- Partei ohne Plan
Die Piraten mischen derzeit das politische Gefüge auf, haben aber inhaltlich nur wenig zu bieten. Daran wird auch der kommende Bundesparteitag mit seinen Vorstandswahlen nicht viel ändern. Seit Monaten zerfleischen sich die Piraten selbst jenseits der Extremismusdebatten in Grabenkämpfen und Intrigen – und pflegen einen konsequenten Anti-Intellektualismus
Freitagvormittag, Wochenmarkt in Rellingen, einer Kleinstadt nördlich von Hamburg. Ringsum rote Backsteinhäuser, ein Hörgeräteladen, es riecht nach Räucherfisch. Der Krämer wiegt einen Blecheimer mit Kartoffeln, die Tafelwaage ist über hundert Jahre alt.
Gegenüber steht Torge Schmidt, Anzugjacke und blonde Haare, vor einem orangefarbenen Wahlkampfzelt. Er hält zwei Möhren in der Hand, grübelt: „Heißen die eigentlich Wurzeln oder Karotten?“ Schmidt hat sie dem Händler ohne zu zahlen abgerungen.
Der 23-jährige Student ist Spitzenkandidat der Piratenpartei in Schleswig-Holstein. Mit seiner hageren Figur erinnert er kaum an ein nordisches Raubein; ein Störtebeker ist er nicht. Aber sein Ziel für die kommenden Landtagswahlen ist klar: Kiel holen.
[gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung]
Dafür muss der begeisterte Computerspieler auch in die Provinz, Flugblätter verteilen, die Großmutter mit dem Weidenkorb ansprechen. Schmidt will die Wähler mit grünen Thesen überzeugen: Biodiversität statt Gentechnik, kleine Höfe statt Massentierhaltung. Die klassischen digitalen Piratenthemen interessieren hier nicht.
Dabei bräuchte sich Schmidt eigentlich gar nicht so sehr anzustrengen. In Umfragen schafften es die Piraten zuletzt locker über die Fünf-Prozent-Hürde. Bundesweit erreichen sie bis zu 7 Prozent – mehr als doppelt so viel wie die FDP. Die Saar-Piraten gewinnen derzeit viele neue Mitglieder. Und in Nordrhein-Westfalen laufen die Wahlvorbereitungen auf Hochtouren: Für jeden Direktkandidaten müssen die Piraten 100 Unterschriften sammeln. Gelingt den Piraten im bevölkerungsreichsten Bundesland und auch in Schleswig-Holstein ein weiterer Einzug in einen Landtag – es wäre eine kleine Sensation.
Vor allem die gemäßigten linken Parteien zittern vor dieser neuen Kraft. Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel gesteht: „Die Piraten-Wähler machen uns Sorgen. Das sind entweder Neuwähler oder Wähler, die eigentlich zu uns gehören.“ Die Grünen nehmen die politischen Novizen sogar als Gegner auf Augenhöhe wahr. „Die Piraten sind eine parteipolitische Konkurrenz wie jede andere Partei auch“, sagt die grüne Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke. „Sie haben da keinen Sonderstatus.“
Auch ohne Agrarthemen könnte diese neue Bewegung also schon bald die gesamte deutsche Parteienlandschaft umpflügen. Der Duisburger Politikwissenschaftler Christoph Bieber drückt es anders aus, spricht von einem „liquiden Fünf-Parteien-System“. So, wie die Fruchtfolge die mittelalterliche Dreifelderwirtschaft abgelöst habe, so sei auch die politische Landschaft insgesamt flexibler und innovativer geworden. Die klassischen Parteimilieus seien erodiert, die Zahl der Wechselwähler gestiegen.
Die Piraten haben mit dem Netzthema den Nerv einer politikmüden Generation getroffen. Noch nie hat es eine bundesweite Milieu- und Protestbewegung, sieht man von der NPD ab, derart schnell in ein Parlament geschafft. Die grüne Umweltbewegung benötigte mehr als ein Jahrzehnt, die Piraten nur fünf Jahre. Früher waren Parteien Ausdruck gesellschaftlicher Frontstellungen. Sie polarisierten, standen für die Arbeit oder das Kapital, für oder gegen die Konfession, für die Stadt oder das Land.
