- Ballern zum Chillen
Videospiele wie Grand Theft Auto bieten eine perfekte Flucht aus der Wirklichkeit. In ihrer zynischen Machowelt soll die Moral schweigen
[[{"fid":"60231","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":871,"width":638,"style":"width: 140px; height: 191px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Dezember-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen.
Stellen Sie sich vor: Sie sitzen vor dem Fernseher und lauschen den Dialogen von John Travolta und Samuel L. Jackson in Quentin Tarantinos Film „Pulp Fiction“. Auf einmal bleibt das Bild stehen. Verärgert greifen Sie zur Fernbedienung – und plötzlich sind Sie mitten im Film, den Sie als Ihr eigener Regisseur mit einem Eingabegerät steuern. Sie werfen Jackson aus dem Auto, der Ihnen einen Fluch hinterherschickt. Sie steigen ein, lassen den Motor aufheulen, machen einen U-Turn und reißen dabei einen Hydranten aus der Verankerung. Wasser prasselt auf die Windschutzscheibe. Eine Polizeisirene heult auf. Die Stadt gleitet fotorealistisch an Ihnen vorüber. Auf nassem Asphalt spiegelt sich die Neonbeleuchtung eines Nachtclubs. Sie stellen den Wagen ab, erholen sich. Danach klauen Sie einen bulligen Ford und rasen stundenlang durch die Metropole, über der die Sonne versinkt. Die Welt gehört Ihnen. Tarantino kann in Rente gehen.
Mit Spielen macht man mittlerweile mehr Umsatz als mit Filmen
So ähnlich fühlt sich das Videospiel Grand Theft Auto an. Wild, unberechenbar, grell. Hinter dem Kürzel GTA verbergen sich ein amerikanischer Straftatbestand, „schwerer Kraftfahrzeugdiebstahl“, und das erfolgreichste Videospiel aller Zeiten. Die Serie wurde 1997 gestartet und ging soeben mit GTA V in die fünfte Runde. Dan und Sam Houser, die Gründer des produzierenden Rockstar-Studios, sind die Wunderkinder der Videospielindustrie.
Die gesamte Branche hat im vergangenen Jahr mit einem Umsatzvolumen von weltweit 31 Milliarden Dollar die 28 Milliarden der Filmbranche hinter sich gelassen. Allein in Deutschland wurden gewaltige 73 Millionen Videospiele verkauft. Die meisten Spiele, so auch GTA, werden auf Konsolen gespielt, auf Sonys „Play Station“ und der „X-Box“ von Microsoft. Die grafischen Anforderungen der neuen Games sind handelsüblichen Computern längst über den Kopf gewachsen. Diese Konsolen, zwischen 400 und 500 Euro teuer, werden direkt an den Fernseher angeschlossen und über sogenannte Controller, wuchtige Fernbedienungen mit vielen Knöpfen und Schaltern, gesteuert.
Um die Figuren und Fahrzeuge durch die rasanten Szenerien zu bewegen, benötigt man viel Übung. Bestimmte Bewegungen und Manöver lassen sich nur ausführen, wenn mehrere Knöpfe gleichzeitig gedrückt werden. Selbst erfahrene Computerspieler haben oft Mühe, ein Fadenkreuz bei einem Konsolenspiel präzise zu justieren. Vor allem dann, wenn neben ihnen gerade ein Öltank explodiert und die Figur durch ein trümmerübersätes Schlachtfeld sprinten muss.
Die grafische Perfektion der Spiele hat ihren Preis: GTA kostet derzeit im Handel rund 60 Euro. Die Produktionskosten liegen mit 265 Millionen Dollar deutlich über denen eines Hollywoodfilms. Auch der Umsatz der Spiele bewegt sich in anderen Regionen. GTA V spielte allein am ersten Verkaufswochenende weltweit annähernd eine Milliarde US-Dollar ein. Zum Vergleich: Der Erfolgsfilm „Gravity“ mit George Clooney und Sandra Bullock liegt nach mehreren Wochen Präsenz auf den Kinoleinwänden des Globus bei gerade einmal 365 Millionen Dollar.
