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Robert Harris - „Ich dachte nie, dass es eine Privatsphäre gibt“

Der Bestsellerautor Robert Harris, 56, beschreibt in seinem neuen Buch „Intrige“ die Dreyfus-Affäre. Im Interview mit Cicero Online zieht er Parallelen zur NSA-Spionage

Autoreninfo

Borger, Sebastian

So erreichen Sie Sebastian Borger:

Cicero: Herr Harris, wie bewerten Sie die Einzelheiten über den US-Geheimdienst NSA, die Edward Snowden an die Öffentlichkeit lanciert?

Robert Harris: Ich wundere mich darüber, dass sich die Leute wundern. Ich fand es keine Überraschung. Das wussten wir seit den 1970er Jahren. Ich nahm generell an, dass jede elektronische Kommunikation durch Spionagesatelliten überwacht wird. Deshalb hatte Bin-Laden nicht einmal ein Mobiltelefon, geschweige denn einen Computer in seinem Unterschlupf. Haben Sie den Komplex in Cheltenham mal gesehen?

Sie meinen das britische Lauschzentrum GCHQ.

Was denken die Leute denn, was dort gemacht wird? Ich habe immer angenommen, dass alles, was ich am Computer schreibe, jede Unterhaltung am Telefon der Überwachung unterliegt. Ich dachte nie, dass es eine Privatsphäre gibt. Vielleicht muss man mehr...

... abgebrüht, zynisch sein?

Ja, so etwas. Es funktioniert ja auch umgekehrt. Der Skandal um abgehörte Mobiltelefone durch Journalisten von News International kam heraus, weil E-Mails nicht zerstört werden können. Das muss man als Realität wahrnehmen. Übrigens wird auch der Staat von den Bürgern überwacht.

Wie meinen Sie das?

Wir haben hier gerade den Skandal erlebt, dass ein Kabinettsmitglied von Polizisten beschuldigt wurde, er habe sie angepöbelt. Nur weil es Überwachungskameras gibt, steht mittlerweile fest: Die Polizisten haben falsch ausgesagt.

Snowden ist ein sogenannter Whistleblower, der aus mehr oder weniger hehren Motiven Missstände an die Öffentlichkeit bringt. Ihr neues Buch „Intrige“ beschreibt genau so eine Geschichte eines Insiders, der seinem Gewissen folgt. Wie kam es dazu?

Ich wollte ein Buch über die Dreyfus-Affäre schreiben. Ich begann die Recherche schweren Herzens, schliesslich zog sich der Skandal über zwölf Jahre hin, Hunderte von Personen waren involviert. Dann entdeckte ich rasch die zentrale Rolle, die Oberst Georges Picquart spielte. Schlagartig war mir ganz klar: Das ist ein sehr moderner, sehr relevanter politischer Spionagestoff.

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Geschrieben haben Sie ein mehr als 600 Seiten starkes Buch, in dem eben nicht der Namensgeber der Affäre im Mittelpunkt steht, sondern der längst vergessene damalige Chef des Geheimdienstes.

Wie schlimm Dreyfus mitgespielt wurde, ist weithin bekannt. Den Oberst Picquart kannte kein Mensch, ich auch nicht. Dabei ist er der Dreh- und Angelpunkt der Affäre. Ohne ihn und seine Informationen wären die gefälschten Beweise nie ans Licht gekommen. Dreyfus wäre wahrscheinlich auf der Teufelsinsel gestorben.

Wie kann es sein, dass dieser zentrale Charakter von der Geschichte vergessen wurde?

Nun, er starb relativ früh, und zwar ausgerechnet 1914, ein halbes Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er hatte weder Frau noch Kinder, niemand hielt seine Erinnerung wach. Anders als Dreyfus veröffentlichte er auch keine Erinnerungen.

Sie schildern ihn als sehr aufrechten, positiven Menschen.

Das Buch ist ja aus seiner Sicht geschrieben, es sind seine fiktiven Memoiren. Wir sind immer der Mittelpunkt unserer eigenen Erzählung. So ist man als Erzähler und Leser wohl instinktiv sympathisierend. Er war sicher ein komplizierter, interessanter Mann. Hoffentlich habe ich auch deutlich gemacht, dass er schwierig sein konnte, ein arroganter Intellektueller war, sicher auch Antisemit, ein harter, unbeugsamer Zelot.

Seine Rolle ist umso erstaunlicher, als er bis dahin sehr zielstrebig Karriere gemacht hatte.

Gewiss wäre er General geworden, vielleicht auch Generalstabschef. Sein Einsatz für Dreyfus lag sicher nicht an seiner Begeisterung für den Offizierskameraden oder am Festhalten an abstrakten Fairness-Begriffen. Sondern er war arrogant genug, seine Vorgesetzten für dumm zu halten. Dreyfus wurde ja nicht nur fälschlich verurteilt, sondern auf der Teufelsinsel in Ketten gelegt. Seine Bewacher durften kein Wort mit ihm wechseln. Das fand Picquart falsch: Dreyfus wurde zum Märtyrer gemacht. Seine Einstellung war: Lasst ihn doch reden, dann erfahren wir was.

In seine Amtszeit als Geheimdienstchef fällt die Enttarnung des wirklichen Landesverräters, von dem seine Vorgesetzten aber nichts wissen wollten.

Picquart war klug genug zu verstehen, dass die Sache herauskommen würde. „Es gibt keine Geheimnisse mehr“, sagte er. Er wollte nicht Teil eines fehlgeschlagenen Cover-up sein.

