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Jean-Claude Kaufmann - Intimsache Handtasche

Jean-Claude Kaufmann blickt ins Allerheiligste der Frau – die Handtasche

Autoreninfo

Lieder, Marianna

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Selbst für einen der Empirie ohnehin verpflichteten Soziologen hat Jean-Claude Kaufmann auffallend wenig Berührungsängste gegenüber Alltagsphänomenen. Seine ungezwungenen Analysen zu Küchenritualen, zum Umgang mit Schmutzwäsche, zu Online-Dating und nackten Brüsten am Badestrand haben den heute 64-jährigen Sorbonne-Professor zu einem der populärsten Gesellschaftsdiagnostiker Frankreichs werden lassen. Die theoretische Legitimation für seinen unermüdlichen Drang, mit wissenschaftlichem Ernst die Untiefen des vermeintlich Trivialen auszuleuchten, lieferte Kaufmann zuletzt in seinem 2005 auf Deutsch erschienen Werk „Die Erfindung des Ich”.

Die darin ausgearbeitete Theorie der Identität vereint bewährte postmoderne Subjektkritik mit soziologischer Praxisorientierung. Es gibt ihn also auch für Kaufmann nicht, den festen, unwandelbaren Kern der Persönlichkeit: Identität ist demnach keine zuverlässige Entität, sondern aufreibendes Work-in-Progress. „Ich” wird zum Anderen, um sich kurz darauf wieder zu verwandeln, ständig basteln wir uns neue Möglichkeiten, Daseinszwecke, Selbstbilder zusammen.

In seiner jüngsten Veröffentlichung hat sich Kaufmann wieder ein konkretes Fragment der materiellen Welt herausgepickt, um es auf seine spezifische identitätsstiftende Funktion hin zu untersuchen. „Privatsache Handtasche”, so der Titel der überaus schwungvoll geschriebenen Feldstudie, in der das unerlässlichste Accessoire der Frau zur Kernzelle des weiblichen Welt- und Selbstbezuges erklärt wird.

Die Handtasche, ganz gleich ob elegante Designerclutch oder Batikbeutel, ist also das „Zentrum der weiblichen Existenzproduktion”. Als Hauptindiz dafür dient Kaufmann der Umstand, dass Frau ihre Tasche hütet wie ihren Augapfel. Selbst für Ehemänner und Liebhaber bleibt diese Intimzone am anthropologisch erweiterten weiblichen Körper ein unantastbares Tabu. Kaufmann nun konnte 75 Frauen zumindest in E-Mails dazu bringen, das Innerste ihres Allerheiligsten nach außen zu stülpen. Doch letzlich gilt auch diesmal, dass sich hinter dem bestgehüteten Geheimnis stets das Erwartbare verbirgt.

75 rückhaltlos geöffnete Taschen und keine Spur von scharfer Munition oder illegalen Drogen, noch nicht einmal auf Flachmänner oder Sexspielzeuge stieß Kaufmann. Dafür fand er jede Menge Lippenstifte, Kugelschreiber, Hausschlüssel, Organizer, Kopfschmerztabletten, Portemonnaies, Miniplüschtiere, Handys. Sicherheitsfanatikerinnen hatten außerdem noch Beruhigungstropfen, Ersatzstrumpfhosen und Heftpflaster dabei. Bei frischgebackenen Müttern kam das übliche Säuglings-Necessaire hinzu. Einen Funken Exzentrik in diese Liste des ewig-weiblichen Standardallerleis bringt lediglich eine Nachtschwärmerin, die im Nebenfach ihrer Tasche ein paar Kondome umwickelt von einem Rosenkranz bereithält.

Seite 2: Leider ist das Buch eine Enttäuschung

Leider ist „Privatsache Handtasche” nicht nur nach voyeuristischen Kriterien eine Enttäuschung. Was aus einem Buch zum Thema „Taschen und Frauen” hätte werden können, lässt sich an jener Passage erahnen, in der flüchtig Margaret Thatcher erwähnt wird. Über drei Jahrzehnte hielt die eiserne Lady einer schwarzledernen Asprey-Handtasche die Treue. Der Anblick des kleinen ledernen Rechtecks genügte, um Kalte-Kriegs-Gegner einzuschüchtern. Allerdings tut Kaufmann derlei als nicht weiter interessante „Zweckentfremdung” ab und widmet sich wieder dem eigentlichen Thema: „Taschen und Frauen mit obsessivem Taschentick”.

Neben den exaltierten E-Mails, in denen sich seine Informantinnen zum Inhalt ihres „Eichhörnchennestes” oder ihres geliebten „Schneckenhauses” äußern, zitiert Kaufmann aus Modeblogs und Foren. „FashionMama”, und „PetiteMiss” verarbeiten hier wortreich den „Liebesschock”, den sie unlängst vor einem Yves-Saint-Laurent-Schaufenster erlitten haben. Kaufmann, der sich offensichtlich vorgenommen hat, das analytische Niveau dieser Bekenntnisse keinesfalls zu überbieten, nickt dazu nur gütig. Vor allem aber scheint er sich nicht so recht entscheiden zu können, ob er mit seinem Taschenreport nun seine leicht angestaubte, dafür von Sexismus freie Identitätstheorie stützen, oder lieber ein noch angestaubteres, sexistisches Klischee bedienen soll.

So betont er immer wieder den individuellen Freiheitsverlust, den Frau früher oder später bei steigendem Gewicht der Tasche zu spüren bekommt: müssen darin doch auch noch die Windeln der Kinder und die elektronischen Geräte des Mannes mitgeschleppt werden. Glücklicherweise, so Kaufmann, tragen und ertragen die Frauen die fremden Päckchen in der Regel „aus Liebe”. Sie mögen bisweilen von Freiheit „träumen”, wie wenig ihnen jedoch im Grunde an vollkommener Bindungs- und Lastenlosigkeit liegt, zeige ein kurzer Blick in die Geschichte: Schließlich „wurden in den großen Jahren der Frauenbewegung nur Büstenhalter verbrannt, aber keine Taschen.”

Jean-Claude Kaufmann: Privatsache Handtasche. Aus dem Französischen von Anke Beck. UVK, Konstanz/München 2012. 198 S., 19,90 €

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