handlung in einer überkomplexen Welt.
Lange: Es kommt aber nicht darauf an zu handeln, sondern ethisch, menschenfreundlich zu handeln.
Ostermeier: Das Unwohlsein in Europa speist sich momentan vor allem daraus, dass die von Ihnen genannte gerechte Ordnung weit entfernt scheint.
Lange: Da muss ich entgegnen: Der Mensch, der sozial befreit ist, fängt an, existenziell zu leiden.
Ostermeier: Hamlet leidet, weil, wie er sagt, „the time is out of joint“. Die Übersetzung, die Welt sei aus den Fugen, trifft es nicht. Bei uns heißt es, „die Zeit ist ganz verrenkt“. Eine Zeit, ein Zeitalter kann man vielleicht – anders als die Welt – wieder einrenken.
Lange: Eine solche Nachdichtung ist legitim. Grundsätzlich aber darf der Regisseur nicht im Innovationswahn versinken. Er muss wissen, dass der große schöpferische Tigersprung von Shakespeare kommt. Darum gefiel es mir nicht, Herr Ostermeier, dass in Ihrer Inszenierung von „Hedda Gabler“ die Menschen so absolut gegenwärtig waren, auch in den Kostümen. Bei Ibsen muss ich das Zeitalter von Edvard Munch vor mir sehen, muss der Tigersprung in die Frühzeit der Psychoanalyse gerichtet sein.
Ostermeier: Mir bereitet es ein großes Vergnügen, den bildungsbürgerlichen Kanon in gegenwärtigen Welten zu inszenieren. Ich würde nie sagen, so muss man es machen.

Als Sie „Maß für Maß“ inszenierten, die bittere Komödie über die Korruption der Macht, wurde mehr über die Schweinehälfte debattiert, die von der Bühnendecke hing, als über Shakespeare. Können kräftige Bilder den Text verdunkeln?
Ostermeier: Es ist ein großes Missverständnis, wenn Sie in mir einen Exponenten des Körper- oder Bildertheaters sehen. Das bin ich nicht. „Maß für Maß“ wurde „altmeisterlich“ genannt. Der wunderbare, leider verstorbene Gert Voss gab den Herzog Vincentio und sagte danach, er habe das Stück nun erst richtig verstanden, obwohl er bereits in den achtziger Jahren in einer „Maß für Maß“-Inszenierung den Angelo gespielt hatte. Ich versuche wirklich, mich in diesen „Tigersprung“ hineinzubohren, in dieses pervertierende Denken, von dem Herr Lange sprach. „Maß für Maß“ ist mein Lieblingsstück, exemplarisch für viele Stoffe von Shakespeare: Da tritt jemand – Angelo – mit einem fast stalinistischen Veränderungswillen auf, will alles besser machen in diesem verrotteten Kleinstaat, dessen Herzog sich zurückgezogen hat. Und entdeckt plötzlich den Abgrund in sich. Das 20. Jahrhundert war voll von solchen Diktatoren der Reinheit. Um diese Perversionen zu begreifen, fängt man an zu denken, und das Denken bringt einen irgendwann um den Verstand.
Lange: Wodurch Shakespeare den Nihilismus vorwegnahm. Nietzsches Diktum vom Menschen als dem „nicht festgestellten Tier“, das den Zugang zum Instinkt verloren habe und dessen Intellekt nicht in der Lage sei, die Sache zu korrigieren, findet sich bei Shakespeare vorab bestätigt.

Also keine Utopie nirgends?
Ostermeier: Seine Utopie war der weise Herrscher. „Maß für Maß“ hatte er zum Amtsantritt von König Jakob I. geschrieben, und in seinem letzten Stück, „Der Sturm“, hat der der Macht entsagende Zauberer Prospero, ehemals Herzog von Mailand, das letzte Wort, zerbricht den Zauberstab. Eine andere Antwort hatte er nicht.
Lange: Dennoch enden die meisten Stücke nicht negativ. Es wird geschlachtet, wird gemordet, aber der Kreuzigungsgedanke und dessen Ernst fehlen. Als Theaterpraktiker wusste er, dass die Zuschauer nach Hause gehen wollen mit dem Trost, dass alles Schlimme vielleicht anders werden könnte. Der Zwang zur Utopie ist eine menschliche Notwendigkeit.

Das elisabethanische Theater, schreibt Shakespeare-Biograf Hans-Dieter Gelfert, war auch „ein kommerziell betriebenes Unterhaltungsmedium wie im 20. Jahrhundert das Kino“.
Ostermeier: Ich finde den Gedanken reizvoll, Shakespeare stamme aus einer katholischen Familie, in der das Katholische weiterhin gepflegt wurde oder zumindest als Sehnsucht vorhanden war. Er wäre dann in einer Zeit, in der es katholische Umsturzversuche gab und in der Katholiken in England von den regierenden Anglikanern verfolgt und ermordet wurden, gezwungen gewesen, seine Identität zu verbergen. Er hätte sich verstellen müssen – so wie sein ganzes Arsenal an Figuren, die ihre eigentliche Identität verheimlichen müssen, um überleben zu können.
Lange: Sobald Sie als Dichter Gott auf die Zunge nehmen, können Sie entweder in die Kirche gehen oder nach Hause.

Es heißt bei Shakespeare auch „Die ganze Welt ist eine Bühne“.
Ostermeier: Ja, „all the world’s a stage“ in „Wie es euch gefällt“. Allerdings stand als Motto über Shakespeares Globe Theater „Totus mundus agit histrionem“. Das heißt, die ganze Welt „spielt“ den Schauspieler, sie zwingt zum Spiel, zu Verheimlichung und Maskerade – ein Konzept von Leben als Spiel, das in unserer puritanischen Gegenwart auf dem Altar des Authentizitätswahns geopfert wurde.