Welche Konflikte aber bildet die Piratenpartei ab? Welche Werte? Und wie konsequent streitet sie für diese? Piraten können mailen, klicken, Systeme hacken. Aber können sie auch Partei?
Partei zu sein, heißt vieles: politische Ziele zu formulieren, für diese zu streiten, Milieus abzubilden. Und: verantwortungsvolles Spitzenpersonal heranzuziehen, Oppositions- und Parlamentsarbeit zu machen, vielleicht auch mal Regierungsarbeit.
Rein formal sind die Piraten seit Herbst 2006 Partei. Alles begann in der C-Base in Berlin, einem Untergrundclub mit Raumschiffambiente. Bier, Laptops, Kabelgewirr. Man gibt sich eine Satzung. Vorbild ist die schwedische Schwesterpartei, die aus dem Protest gegen die Abschaltung eines illegalen Download-Portals erwachsen war. Diese Plattform hieß „The Pirate Bay“. Die Piraten kämpften für mehr Transparenz, gegen das Urheberrecht und bald auch gegen eine besorgte Familienministerin: Ursula von der Leyen. Vor drei Jahren wollte die CDU-Politikerin Kinderpornoseiten sperren lassen. Doch die Netzgemeinde fürchtete, die Sperren könnten bald auch anderswo eingesetzt werden. „Zensursula“ wird zum Kampfbegriff einer digitalen Protestbewegung, an deren politische Spitze sich die Piratenpartei setzt. Die Mitgliederzahl schnellt nach oben. Mit dem sensationellen 8,9-Prozent-Erfolg bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen im September 2011 springt sie auf über 21.000.
Der Aufstieg der Piraten bringt Bewegung ins Parteiensystem. Der Bundestag setzt eine Internet-Enquete ein, Rot-Schwarz in Berlin fordert freies WLAN, CDU-Parlamentsgeschäftsführer Peter Altmaier beschreibt in der FAZ sein Erweckungserlebnis mit dem Kurznachrichtendienst Twitter. Alles sieht danach aus, als ob die Piraten erfolgreich seien – und erfolgreich Partei.
Der Politologe und Piratenexperte Bieber hält all diese Reaktionen aber nur für „indirekte Effekte“ der Partei. Schließlich bestehe die digitale Welt nicht nur aus den Piraten, da gebe es noch andere Kräfte, unheimliche, teils unpolitische, von Occupy bis Anonymous. Oder anders gesagt: Die Agrarrevolution folgte nicht allein dem ersten Anbau der Kartoffeln – und so sind es auch nicht nur die Früchtchen der Piratenpartei, die die Parteienlandschaft verändern. Doch gibt es auch „direkte Effekte“?
Seite 2: Gepflegte Shitstorm-Kultur
Die ersten Bilder, die die Berliner Piratenfraktion der Presse liefert, sprechen dagegen. Sie streitet sich um Posten und Büros, muss sogar einen professionellen Schlichter engagieren. Die Pannen machen schnell als „gates“ die Runde, in Anlehnung an den Watergate-Skandal. Zuerst „Partnergate“: Susanne Graf, 19, einzige Frau in der Fraktion, und Oliver Höfinghoff engagieren ihre Lebensgefährten als persönliche Mitarbeiter – auf Kosten des Landes Berlin. Dann „Salzstreuergate“: Ein Twitter-Profilbild zeigt den Abgeordneten Simon Weiß, wie er mit einem Papierröllchen im Nasenloch Salz schnupft. Die „Kokainpose“ schafft es auf die Bild-Titelseite. Als Nächstes „Esogate“: Die angestellte Fraktionsgeschäftsführerin Daniela Scherler macht mit ihrem kruden Esoterikbuch zum Thema Krebs und Aids von sich reden. Schließlich „PAV-Gate“, was für „Parteiausschlussverfahren“ steht: Hintergrund sind Anschuldigungen des Piraten Sebastian Jabbusch. Er wirft einem anderen Parteimitglied „Erpressung und Nötigung“ vor und prangert im Landesverband ein „unerträgliches Klima der Angst“ an. Andere Piraten sind empört, sprechen von einer „Rufmordkampagne“. Der Vorstand beantragt das Ausschlussverfahren gegen Jabbusch, einstimmig.