Wo das Geld bei GTA V hinfloss, sieht man sofort: Das Spiel ist eine Orgie an visueller Präzision. Alles fühlt sich real an, hautnah, brutal sinnlich. Man kann sich in dieser Welt frei bewegen. „Open World“ heißt das Konzept in der Sprache der Videospiele.
In der fiktiven Stadt Los Santos, die unverkennbar Los Angeles nachempfunden ist, stimmt alles – das kleinste Architekturdetail, das Wetter, die urbane Geräuschkulisse. Gesprächsfetzen von Handytelefonaten schwirren vorbei, das Autoradio dudelt lokale Werbespots, nasse Joggingschuhe quietschen wie Plastikenten, im Ghetto wächst schmutziges Gras aus dem Asphalt. Fast meint man, das verbrannte Gummi der Autoreifen und den Urin der Hinterhöfe riechen zu können. Die Kulisse von „Pulp Fiction“ ist angesichts dieses Realitätssogs kaum mehr als ein barockes Guckkastentheater.
Der Pixelirrsinn von GTA ist kein Selbstzweck. Er formuliert einen neuen Stil. Man könnte ihn „Hardcore-Realismus“ nennen. Über die Bilderrampe gleitet man in ein Universum aus Gewalt, Drogen und Pornografie. Die offizielle Altersfreigabe „ab 18“ ist angemessen. Das Spiel hat keinerlei pädagogischen Nutzen. Es erfüllt eine ganz andere Funktion: Es befreit den Spieler aus der Überregulierung einer nicht nur in politischer Hinsicht manisch korrekten Welt.
Indem GTA nicht auf einem fernen Planeten oder einem Schlachtfeld in der arabischen Wüste spielt, sondern in den Schluchten der Urbanität, macht es die Grenzüberschreitung, den Regelbruch erlebbar. Das ist der Kunstgriff, der GTA zum neuen medialen Paradigma formt: Dieses Universum ist real genug, um Identifikation zu ermöglichen, aber ausreichend fiktiv, um als Ausbruch aus dem engen Alltag großer Koalitionen mit minimalen Ideen empfunden zu werden.
Ventil für eine animalische Befreiung?
GTA V hat eine fundamental deregulierende Funktion. Es bietet ein Format für antizivilisatorische Hypnose, bei der schon das bloße Autofahren zur Therapie wird. Lohnsteuerkarten, Dispokredite und Krankenkassen wirken aus der GTA-Optik wie Relikte eines früheren Lebens.
Unsere oftmals moraldiktatorische Gesellschaft hat diese Form animalischer Befreiung offenbar nötig. Anders ist der Erfolg der GTA-Serie nicht zu erklären. Das Videospiel übernimmt dabei die Rolle des Kinos. Diesen Trend bestätigt Christian Schiffer, Spieleexperte und Gründer der ambitionierten deutschen Games-Zeitschrift WASD. Texte über Games: „Dass Hollywoodstars in Games auftauchen wie zuletzt Ellen Page und Willem Dafoe in ‚Beyond: Two Souls‘ für die ‚Play Station‘, wird bald schon völlig normal werden. Zugleich werden Spiele sich in ein Mittel verwandeln, durch das die Entwickler persönliche Statements zu gesellschaftlichen Problemen abgeben können. Autoren-Games werden eine ähnliche Funktion einnehmen wie heute noch die Autorenfilme.“
Früher war das Kino der Ort der Freiheit. Filme waren ein Medium der Entgrenzung und des Stressabbaus. Doch je stärker die Digitalisierung des Kinos voranschreitet und je ähnlicher die Oberflächen von Filmen und Spielen einander werden, desto anziehender werden Games. Ein durchanimierter Film unterscheidet sich von einem Spiel nur noch dadurch, dass der Betrachter nicht in ihn einsteigen kann. Ein interaktives Game ist da für viele die bessere Alternative. Mit GTA sind Games zum gesellschaftlichen Leitmedium geworden, auch wenn sie der bildungsbürgerliche Kanon unter „Trash“ einreiht.
