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(picture alliance) Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle (Mitte) verliest das Urteil

ESM-Urteil - Die Entscheidung pro ESM ist ein Systembruch

Hans Hugo Klein war CDU-Bundestagsabgeordneter und 13 Jahre lang Verfassungsrichter. Er meint: Laut Verfassung darf Deutschland nur mit dem Ziel der Preisstabilität am Euro teilhaben — genau das missachtet der ESM

Mit großer Spannung erwartet nicht nur die deutsche Politik das Urteil, mit dem das Bundesverfassungsgericht am 12. September – der Form nach vorläufig, der Sache nach aber definitiv – über die Vereinbarkeit sowohl des Fiskalpakts als auch des Vertrags zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) mit dem Grundgesetz entscheiden wird. Der Fiskalpakt verfolgt das Ziel, die wirtschaftliche Säule der Währungs- und Wirtschaftsunion zu stärken. Er will die seit Jahren schmerzlich vermisste Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten der Eurozone gewährleisten, indem er sie zur Einführung von Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild und zu einem ausgeglichenen Haushalt verpflichtet. Die Vertragsparteien verpflichten sich zur Korrektur vertragswidriger Defizite und unterwerfen sich der Überwachung durch Rat und Kommission. Die Gewährung von Leistungen aus dem ESM wird an die Ratifizierung des Fiskalpakts und an die Einführung nationaler Schuldenbremsen geknüpft.

Der Fiskalpakt schließt damit eine Lücke, die seit der Einführung der Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht bestand. Der sogenannte Stabilitäts- und Wachstumspakt konnte diese Lücke nicht schließen, zumal er aufgeweicht wurde, als er seine Bewährungsprobe hätte ablegen sollen. Der Fiskalpakt ist nicht verfassungswidrig, obgleich er das nationale Budgetrecht spürbar einschränkt. Schon das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1993) hat auf das finanzpolitische Defizit der Währungsunion hingewiesen und erklärt, dass für die Ergänzung der Währungs- durch eine Wirtschaftsunion „rechtlich Raum“ sei.

Das Lissabon-Urteil (2009) hebt hervor, dass die vom Grundgesetz erlaubte Mitwirkung Deutschlands an der Entwicklung der EU auch eine politische Union umfasst, also „die gemeinsame Ausübung öffentlicher Gewalt … bis hinein in die Kernbereiche des staatlichen Kompetenzraums“, zu denen auch das Budget­recht gehört. Das Urteil vom 7. September 2011 schließlich betont, dass Deutschland sich mit der Öffnung für die europäische Integration auch finanzpolitisch bindet. Das Budgetrecht werde auch dann nicht verletzt, wenn solche Bindungen einen erheblichen Umfang annähmen.

Mit dem Fiskalpakt wird also nur nachgeholt, was im Integrationsprogramm des Maastricht-Vertrags tendenziell bereits angelegt war und über zwei Jahrzehnte hinweg versäumt worden ist. Die Haushaltsautonomie eines Staates wird nicht dadurch aufgehoben, dass der Haushaltsgesetzgeber sich sehenden Auges in die Verschuldensfalle begibt, also wissentlich gegen ihn bindendes supranationales Recht verstößt und die dort vorgesehenen Sanktionen auslöst.
Die verfassungsrechtliche Problematik des ESM-Vertrags ist anders gelagert. Durch den Vertrag wird eine „internationale Finanzinstitution“ (Artikel 1) eingerichtet, die die Aufgabe hat, „Finanzmittel zu mobilisieren und ESM-Mitgliedern, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben, … unter strikten … Auflagen eine Stabilitätshilfe bereitzustellen, wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist“ (Artikel 3). Zu diesem Zweck wird der ESM mit einem Stammkapital von 700 Milliarden Euro ausgestattet, bestehend aus 80 Milliarden eingezahltem und 620 Milliarden abrufbarem Kapital. Davon entfallen auf Deutschland 21,7 beziehungsweise 168,3 Milliarden, zusammen also 190 Milliarden Euro.

Über die Vergabe der dem ESM zur Verfügung stehenden Mittel entscheidet der Gouverneursrat, in dem jede Vertragspartei mit einem für die Finanzen zuständigen Regierungsmitglied vertreten ist. Einstimmig, in Dringlichkeitsfällen mit der qualifizierten Mehrheit von 85 Prozent der Stimmen, beschließt der Gouverneursrat unter anderem über die Gewährung von Stabilitätshilfen einschließlich der damit verbundenen wirtschaftspolitischen Auflagen. Das bedeutet, dass Deutschland, das mehr als 27 Prozent des Stammkapitals hält, in keinem Fall überstimmt werden kann. Generell gilt, dass wichtige Entscheidungen (wie zum Beispiel über unmittelbare Zahlungen an Banken) nur einstimmig getroffen werden können.