Der nordrhein-westfälische Piratenchef Michele Marsching sagte jüngst, das alles seien Berliner Besonderheiten. „Die müssen gewisse Pfade austreten, die wir vielleicht nutzen können. Bei denen sieht es aus wie Streit und wir können dann harmonisch über diese Hindernisse hinwegsteigen.“ Aber können sie das wirklich?
Eine Partei soll die Willensbildung auf „allen Gebieten des öffentlichen Lebens“ vorantreiben, so will es das Parteiengesetz. Doch das Grundsatzprogramm der Piraten ist allenfalls rudimentär. Sie wollen 2013 in den Bundestag, aber eine Position zur Eurokrise? Fehlanzeige. Steuern, Wirtschaft? Nichts da. Sozialpolitik? Das bedingungslose Grundeinkommen – immerhin als Vorschlag –, aber keine Idee, wie das finanziert werden soll. Dafür die Forderung, Drogen zu legalisieren. Aus der Bundesgeschäftsstelle heißt es, man müsse mehr Parteitage organisieren, um das Programm zu erweitern. Doch dafür fehle das Geld.
Nicht einmal über ihre beiden wichtigsten Forderungen – Transparenz im politischen Prozess und Datenschutz – sind sich die Piraten einig. Zu beiden Themenbereichen gibt es bundesweite Arbeitsgruppen. Doch auf den Webseiten im parteiinternen „Piratenwiki“ findet sich kaum etwas – außer einer losen Linksammlung und Fragezeichen. Datenschutzbeauftragte gibt es, ausgenommen vom Bund, erst in acht von 16 Landesverbänden.
In den Shitstorm geraten
Anstelle einer fast unsichtbaren Parteiorganisation treten vereinzelt engagierte Individuen hervor. So etwa in Schleswig-Holstein beim Thema Datenschutz; dort arbeitet ein Spitzenkandidat beim Landesdatenschutzzentrum. Als die Behörde Bedenken gegen Facebook äußerte, löschten die Piraten ihren Auftritt in dem sozialen Netzwerk.
Und Listenkandidat Nummer vier, der Westküstler Patrick Breyer, zog als einer der Ersten gegen die Vorratsdatenspeicherung vor das Bundesverfassungsgericht. Die Klageschrift stammt größtenteils aus seiner Doktorarbeit. Wenn es so etwas wie einen obersten Datenschützer bei den Piraten gibt, dann ist er das. Der freundliche Jurist versucht Handygespräche grundsätzlich zu vermeiden, „weil jedes Mal mein Aufenthaltsort gespeichert wird“, und wenn doch nötig, unterdrückt er seine Nummer.
Das Gegenmodell zu den engagierten Küstenpiraten ist weiblich und 26 Jahre jung: das Berliner Basismitglied Julia Schramm. Die Politikwissenschaftlerin ist ebenfalls im Wahlkampf – sie will nach ganz oben, Bundesvorsitzende werden.
Schramm betreibt mit einer Gruppe von Internet-Exhibitionisten die Seite „Die datenschutzkritische Spackeria“. Post-Privacy – also die Abwesenheit von Privatsphäre – sei, so behauptet sie, der Naturzustand des Netzes. Sie selbst lebt es vor, indem sie ihr Privatleben ins Internet kippt. In ihrem Blog nennt sie sich „Privilegienmuschi“. Jüngst kündigte Schramm via Twitter ihre Verlobung mit einem Berliner Abgeordneten an. Einmal sagte sie in einem Interview: „Keine Macht den Datenschützern“. So setzte sie eine hochwogende Empörungswelle in Gang, wurde attackiert und beleidigt. Eine Webseite, auf der sie publizierte, wurde von Hackern lahmgelegt. Heute bezeichnet sie ihre Aussage als „ziemlich dumm“.
Was Schramm da erlebt hat, war ein „Shitstorm“. Eine Wissenschaftlergruppe hat das Wort jüngst zum Anglizismus des Jahres gekürt. Es umschreibt digitale Hassattacken, in der das Opfer gleichsam mit Scheiße beworfen wird.