Man könnte GTA ein „Super- oder Metamedium“ nennen, sagt Christian Schiffer: In der Welt von GTA kann man ins Kino gehen, fernsehen, Zeitung lesen, Radio hören. In Zukunft könnte sich ein Großteil des Medienkonsums in Welten wie Los Santos abspielen. „Ingame-Marketing“ nennt sich das künftige Geschäftsmodell, bei dem virtuelle Werbeflächen in Spielestädten ebenso real vermarktet werden wie Downloadportale wie Spotify. So hermetisch, wie sie aussieht, ist die digitale Welt also nicht.
Spiele definieren nicht nur die Art und Weise, wie zukünftig Geld verdient wird, sondern auch, wie Geschichten erzählt und erlebt werden: crossmedial, interaktiv, offen. GTA V hat ein faszinierendes narratives Muster, das dieser Welt ohne Richtung Orientierung verleiht und sie damit von gescheiterten virtuellen Räumen in der Art von „Second Life“ unterscheidet. Es wirkt wie eine blutgetränkte Antwort auf Richard David Prechts so harmlose Frage nach dem Ich und den vielen. Der Spieler hat hier die Freiheit, ständig zwischen drei verschiedenen Figuren hin- und herzuwechseln, deren Wege sich kreuzen: Franklin ist ein kleiner Autodieb aus dem Ghetto, Michael ein pensionierter Gangster, den „Sopranos“ entsprungen, der sich in einer Villa über der Stadt verschanzt, und Trevor ein psychopathischer Drogendealer, der auch mit Waffen handelt.
Zwischen diesen Figuren entspinnt sich eine gut choreografierte Geschichte mit überraschenden Wendungen. Am Ende kann man sich entscheiden, einen der Protagonisten ins Jenseits zu befördern, ehe nach mindestens 30 Stunden Spieldauer wie anno dazumal im Lichtspielhaus der Abspann über den Flatscreen läuft. Der Spieler kann zwischendurch aber auch das skurrile Universum der Nebenfiguren erkunden.
Zum Beispiel lässt sich mit dem am Hals tätowierten und strohdummen Gangster Lamar und seinem fetten Rottweiler Chop das Ghetto aufmischen. Mehr darf über den Gang der Geschichte nicht verraten werden. Das gebietet ein ungeschriebenes Gesetz der Gamingwelt, die das „Spoilern“, das Verraten von zentralen Handlungselementen, unter Höchststrafe stellt. Das Schreiben über neue Spiele ist eine eigene journalistische Disziplin geworden, bei der es darum geht, viel zu sagen, ohne zum Spielverderber zu werden.
Man verrät allerdings kein Geheimnis, wenn man darauf hinweist, dass die Dialoge von GTA urkomisch und filmreif sind. Wenn sich Lamar und Franklin im derbsten Jargon darüber unterhalten, wessen Bild nun in den „Mitarbeiter des Monats“-Rahmen gehört, dann ist das eine würdige Replik auf das philosophische Gequassel in „Pulp Fiction“. Die Figuren selbst sind dagegen vollkommen ironielos. Sonst könnten sie nicht deregulierend funktionieren. Ein Gangster, der sich selbst bewitzelt, ist eine schlechte Projektionsfigur für Ausbruchsfantasien. Diese distanzlose Hermetik der Gewalt macht Videospiele für viele so unerträglich und ausweglos.
GTA ist ein extremes Beispiel für diese Ausweglosigkeit. Will man die Geschichte Trevors zu Ende spielen, muss man einen vermeintlichen Terroristen mit Faustschlägen, Elektroschocks oder heftigeren Methoden wie Waterboarding und Zähneziehen foltern, um an Informationen zu gelangen, die für das Weiterspielen notwendig sind. Versagt dabei das Herz des Opfers, wird es mit Adrenalin belebt. Für eine neue Folterrunde.
Menschenrechte auch für Spielfiguren?
Diese Szene hat dem Spiel viel Kritik eingebracht. In einigen Ländern, unter anderem in Japan, wurde sie geschnitten, in der deutschen Version ist sie spielbar. Die entscheidende Frage lautet: Ist die Sequenz ausreichend als Satire markiert?