Seite 2: Wieso Karlsruhe Nein sagen muss

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 7. September 2011 bereits entschieden, dass der Bundestag „auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten“ muss. Daraus folgt, dass der Bundestag „seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen“ darf. „Insbesondere darf er sich keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die … zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können …“ Von Verfassungs wegen ist der Bundestag gehindert, „einem … nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus“ zuzustimmen, „der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen ist“.

Eine Regelung, die es ermöglicht, dass „fiskalische Dispositionen anderer Mitgliedstaaten zu irreversiblen, unter Umständen massiven Einschränkungen der nationalen Gestaltungsspielräume führen“, darf der Bundestag nicht beschließen. Eine „Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten“ ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Deutlicher konnte das Bundesverfassungsgericht nicht zum Ausdruck bringen, dass „Eurobonds“ jeder Art mit dem geltenden Verfassungsrecht nicht vereinbar sind.
Für die verfassungsrechtliche Beurteilung des ESM‑Vertrags kommt es nun darauf an, ob er sich in diesem Rahmen hält (ob sich also zum Beispiel die Haftung Deutschlands tatsächlich auf jene 190 Milliarden Euro beschränkt), oder ob sie, ohne dass der Bundestag noch darauf Einfluss hätte, eine weit größere Dimension erreichen könnte. So wird behauptet (aber auch bestritten), dass der ESM nach Artikel 21 des Vertrags unbeschränkt Kredite aufnehmen könnte, für die alle Mitgliedstaaten gemeinsam haften, und weiter, dass Deutschland, wenn andere Mitgliedstaaten ihren Pflichten zur Einzahlung des auf sie entfallenden Kapitalanteils nicht nachkämen, eine Nachschusspflicht träfe, die sich auf bis zu 700 Milliarden Euro steigern könnte.

Träfen diese Behauptungen zu, stünde der ESM-Vertrag verfassungsrechtlich auf schwankendem Grund. Im Übrigen ist durch das ESM-Finanzierungsgesetz dafür Sorge getragen, dass die Haushalts- und Stabilitätsverantwortung des Bundestags wirksam wahrgenommen werden kann. Das Gesetz gewährleistet einerseits eine umfassende Unterrichtung des Parlaments, andererseits wird das Abstimmungsverhalten des deutschen Vertreters im Gouverneursrat bei gewichtigen Entscheidungen an die vorherige Zustimmung des Bundestags gebunden.

Das Problem der Währungsunion liegt freilich tiefer. So ist die vertragliche Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von Maastricht. Die Unabhängigkeit der EZB und das vorrangige Ziel der Preisstabilität sind dauerhaft geltende Verfassungsanforderungen einer Beteiligung Deutschlands an der Währungsunion.
Gleiches gilt für das unionsrechtliche Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln öffentlicher Einrichtungen durch die EZB und das Verbot der Haftungsübernahme (bail out) für die Schulden anderer Staaten. Alle diese Vorschriften des Unionsrechts – wie gesagt: nach deutschem Verfassungsrecht unabdingbare Voraussetzungen der Zugehörigkeit Deutschlands zur Währungsunion – werden seit Jahren teils offen, teils listenreich gebrochen oder umgangen, was natürlich auch Zweifel daran nährt, ob die Verantwortlichen sich künftig rechts­treu verhalten werden.

Der ESM-Vertrag markiert, wie man gesagt hat, einen währungsrechtlichen Richtungswechsel, indem er die bisherigen, als vorübergehend bezeichneten Stützungsmaßnahmen ersetzt durch eine dauerhaft vertraglich gesicherte Erwartung der Schuldnerländer auf finanzielle Hilfen derjenigen, die solide gewirtschaftet haben: Die Vergemeinschaftung der Schulden ist auf den Weg gebracht. Zwar ist der ESM-Vertrag mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen worden. Das Bundesverfassungsgericht wird aber gleichwohl die Frage beantworten müssen, ob der mit dem beschriebenen Systembruch bewirkte Austausch der Geschäftsgrundlage der Währungsunion nicht an den unabänderlichen Kern des Grundgesetzes rührt.

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