Es sind diese Shitstorms, die auch die Abgeordneten des Berliner Landtags so fürchten. Und diese Furcht dreht sich eigentlich immer um eine Frage: Halten die Piraten, was sie Wählern und Basis in Sachen Transparenz versprochen haben?
In der Berliner Piratenfraktion heißt Transparenz: das Anlegen von Sitzungsprotokollen. In Wort und Ton. Jeder Versprecher, jede Beleidigung schafft es aufs Band, ins Netz. Einmal trafen sich Parteivertreter mit der Antikorruptionsorganisation Transparency International. Deren Vorstandsmitglied Jochen Bäumel sei „etwas überrascht“ gewesen, dass hinterher ein Protokoll davon veröffentlicht wurde. „Ich wurde weder vorher noch nachher darüber informiert, und das hätte ich eigentlich erwartet.“
Längst haben die Abgeordneten aber begonnen, sich dem selbst auferlegten Überwachungsdruck zu entziehen. Ihre Waffe: zwei Styroporkugeln am Stiel. Auf der blauen steht „Ja“, auf der orangenen „Nein“. Wenn sie die Kugeln zum Meinungsbild heben, ist das nicht zu hören und nicht zu sehen – im Protokoll werden meist nur die Mehrheitsverhältnisse festgehalten.
Auch tagt die Fraktion immer häufiger geheim. So etwa, als es um einen möglichen Gegenkandidaten zu Bundespräsident Joachim Gauck ging. Man fürchtete eine Blamage: Einige Anwesende wüssten nicht, was eine Bundesversammlung sei, sagte der Abgeordnete Christopher Lauer. „Sie machen sich zum Obst, wenn sie nachfragen.“ Es sei zu diskutieren, ob diese Offenheitspolitik überhaupt sinnvoll ist, sagt Lauer. „Transparenz dient innerparteilich oft als Kampfbegriff, um Ideen und Diskussionen abzuwürgen.“
Seite 3: Kann sich die Partei auf ein eigenes „Piraten-Milieu“ stützen?
Privatsphäre oder „Post-Privacy“, Datenschutz oder maximale Transparenz: Es sind zwei Pole, die einander eigentlich abstoßen. So sehr, dass die Partei irgendwann auseinanderfliegen müsste. Es sei denn, es gibt Kräfte, die alles zusammenhalten, und Nachwuchs, aber auch eine treue Stammwählerschaft. Kann sich die Partei auf ein eigenes „Piraten-Milieu“ stützen?
In Berlin bedienten die Piraten noch eine urbane, kreative Klientel – die Großstadthipster. „Für ein eigenes Milieu reicht das aber nicht“, sagt Michael Lühmann, Politikwissenschaftler der Universität Göttingen. „Dazu gehört weit mehr, als die gleichen Computer- und Rollenspiele zu spielen.“
Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat anhand bundesweiter Umfragen ermittelt, welche Anhänger die Piraten haben: Sie sind überwiegend männlich, erwerbstätig und rekrutieren sich vornehmlich aus dem Pool der Nichtwähler. Für Wähler mit Haupt- und Realschulabschluss sind die Piraten deutlich attraktiver als etwa FDP und Grüne.
Übersetzt auf Holsteinisch: ein Hartz-IV-Rentner, ein gelernter Abwassertechniker mit Rastazöpfen, ein Fahndungsbeamter beim Bundeszoll. Sie sind Listen- oder Direktkandidaten, die der Wahlkampf nach oben gespült hat. Ihre soziale Herkunft ist heterogener als diejenige ihrer Parteifreunde in Berlin – fast könnte man glauben, es handle sich um eine andere Partei. Und sie wollen auch alle etwas anderes: mehr soziale Rechte, Tierschutz und Atomausstieg, eine effektivere Verwaltung. Die Piratenpartei sehen sie als Projektionsfläche, als Gestaltungsmasse, als Karrierevehikel.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat 2002 eine Studie veröffentlicht, in der der Erfolg einer Hamburger Protestpartei untersucht wurde. Die Wähler damals: überwiegend männlich, erwerbstätig, viele Nichtwähler. Bei Bildung und sozialer Stellung gab es eine breite Streuung. „Wenn man sich die Struktur der Wähler und Sympathisanten beider Parteien anschaut, dann sind die überwiegend identisch“, sagt Piraten-Experte Lühmann.
