- Die Urknallköpfe
Weltweit machte das sogenannte „Gottesteilchen“ Schlagzeilen. Was für ein paar Tage Aufsehen erregte, bedeutete für die beteiligten Forscher jahrzehntelange Arbeit. Der Fotograf Peter Ginter hat sie portraitiert
Wissenschaft ist wie Sex: Manchmal kommt etwas Sinnvolles dabei raus, das ist aber nicht der Grund, warum wir es tun.“ Diese vorbildliche Definition für Grundlagenforschung stammt aus der Feder des amerikanischen Physikers Richard P. Feynman, der 1965 für seine Arbeiten zur Quantenfeldtheorie den Physiknobelpreis erhielt. Je nachdem, wie man den Satz liest, dient er entweder als Beleg des Vorurteils des vergeistigten, eindimensionalen, beziehungsunfähigen Wissenschaftlers oder als das genaue Gegenteil. Denn um Wissenschaft und Sex zu vergleichen, muss man schließlich beides mal gemacht haben.
Das obige Zitat ist dem Fotobildband „LHC“ von Peter Ginter vorangestellt. Der Fotograf hat 15 Jahre lang den Aufbau des Large Hadron Collider (LHC) dokumentiert, vor allem aber auch die Menschen hinter dem leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger am Cern in Genf porträtiert. Anfang Juli fand dort die vorläufige Krönung der Arbeit von mehr als 10 000 Physikern und Ingenieuren aus aller Welt statt, als erstmals im Experiment die Existenz des Higgs-Boson nachgewiesen werden konnte, dem letzten Baustein in der Theorie der Elementarteilchen.
Weniger bekannt ist, dass es beim Cern bis Ende Juli noch eine weitere Einheit mit der Abkürzung LHC gab, die Band Les Horribles Cernettes, die kürzlich in Genf ihr Abschiedskonzert gab. Gegründet wurde die Band vor 22 Jahren von einer Sekretärin, die über ihre unbefriedigende Beziehung zu einem Cern-Physiker sang: „Nie rufst du an, nie triffst du dich mit mir. Du gehst nicht mal mit anderen Mädchen aus, du liebst nur deinen Beschleuniger.“
[gallery:Die Gesichter hinter dem Forschungserfolg]
Allgemeine Schlüsse lassen sich aus dem Song allerdings nicht ziehen, weil es am Cern viele Forscher gibt, die neben ihrer Expertise in der Teilchenphysik über weitere erstaunliche Talente verfügen. Die Britin Pippa Wells, Projektleiterin beim LHC, ist ambitionierte Geigerin. „Als gewissenhafter Amateur kann man in der Musik ein ordentliches Niveau erreichen, in der Teilchenphysik nicht“, begründet Wells ihren Entschluss, sich beruflich gegen die Musik und für die Welt der Kleinstelemente entschieden zu haben. Wie gewissenhaft die Britin aber auch ihr Geigenspiel weiter vorangetrieben hat, zeigt die Tatsache, dass sie nebenher beim Genfer Symphonieorchester die erste Geige spielt. Ihre kanadische Kollegin Helenka Przysiężniak, die sich in Genf mit Extradimensionen beschäftigt, läuft zur Ablenkung Marathons in etwas mehr als drei Stunden. Da die zweifache Mutter aus Zeitgründen nicht mehr so viel klettern und wandern gehen kann, hat sie die zeiteffizienteren intensiven Bergläufe für sich entdeckt.
Vincent Vuillemin nutzt seine private intensive Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus auch am Cern, wo der ehemalige Leiter der Technikabteilung inzwischen als Ombudsmann tätig ist, der Konflikte und Eifersüchteleien unter den Eliteforschern intern zu schlichten hilft.
Es gibt aber am Cern auch die anderen Geschichten von Forschern, die nach mehreren Jahren den Genfer See nie gesehen haben und außerhalb ihrer Büros, in denen sie zwischen monströsen Papierbergen hausen, Entzugserscheinungen bekommen. Vor Jahren soll ein Physiker sogar mal an Skorbut erkrankt sein, weil er monatelang nichts Frisches gegessen hatte.
Ob er Pate für das Lied von Les Horribles Cernettes stand, ist nicht bekannt. Letztlich haben auch die Bandmitglieder von ihren hyperintelligenten Forscherfreunden profitiert. Nach eigener Darstellung waren sie nämlich die erste Band mit eigener Homepage und einem Foto von ihnen im World Wide Web. Selbiges wurde nämlich auch Ende der achtziger Jahre von dem Cern-Mitarbeiter Tim Berners-Lee mehr oder weniger nebenher erfunden.
Wenn ab und zu etwas so Sinnvolles dabei herauskommt, erübrigt sich jede Diskussion über den Sinn der Suche nach dem Higgs-Teilchen. Carlo Rubbia, italienischer Physiknobelpreisträger, sagte dazu kürzlich in der FAZ: „Der praktische Nutzen ist gleich null. Aber es gibt Dinge, die wichtig sind, weil sie unserem Wunsch entsprechen zu wissen, woher wir kommen, wohin wir gehen und woraus wir sind.“
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