Während Human-Rights-Organisationen wie „Freedom from Torture“ Menschenrechte für Spielefiguren einfordern, beharren Spieleexperten wie Michael Graf, stellvertretender Chefredakteur der deutschen Spielezeitschrift Gamestar, auf der Doppelbödigkeit der Szene: „Die GTA-Serie war schon immer bissiger Spott, satirische Abrechnung mit den Schattenseiten des amerikanischen Traumes. In diesen Kontext passt auch die Folterszene von GTA V. Sie führt den Spielern brutal, aber auch brutal ehrlich die Abgründe des ‚Kampfes gegen den Terror‘ vor Augen: Man muss einen Mann misshandeln, um eine letztlich sinnlose Mission zu erfüllen.“
Graf gesteht ein, dass der satirische Unterton nicht für jeden Spieler klar erkennbar ist. Andererseits seien die brutalen Szenen „ein mutiges Statement gegen Untaten, die tatsächlich begangen werden – und sogar, wie es heißt, zu unserem Schutz, in unserem Namen. GTA V hält uns den Spiegel vor, zwingt uns zur Konfrontation mit Tatsachen, mit denen wir uns lieber nicht beschäftigen wollen. Das Medium Spiel wird erwachsen.“
Dennoch kann die bewusste Sequenz nicht ohne Weiteres als ethische Reflexion über die Legitimation von Folter gelesen werden wie vergleichbare Szenen in Kathryn Bigelows Film „Zero Dark Thirty“ oder jüngst in Denis Villeneuves „Prisoners“. Auch die Tatsache, dass im Spiel die Regierung persönlich den Folterbefehl erteilt, macht die Sequenz nicht umstandslos zur Satire. Will man GTA V zu Ende spielen, gibt es keine Alternative, als in die Rolle des Folterknechts zu schlüpfen.
Damit positioniert sich das Spiel außerhalb des moralischen Diskurses. Moralisch relevant wäre das Spiel, wenn der Spieler die Freiheit zur Entscheidung hätte. Das würde bedeuten, mehrere Handlungsfäden anzubieten und dem Spieler die Wahl zu lassen, welchen Weg er gehen will. Ein solches Szenario könnte zu einem Instrument ethischer Reflexion werden, zu einer Simulation moralischen Handelns, die die Missstände der realen Welt kritisch spiegelt.
Das Spiel greift zwar immer wieder gesellschaftliche Probleme auf: Rassismus, Drogen, Frauenfeindlichkeit, den Diebstahl sozialer Daten. Facebook heißt im GTA-Slang Life Invader. Aber daraus folgt nichts. Es gibt keine Botschaft. Der Hyperrealismus verdichtet sich nie zur Sozialkritik. Für die Probleme dieser Welt gibt es genau zwei Lösungen: den Abzug und das Gaspedal.
Weil jede kritische Distanz zum eigenen Ich fehlt, sind GTA und Konsorten für die andere Hälfte der Weltbevölkerung uninteressant: für die Frauen. Stolze 85 Prozent der Gamer sind Männer. Los Santos ist eine maskuline Architektur, in der man auch ein Bordell aufstöbern kann. Entsprechend schaut das weibliche GTA-Personal aus: Es ist vollbusig, willig, extrem verdorben und gerne blond. Christian Schiffer von der Zeitschrift WASD. Texte über Games sieht aber eine Umkehr voraus: „Die Zielgruppe für Spiele ist in den letzten Jahren größer, älter und vor allem weiblicher geworden. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Die Zielgruppe wird anspruchsvoller, insbesondere, was den Inhalt und die Handlung anbelangt.“
Da stellt sich unweigerlich die Frage: Welche Form postindustrieller Meditation müssen Videogames bieten, um künftig auch von Frauen als Ventil für ihren Alltagsdruck erkannt zu werden? Braucht es Küchenzerstörungssequenzen? Kinderzimmerapokalypsen? Kastrationsfantasien?
Vielleicht sieht die Zukunft der Games aber auch ganz anders aus. Derzeit sind mehr als 88 Prozent der Spieleentwickler männlich. Doch immer mehr Frauen drängen in den Markt. Spiele, die von Frauen mitentwickelt werden, sind anders. Bestes Beispiel ist die erfolgreiche Familiensimulation „Die Sims“. Vielleicht kann man ja demnächst in Grand Theft Auto VI einfach Brombeeren pflücken und mit Freunden ums Lagerfeuer sitzen, statt wehrlosen Menschen mit der Kombizange Backenzähne aus dem Kiefer zu drehen.
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