- Terror-Lektion fürs Kinderzimmer?
Naif Al-Mutawa hat muslimische Comicfiguren geschaffen, sie sollten als Vorbilder für seine fünf Söhne dienen. Für den Unternehmer lief es bestens – bis ihn US-Präsident Obama für sein Engagement lobte und die religiöse Rechte Al-Mutawa zu attackieren begann
Seine Mutter hat ihn immer gewarnt: „Wähle deine Freunde sorgfältig aus, da du wahrscheinlich auch ihre Feinde dazubekommst.“ Aber in dem Fall hatte er doch niemanden ausgewählt, und das überschwängliche Lob in einer Rede von Barack Obama für die von ihm entworfene Comicserie The 99 traf Naif Al-Mutawa völlig unvorbereitet. Obamas Feinde bekam er trotzdem gratis dazu, und sie machen ihm und seinen 99 muslimischen Superhelden seitdem das Leben in den USA schwer.
Für Amerikas rechte, christliche Fundamentalisten war Obamas Äußerung ein weiterer Beleg dafür, dass der Präsident ein Muslim sei. Und einmal in Fahrt, gaben sie auch der noch jungen Comicserie eine volle Breitseite mit: The 99 sei ein Trojanisches Pferd, das die Scharia direkt in die Kinderzimmer bringe, hieß es in den einschlägigen Radiotalkshows und Blogs.
Wer seine Kinder mit der Serie in Berührung kommen lasse, könne sie auch gleich im Dschihadisten-Ausbildungscamp in Afghanistan anmelden. Al-Mutawa bekam das Label eines „teuflischen arabisch-amerikanischen Terroristen“ verpasst. „Wie können Sie es wagen, mich amerikanisch zu nennen?“, antwortete der gebürtige Kuwaiti trocken.
Angriffe aus dieser Ecke haben ihn ohnehin nicht überrascht. „Das macht mich eher stolz, weil es mir zeigt, dass ich etwas richtig mache“, sagt Al-Mutawa. Erschrocken hat ihn eher, dass sich der amerikanische Kabelfernsehsender Hub dadurch so unter Druck setzen ließ, dass er die 26‑teilige erste Staffel der animierten The 99‑Fernsehserie auf unbestimmte Zeit im Archiv verschwinden ließ. „Sie hatten offenbar Angst, dass ihnen nach den Protesten Werbekunden abspringen“, sagt Al-Mutawa. Er empfindet es schon fast als Klischee, dass die von ihm entwickelten Figuren, die für Toleranz und Verständigung stünden, nun „von Extremisten abgeschossen“ würden. Da hilft es Al-Mutawa auch nicht, dass der Sender ihn voll bezahlt hat. „Für unser Geschäftsmodell, das auf dem Verkauf von Lizenzen beruht, wäre es extrem wichtig gewesen, die Serie zuerst erfolgreich im wichtigsten Fernsehmarkt der Welt zeigen zu können.“
Das Absurde an den Vorwürfen ist, dass es sich bei The 99 um säkulare Comicgeschichten handelt. Andernfalls müsste man auch Supermans alttestamentarische Bezüge beklagen, weil dessen Auftauchen bei seinen Pflegeeltern, den Kents, eine moderne Version von Mose im Korb am Nil ist. Al-Mutawas 99 Helden kommen aus ebenso vielen verschiedenen Ländern und verfügen dank besonderer Edelsteine über jeweils eine herausragende Fähigkeit: die einzige religiöse Anspielung, dass es sich um genau jene 99 Eigenschaften handelt, die Allah im Koran zugeschrieben werden, darunter Stärke, Mut, Weisheit und Gnade. „Das sind universell anwendbare Begriffe, egal an welchen Gott man glaubt“, sagt Al-Mutawa.
Die Idee für die Comicserie war 2003 bei einer gemeinsamen Taxifahrt in London mit seiner Schwester Samar entstanden. Naif Al-Mutawa hatte gerade seinen MBA von der Columbia University in New York in der Tasche sowie den Doktortitel in klinischer Psychologie, und seine Schwester nervte ihn damit, dass er Kinderbücher schreiben solle. So fern lag das nicht, weil Al-Mutawa während des Studiums über das Thema Toleranz schon mal eine illustrierte Buchserie für Kinder verfasst hatte, für die er prompt mit einem Preis der Unesco ausgezeichnet worden war. „Ich habe dann zu ihr gesagt, das müsse schon so etwas Großes wie Pokémon sein. Sie sagte: Ja, mach doch.“ Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, und das Potenzial von The 99 scheint tatsächlich ähnlich groß zu sein wie bei den Pokémonfiguren aus dem japanischen Videospiel.