Die damals analysierte Partei war die rechtspopulistische Schill-Partei. Sie hatte bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen 2001 aus dem Stand einen sensationellen Erfolg hingelegt, 19,4 Prozent. Doch genauso schnell, wie die Partei von Ronald Schill alias „Richter Gnadenlos“ auf der politischen Bühne erschienen war, verschwand sie nach sechs Jahren auch wieder.
Es gibt noch ein anderes Merkmal, das die Piraten mit Parteien, die eine geschlossene ideologische Weltanschauung vertreten – wie etwa der Schill-Partei oder marxistischen Bewegungen – teilen: Parteien schreiben ihren Mitgliedern in der Regel nicht vor, wie sie sich zu verhalten haben. Das tun die Piraten aber, in einem eigenen Kodex. Da heißt es etwa: „Piraten leben privat“, „Piraten machen die Klappe auf“. Sie verhalten sich „stets couragiert“ und helfen etwa der alten „Dame, die ihren Rollator nicht mehr ohne Weiteres in den Bus heben kann“.
Neben dem Kodex steht im Piratenwiki ein kleines Symbol mit Schraubenzieher und -schlüssel. Es zeigt an, dass hier noch ergänzt werden darf.
Die WerkzeugPartei
So, wie der Kodex noch im Fluss ist, sind auch die Piraten noch unfertig. Und wenn sie auch nicht wissen, was sie warum erreichen wollen, dann doch immerhin, wie: mit „Tools“, Werkzeugen.
Ein solches heißt etwa „politischer Kompass“, ein aus dem Wahl-o-Maten zusammengeschraubtes Koordinatensystem. Es soll den Piraten helfen, sich politisch einzuordnen. Da gibt es die X-Achse, genauer, eine Art Rechts-Links-Achse, und die Y-Achse, die Libertär-Autoritär-Achse. Die meisten Nutzer landen im dritten Quadranten, also unten links, „libertär“. In Wirklichkeit handelt es sich um eine nette Grafik, die nebenbei zeigt, dass sich die Piraten noch keine eigene politische Konfliktdefinition zutrauen. Oder dass sie es nicht schaffen, bestehende Frontlinien abzubilden: So gibt es eine tiefe digitale Kluft in Deutschland, fast 40 Prozent der Menschen leben nahezu komplett ohne Internet. Wie wollen die Piraten darauf reagieren?
In der Kleinstadt Heide in Holstein lautet die Antwort: mit Crashkursen. Eine zünftige Schankwirtschaft, es gibt Bier und Pommes. Patrick Breyer, der Jurist, erklärt einigen älteren Parteimitgliedern gerade das Internet. Rund ein Dutzend Zuhörer folgt einer Beamerprojektion an einer Wand. Keine Parteiarbeit ohne Softwareprogramme, erklärt Breyer. Die wesentlichen: die Onlineplattform Piratenwiki, die Sprachkonferenzsoftware Mumble und das Live-Textbearbeitungsprogramm Piratenpad.
Das wichtigste Instrument erwähnt Breyer nicht, ein Werkzeug, mit dem die Piraten die anderen Parteien noch kräftig in die Zange nehmen könnten: Liquid Feedback, eine Beteiligungsplattform im Internet. Die Software ermöglicht, die Basis über wichtige Themen abstimmen zu lassen. Jedes Parteimitglied kann dort jederzeit Anträge einbringen. Noch nie wurde ein solches Programm in einer Partei ausprobiert. Bislang nutzt allerdings erst ein Drittel der Piraten Liquid Feedback – noch zu wenige, um ernsthaft Politik zu machen.
Seite 4: Die Piraten wollen lieber Schwarmintelligenz statt Autoritäten
Außerdem hat die Software einen nicht ungewollten Nebeneffekt: Sie zähmt Vorstände und Abgeordnete. „Nur das Liquid“, sagt einer, „bietet eine Shitstorm-Resistenz“.
Es ist ein alter Konflikt, den alle Parteien schon ausgetragen haben und die Grünen besonders bitter: Wer hat die wirkliche Hausmacht in der Partei – die Basis oder die Führung? Jede Partei braucht gutes Spitzenpersonal. Gesichter, die die Wähler wiedererkennen, Kader, die Entscheidungen in der politischen Kampfarena durchboxen, Menschen, die Kompromisse schließen, Koalitionen schmieden.