Hätte er bei der Vertuschung mitgemacht, wenn diese Aussicht auf Erfolg gehabt hätte?

Das glaube ich nicht. Er war kein Zyniker. Er wollte nicht Teil eines dummen, brutalen Vorgehens werden. Das hätte seinen Sinn für Pflichtgefühl und Ehre zerstört.

Sie ziehen die Parallele zu modernen Spionage-Geschichten, indem sie in vielen kleinen Details die ungeheure Modernität der Dreyfus-Affäre beschreiben.

Es ist der erste Skandal der modernen Welt. 20 Jahre zuvor wäre es ganz anders verlaufen. Ich konnte bei der Recherche auf riesige Materialberge zurückgreifen, Tagebücher, Gerichtsprotokolle, Artikel. Es gibt Fotografien, sogar die ersten Filmbilder von Dreyfus vor dem Kriegsgericht. Der Skandal wurde durch die Medien, ausgefochten. Die französischen und englischen Zeitungen beschrieben die Entwicklung der Affäre detailliert, machten Interviews mit wichtigen Zeugen. Auch die US-Zeitungen berichteten sehr genau.

Was die ersten Telegramm-Kabel durch den Atlantik nach New York möglich gemacht hatten.

Übrigens wurde in den 1890er Jahren jedes Telegramm ins Ausland vom französischen Aussenministerium gelesen, jeder Anruf von London nach New York abgehört. Das erinnert stark an die NSA-Vorgänge.

Komplexe Charaktere wie Picquard haben es Ihnen angetan.

Ja, die tapfersten Leute sind wie er: Sie schrecken zunächst vor etwas zurück. Aber dann handeln sie. Picquard war sicher kein Feigling, sondern ein zäher, harter Soldat. Sein Ehrgefühl gebot ihm das Handeln. Aber in der Aufdeckung des Dreyfus-Skandals liess er sich niemals dazu hinreissen, etwa Hinweise auf die Arbeitsmethoden und Agenten des französischen Geheimdienstes zu geben. Das unterscheidet ihn natürlich von Snowden.

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Dessen Enthüllungen, die durch den „Guardian“ in London veröffentlicht wurden, hat der Leiter des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 als Gefahr für die nationale Sicherheit gekennzeichnet.

Ich verstehe, warum die Amerikaner sich ärgern. Aber ich glaube, Snowden hat uns einen Dienst erwiesen.

Sie vertrauen den Staatsorganen nicht?

Ich unterstütze Snowden darin, dass er die NSA-Aktivitäten aufgedeckt hat und den Guardian für seine Artikel. Dass MI5 pauschal sagt, das dürfen Sie nicht drucken, sowas ist Unsinn. Wenn der MI5-Chef konkret sagt: Da riskieren 20 Leute ihr Leben und infiltrieren al-Kaida, Eure Veröffentlichung würde eine Gefahr für diese Leute und deren Familien darstellen. Dann würde ich darüber nachdenken, ob es zum Abdruck taugt. Ich würde meinem eigenen Urteilsvermögen vertrauen.

Deshalb lehnen Sie auch die von der britischen Regierung geplante neuen Presseaufsicht ab.

Die Dreyfus-Affäre ist eine Warnung. Da wurde Hysterie geschürt, die Nationale Sicherheit beschworen, es war von einer Judenverschwörung die Rede. Bei harter Presseaufsicht wäre Dreyfus womöglich auf der Teufelsinsel gestorben, weil die Zeitungen zu eingschüchtert gewesen wären. Die Presse in Frankreich war furchtbar zur damaligen Zeit, allein die antisemitischen Karikaturen. Aber Hässlichkeit gehört zur freien Presse, zur Meinungsfreiheit dazu. Freiheit ist Freiheit, nicht gutes Gewissen, oder Kultur, oder Gleichheit. Sondern eben Freiheit.

Sie plädieren also für weitgehende Offenheit?

Alles sollte öffentlich verhandelt werden, auch das ist die Lehre aus Dreyfus. Das ist häufig sehr hässlich, und manchmal kommen Schuldige davon. Aber nur so können wir uns davor schützen, dass Unschuldige im Gefängnis sitzen. Darauf beruht unsere westliche Zivilisation. Und nicht auf Beweisen durch Folter oder Geheimakten.

„Intrige“ sollte ursprünglich ein Drehbuch werden. Was hat sie zum Roman bewogen?

Ich bin ein Schriftsteller, weil ich für mich selbst arbeiten will. Ich nehme nicht gern Anweisungen entgegen. Das ist für Drehbuchautoren aber Alltag.

Der Roman hingegen ist Ihr eigenes Baby?

So ist es, der ganze Schaffensprozess wird nicht von Dutzenden anderer Leute beeinflusst. Ausserdem finde ich die Beziehung zu den Lesern sehr wichtig. Ich tue ja nur die Hälfte der Arbeit. Ich beschreibe, wie Picquart durch Paris geht, in einer bestimmten Jahreszeit, mit bestimmtem Licht, besonderen Gerüchen. Das sind Worte auf einer Buchseite. Dann kommen die Leser und fügen ihre eigenen Assoziationen hinzu. Das gefällt mir.

Herr Harris, vielen Dank für das Gespräch.

Robert Harris: Intrige. Heyne Verlag, München 2013. 624 Seiten, 22,99 €.

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