Seite 2: Schon mehr als 50 Comicbände
Mehr als 50 Comicbücher sind inzwischen bei Al-Mutawas Teshkeel Group in Kuwait auf Englisch und Arabisch erschienen. 20 Mitarbeiter beschäftigt das Unternehmen fest. Insgesamt, schätzt Al-Mutawa, haben an der bisherigen Realisierung des Projekts The 99 etwa 800 Leute mitgearbeitet. Die Bücher haben sich insgesamt etwa eine Million Mal verkauft. Besonders stolz ist der Chef dabei auf die fünf Spezialausgaben, in denen sein noch junges Unternehmen mit dem legendären amerikanischen Verlag DC Comics die Helden aus The 99 zusammen mit Batman, Superman und Wonderman auf die Jagd nach den Bösewichten dieser Welt schicken durfte. „So was hat DC Comics zuletzt vor 20 Jahren gemacht“, kann sich Al-Mutawa noch heute freuen. Auf diese Ausgaben bezog sich auch das präsidiale Lob, weil Obama diese Kooperation für die „innovativste Reaktion“ auf seine Rede in Kairo hielt, wo er für ein Zusammenrücken von westlicher und muslimischer Welt plädiert hatte.
Zusammen mit der niederländischen Produktionsfirma Endemol wird gerade die zweite Staffel der Fernsehserie produziert, in der dann auch ein deutscher Charakter als Teil der 99 Helden eingeführt werden soll. Neben den Büchern und der Fernsehserie gibt es in Kuwait-City auch einen Themenpark, den ein Lizenznehmer betreibt und der im Jahr etwa 300 000 Besucher zählt. Weitere Parks sind in Planung.
Was Al-Mutawa bei dem ganzen Projekt antreibt, sind vor allem seine fünf Söhne, die zwischen vier und 15 Jahren alt sind. „Ich möchte, dass sie mit positiven Rollenbildern aufwachsen aus ihrem eigenen Kulturkreis“, sagt Al-Mutawa. Das ist in der islamischen Welt gar nicht so einfach, weil dort bisher eher palästinensische Selbstmordattentäter oder Osama bin Laden in die Kategorie Helden einsortiert werden, und in iranischen Kinderbüchern amputierte Märtyrer auf dem Weg zu den versprochenen 72 Jungfrauen gezeigt werden.
Das wollte Al-Mutawa nicht mehr länger akzeptieren, weil er während seiner Arbeit als Psychologe in New York und Kuwait genug traumatisierte Kriegs-, Folter- und Terroropfer behandelt hatte. „Ich war schon immer davon überzeugt, dass sich Extremismus nur mit Kunst und Kultur besiegen lässt“, sagt al Mutawa. „So war es in Europa während der Renaissance und der Reformation, und etwas Vergleichbares muss auch in der islamischen Welt passieren.“
Nicht so einfach fiel es Al-Mutawa am Anfang, ein Team für sein Vorhaben zusammenzustellen. Der Businessplan war schnell geschrieben, und auch die erste Finanzierungsrunde mit sieben Millionen US‑Dollar 2003 verlief erstaunlich erfolgreich, aber die Skepsis von Autoren und Zeichnern ließ sich nicht so leicht überwinden. Kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wollte kaum jemand mit einem muslimischen Jungverleger islamische Helden entwickeln.
Al-Mutawas Verlag Teshkeel kaufte daraufhin 2005 das Cracked-Magazin, ein wenig erfolgreiches Satireblatt, das nie an das Vorbild Mad heranreichte. Damit räumte er zumindest bei potenziellen Mitstreitern und Geldgebern die letzten Zweifel aus, dass es sich bei dem Macher von The 99 um einen religiösen Fanatiker handele. Denn der Kauf von Cracked durch einen radikalen Muslim war ungefähr so wahrscheinlich wie die Übernahme der Titanic durch den Vatikan. Prompt wollte sich bei der zweiten Finanzierungsrunde eine saudi-arabische Investmentbank nur unter der Bedingung beteiligen, dass Cracked verkauft wurde. Danach hoben die Saudis auch das Verbot der Comics in ihrem Land auf. „Ironie des Schicksals: Jetzt ist die Fernsehserie schon gelaufen, während der US‑Sender sie noch unter Verschluss hält.“ Das faktische Sendeverbot in den USA wurmt ihn weiterhin. Das merkt man daran, dass er plötzlich noch schneller redet, wenn er davon spricht.
Gut, dass Al-Mutawa bei The 99 auch ein Vorbild für sich selbst eingebaut hat: Dr. Ramzi Razem, den Mentor der jungen Helden. Der sieht aus wie sein schlanker, größerer Bruder, ist aber deutlich ruhiger als Al-Mutawa. „So entspannt werde ich wohl erst 20 Jahre nach meinem Tod sein“, sagt Al-Mutawa, der nebenbei auch noch eine psychologische Klinik mit 27 Therapeuten in Kuwait betreibt und an der medizinischen Fakultät lehrt. Auch hier ist er nicht dem elterlichen Rat gefolgt: „Wenn du Psychologie studierst, wirst du irgendwann zwangsläufig verrückt“, hat ihn sein Vater schon vor dem Studium gewarnt.
Fotos: The 99/Teshkeel Media Group
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