Piraten aber wollen keine hellen Köpfe, sondern lieber die unsichtbaren Parteisoldaten. Nicht das Individuum, sondern die kluge Masse, die Schwarmintelligenz, soll regieren. Wer sich zu sehr profiliert, erntet den Groll der Basis und endet am Internetpranger.
Einer, der das immer wieder spürt, ist der Berliner Abgeordnete Christopher Lauer. Er ist ein brillanter Redner, ein Intellektueller. Er zieht die Kameras auf sich. Doch die Parteibasis wählte ihn auf einen schlechten Listenplatz, die Fraktion auf eine Hinterbänklerposition. Als Cicero Online ihn einmal porträtierte, schrieb ein Pirat, inklusive Rechtschreibfehlern, er sei „ein strippen Zieher, Seilschaftler und Nicht-Teamspieler“: „Wir lehnen so etwas etabliertes ab!“
Ähnliche Erfahrungen musste auch der frühere Bundesvorsitzende Jens Seipenbusch machen. Er gründete jüngst die „Gruppe 42“, um die digitalen Themen der Partei zu schärfen. Seipenbuschs Initiative wurde von der Basis als Affront aufgefasst: Eine „radikale, neue Abspaltung“ sei das, eine „Machterlangungstruppe“.
Die Basis bevorzugt blassere, schüchterne Figuren. Deswegen wählte sie im Berliner Wahlkampf Andreas Baum ganz nach oben, deswegen entschieden sich die Schleswig-Holsteiner für den jungen, unerfahrenen Torge Schmidt.
Und die Basis liebt, wer einen guten Rückzug hinlegt. So etwa Marina Weisband. Als die Bundesgeschäftsführerin erklärte, aus gesundheitlichen Gründen ein Jahr Pause einlegen zu wollen, drückten Hunderte den „Gefällt mir“-Knopf, schrieben ihr begeisterte Kommentare. Weisband hatte sich im Vorstand wund gearbeitet – ehrenamtlich, versteht sich.
Ähnliches erlebte auch der Ex-Vorsitzende Berlins, Gerhard Anger. Auf dem Landesparteitag im Februar erklärt er, er „ertrage diese emotionale Belastung nicht“ mehr. Der Saal erhebt sich, knapp 300 Piraten an langen Biertischen, Standing Ovations.
Die Nachfolgersuche auf dem Berliner Parteitag – das Ganze heißt „Kandidatengrillen“ – ist ein Beispiel für piratischen Anti-Intellektualismus. Das Motto: Wertgeschätzt wird, wer sich am deutlichsten disqualifiziert. Malte Jan Kaffenberger, schwarzer Hut, auf Facebook mit Micky-Maus-Ohren, nennt sich „Spaßkandidat“. Früher war er mit den Jusos „im Sommer zelten und saufen“. Schatzmeisterin Katja Dathe, rot gepunktete Bluse, kündigt an, sie werde „schimpfen und weiter unglaublich faul sein“.
Doch Sieger wird ein anderer, der Softwareingenieur Hartmut Semken. Noch am gleichen Tag setzt er sich über die Parteispielregeln hinweg – und sagt über die Arbeit der Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus: „Da fallen mir jede Menge Bemerkungen ein, aber die sind alle nicht zitierfähig.“ Die Parlamentarier sind wütend. „Der administrative Vorsitzende kackt der Fraktion erst schön auf den Teppich“, schreibt ausgerechnet Christopher Lauer, der gescheite Pirat, auf Twitter. Er eröffnet den Shitstorm, in wörtlichem Sinne.
Trotzdem wirft Semkens Satz Fragen auf: Die wichtigste Aufgabe einer Partei ist schließlich die Parlaments- und Oppositionsarbeit. Hat der neue Oberpirat seinen Säbel möglicherweise in eine klaffende Wunde gelegt?