John Keats zufolge liegt die Größe Shakespeares darin, dass er in allen wesentlichen Punkten Ja und Nein zur selben Zeit sagt. Macht die Ambivalenz ihn unsterblich?
Lange: Das Phänomen Shakespeare ist einzigartig in seiner Totalität und seinem archetypischen Vermögen, bis heute. Das ist für mich ein Geheimnis, das kann ich nicht erklären. In Rechnung stellen müssen wir jedoch, dass es schwache und starke Zeiten für Kunst gibt. Nationalsozialismus und Stalinismus waren kunstunfähig, das Biedermeier war nicht so kunstfähig wie das Barock. Hätte Shakespeare zu Schuberts und nicht zu elisabethanischer Zeit gelebt, hätte er dieses gigantische Werk nicht vollbringen können.
Ostermeier: Wie wichtig Ambivalenzen in den Figuren sind, weiß heute theoretisch jeder Drehbuchautor. Praktisch gelingt es niemandem so gut, wie es Shakespeare gelang.

Zu den Ambivalenzen rechnet auch das Nebeneinander von Brutalität und Komik. Die Gewalt gebiert Monster, und die Monster treiben mit dem Entsetzen Scherz.
Lange: Das ist der psychopathologisch freie Fall, an dem sich bis heute nichts geändert hat. Er setzt die eigentliche Daseinsenergie frei und ist zugleich unser Verhängnis. Deswegen ist das Erschrecken Blaise Pascals für mich so wichtig: Darüber, sagt er, ob es Gott gibt, muss man nicht reden. Aber es verrät äußerste Geistesschwäche, wenn der Mensch nicht erkennt, wie groß sein Elend ohne Gott ist. Der Satz lässt sich auch atheistisch deuten, ich kann ihn unterschreiben.

Können im Zeitalter der Pornokratie, des Splatter-Movies und der allgegenwärtigen Comedy überhaupt Gewalt und Komik im Sinne Shakespeares dargestellt werden?
Ostermeier: Das ist das Schwierigste überhaupt. Ich habe im „Sommernachtstraum“ die komischen Handwerker- und Rüpelszenen gestrichen, ebenso die Volksszenen in „Maß für Maß“. Nach 400 Jahren sind viele Pointen nicht mehr zu verstehen. Die traditionelle Unfähigkeit des deutschen Theaters zum Tempo und zur Pointe tut ihr Übriges. Ungekürzt dauerten die meisten Stücke fünfeinhalb Stunden und mehr.

Ebenfalls schwierig ist die Überfülle an geflügelten Worten. Der „Hamlet“ erscheint als Massenabwurfstelle von Zitaten, „es ist was faul im Staate Dänemark“, „Schwachheit, dein Name ist Weib“, „der Wahnsinn hat Methode“.
Ostermeier: „Mehr Inhalt, weniger Rhetorik!“ Für den Theatermacher ist das ein riesiges Problem. Im „Hamlet“ habe ich deshalb „Sein oder Nichtsein“ an den Anfang gesetzt und bringe den Monolog zwei weitere Male. In der Hoffnung, man hört beim dritten Mal wirklich zu und wartet nicht nur auf die berühmte Stelle.
Lange: Wenn es funktioniert, ist es in Ordnung. Das Prinzip der Wiederholung ist uns aus dem Leben vertraut, wo fast alles Wiederholung ist, allerdings um den Preis der Langeweile. Das gehört zum Prinzip der Unvereinbarkeit. Dagegen hat Shakespeare aufbegehrt durch poetische Verdichtung.

In der neuen Spielzeit, Herr Ostermeier, inszenieren Sie also an der „Schaubühne“ den Oberschurken Richard III., den, wie Alfred Kerr ihn nannte, „heuchlerischen Metzger“, der am Ende ruft: „Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich für ein Pferd!“ Lars Eidinger, Ihr Hamlet und Angelo, wird ihn darstellen. Was erwartet uns?
Ostermeier: Wir wollen uns am Globe Theater orientieren und es an der Schaubühne nachempfinden – gemäß der schönen Theorie, wonach sich Literatur erschließt über die Architektur jener Räume, für die sie geschrieben wurde. Wir werden einen Raum bauen mit drei Galerien, für 300 Zuschauer, die das Gefühl haben sollen, mit dem Arm die Schauspieler berühren zu können. Und diese werden die Anwesenheit ihres Dialogpartners, des Publikums, ständig spüren. Selbst „Sein oder Nichtsein“ war ja ein solcher Dialog mit den Zuschauern.
Lange: Eine gute Idee. Sie müssen aber auch konsequent sein.
Ostermeier: Inwiefern?
Lange: Sie müssen es als Verfremdung ersichtlich machen. Sie müssen wissen, dass das alles gar nicht geht, und es trotzdem tun.
Ostermeier: Oh ja.
Lange: Es darf nicht den Hauch von Innovation geben. Der Wahn, innovativ sein zu müssen, ist das schlimmste Gift im Literatur- und Kulturbetrieb. Bitte rutschen Sie nicht in die Fallgrube des Innovativen!
Ostermeier: Aber Herr Lange, ich habe selber schon genug Zweifel an meiner Arbeit. Machen Sie es mir nicht noch schwerer …! (Beide lachen. Abgang.)

Dieser Text ist eine kostenfreie Leseprobe aus der September-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie das Monatsmagazin für politische Kultur kennerlernen wollen, empfehlen wir Ihnen unser Testabo.

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