Piraten im Ausschuss: Keine Wortgefechte, kaum Anfragen
Im Berliner Abgeordnetenhaus gibt es ein Gremium, das landläufig „Piraten-Ausschuss“ genannt wird: der Ausschuss für Digitale Verwaltung, Datenschutz und Informationsfreiheit, kurz ITDat. Die Piraten stellen hier den Vorsitzenden, Alexander Morlang. Ein Foto im Internet zeigt den 37-Jährigen in einer beigefarbenen Unterhose, mit nackten, haarigen Beinen und schwarzen Socken. In einer 13-teiligen Serie erklärt der Motorradfan, wie er sich, Schicht um Schicht, für eine winterliche Alpentour kleidete. Auf einem Bild hat er eine Rettungsdecke um die Hüften gewickelt, Goldseite nach außen.
Im Ausschusssaal trägt der Abgeordnete allerdings ein schwarzes Kragenhemd mit grauem Jackett. Gleich zu Beginn der Sitzung bittet ein SPD-Politiker, der heute Geburtstag hat, früher gehen zu dürfen. Morlang, der Chef hier, sagt Nein. „Wir haben uns schließlich den 3,5 Millionen Berlinern verpflichtet.“ Die Strenge im Sitzungssaal soll über die Schwäche der Oppositionsarbeit hinwegtäuschen.
Die 15-köpfige Piraten-Fraktion hat bislang nur zwei wichtige Erfolge gehabt: zwei große Anfragen, zum Schultrojaner und zur Telekommunikationsüberwachung. In beiden Fällen war sie auf Medienberichte aufgesprungen.
Dann gibt es noch die kleinen Anfragen an den Senat, meist wenig medienwirksam, aber wichtig für die Oppositionsarbeit. Vom Parlamentarischen Geschäftsführer der Piraten, Martin Delius, heißt es, sein „unvollständiger Überblick geht momentan von etwa 20 kleinen Anfragen aus“. Die Linksfraktion, mit nur vier Abgeordneten mehr, stellte im gleichen Zeitraum nach eigenen Angaben mehr als viermal so viele kleine Anfragen. Von den Grünen, mit doppelter Fraktionsstärke, kam das Sechsfache. Unter den bis Mitte März von der rot-schwarzen Landesregierung beantworteten 456 kleinen Anfragen stammen nur zwei von den Piraten.
Der Antrag „Acta stoppen“ – der bislang einzige zu diesem Thema – stammt von den Linken. Zur Verbesserung der politischen Transparenz gab es bislang vier Anträge, alle von den Grünen. Kein einziger Pirat zeichnete mit.
Auch im wichtigsten Piraten-Ausschuss ist der wirkliche Macher ein Grüner. Er heißt Thomas Birk, ein Glatzkopf mit kranzförmigem Haarsaum. Insgesamt fünf Beratungspunkte hat seine Fraktion auf die Tagesordnung gebracht – die Piraten keinen einzigen. Birk bedauert, dass die FDP nicht mehr im Parlament vertreten sei. Der frühere liberale Ausschussvorsitzende sei „sehr versiert und interessiert“ gewesen. Eine Sozialdemokratin, die insgesamt in drei Ausschüssen sitzt, hält den Internetausschuss in seiner jetzigen Besetzung für „die Höchststrafe“.
Die Piraten sagen gern, dass sie die „Metapartei“ sind, sich für Methoden und Prozesse interessieren. Man könnte es auch so sagen: Wenn die Politik ein Gemälde ist, dann starren die Piraten lieber auf den Rahmen. Das Bild, seine Inhalte und Farbenspiele, beachten sie nicht. Sie glauben, dass sich die Dinge ändern, indem man den Rahmen austauscht.
Ein halbes Jahr nach ihrem Berliner Erfolg fällt die Bilanz dieser Bewegung extrem dürftig aus: Ein Programm haben sie nicht, ein Milieu finden sie nicht, Autorität wollen sie nicht, und Parlament beherrschen sie nicht. Kann so eine Gruppe Partei?
Der neue Berliner Landeschef Hartmut Semken sprach einmal davon, dass die Piraten mehr seien als Internet. Da war er noch einfaches Basismitglied, saß beim Stammtisch in einer Kreuzberger Kneipe und sagte: „Wenn wir die Netzpartei sind, dann ist die SPD die Dampfmaschinenpartei.“ Was die Piraten denn aber sonst seien, außer „Netzpartei“? Er wusste es nicht.
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