- „Ach was, ich scheiße auf den Künstler"
Ein Welt-Autor ist zu entdecken: Aus einem extrem zurückgezogenen Leben erwächst hier der einzigartige literarische Kosmos eines Ausdauerkünstlers. Péter Nádas im Portrait
Veranstaltungstip: Péter Nádas im Cicero Foyergespräch am 18. März 2012
Als Péter Nádas im Herbst 1973 an seinem Roman «Buch der Erinnerung» zu arbeiten begann, tat er zunächst: nichts. Nichts Sichtbares jedenfalls. Zwei Jahre lang lag er die meiste Zeit auf dem Bett und beobachtete, was die Erinnerung ihm zutrug und wie die Phantasie daran herumspielte. Er notierte nichts. Wer ihn so liegen sah, hätte ihn für depressiv halten müssen, verriet er später in einem Essay über die Entstehung dieses Buches; er ahnte noch nicht, dass er dafür mehr als elf Jahre benötigen würde.
Am 15. April 1985 schloss er das «Buch der Erinnerung» mit über tausend Druckseiten ab. «Aber ich hätte es überhaupt nicht beenden können, wenn ich nicht nebenbei schon die ‹Parallelgeschichten› entworfen hätte», sagt er heute, an einem sonnigen, kalten Tag in Budapest im Januar 2012. Unzufrieden mit dem, was da fertig wurde, wollte er sogleich darüber hinaus, wollte lösen, was in der geschlossenen Form nicht lösbar war. Die «Parallelgeschichten» waren die Antwort darauf. Sie sollten eine offene Struktur haben. Das Chaos sollte die Form bestimmen, denn so ist das Leben. Achtzehn Jahre dauerte die Arbeit an diesem monumentalen Werk, das in der deutschen Übersetzung 1724 Seiten umfasst. Er sei eben langsam, sagt er: «Das ist mir nicht besonders sympathisch. Ich wäre gerne viel schneller. Aber ich bin es nicht.» Man könnte ihn auch einen Ausdauerkünstler nennen.
Unterdessen fiel in Berlin die Mauer, die Sowjetunion ging unter, Ungarn wurde zur Demokratie und ist jetzt schon wieder dabei, diese Errungenschaft aufs Spiel zu setzen. Kriege fanden statt, Computer wurden gebräuchlich, Handy und Internet erfunden, 1992 wurde Nádas fünfzig und wäre im Jahr darauf um ein Haar an einem Herzinfarkt gestorben, wenn ihn die Ärzte nicht aus dem klinischen Tod zurückgeholt hätten. Im Roman spielen diese Zäsuren keine Rolle. «Man darf das nicht einfließen lassen, muss es akzeptieren und vielleicht hier und da etwas ändern – aber die Kontinuität im Text muss bleiben.»
Kein Wunder also, dass Zeit hier eine besondere Rolle spielt, oder vielmehr: die Aufhebung der Zeit. Alles geschieht gleichzeitig, ereignet sich in Parallelwelten neben- und durcheinander, und weil sich das Erleben in Assoziationen vervielfältigt, tendiert jeder Augenblick gegen unendlich. Ein Telefonklingeln, eine Taxifahrt, Anstehen nach Brot oder der wohl längste und intensivste Geschlechtsakt der Literaturgeschichte: Nádas dehnt die Zeit nach Belieben. Budapest 1961 und 1956, Berlin 1989 und 1938, ein Konzentrationslager am Niederrhein 1945, das Städtchen Mohács an der Donau, ein Internat im Erzgebirge, wo die Nazis rassekundliche Forschungen betreiben, Geheimdienst, Judentum, Politfunktionäre, Gesangsunterricht – all das bringt er in einen Zusammenhang, ohne aus den diversen Erzählfäden zwanghaft einen Handlungsknoten zu schnüren und ohne dass irgendetwas vorbei und abgetan wäre, nur weil es in der Vergangenheit liegt. «Wir hängen an der Vorstellung, dass das Leben mit der Geburt anfängt und mit dem Tod endet», sagt er. «Aber so einfach ist es nicht, und jeder weiß das. Es gibt Kausalität, zweifellos, aber uns beherrscht das Chaos. In der Literatur führt Kausalität in die Irre.»
Zumeist lebt Péter Nádas zurückgezogen auf dem Land, in dem kleinen Dorf Gombosszeg im Südwesten Ungarns. In Budapest hat er eine kleine Wohnung mitten im barocken Altstadtviertel von Buda, wo die Welt für die Touristen zum Museum geschrumpft ist. Doch es kommen zu wenige. Geschlossene Geschäfte neben Edelboutiquen, leere Tische in teuren Restaurants, überhaupt ist es seltsam leer in der Stadt, als wäre ihre Zeit schon abgelaufen. Das Haus, in dem Nádas wohnt, duckt sich bescheiden zwischen stattlichere Nachbargebäude, auch sein Name auf dem Klingelschild hat eine Neigung zum Verschwinden. Über dem Eingang hängt, wie an vielen Fassaden des Viertels, ein Ungarn-Fähnchen.
Das Zimmer, in dem wir einander wenig später gegenübersitzen, ist mit antiken Möbeln sparsam ausgestattet und wirkt sehr aufgeräumt. Jedes Ding steht für sich im Raum, alles gehört einer Ordnung an, die dazu da ist, Stabilität zu behaupten. Das ist wichtig für einen Menschen, der es mit dem Chaos aufnimmt. Auf dem Schreibtisch der Laptop, ein paar Stifte sind lotrecht ausgerichtet. Und dann steht da noch eine Couch, die aussieht, als gehöre sie eigentlich zur Praxis eines Psychoanalytikers. Nein, nein, sagt Nádas und lacht, da liege er nur selten, die sei ihm zu unbequem. «Ich war nie in einer Analyse. Will ich auch nicht. Das zerstört. Und Selbstanalyse gibt es nicht, wenn man Freud glauben darf. Analyse ist immer an den Zweck gebunden, jemandem aus der Klemme zu helfen. Aber ich kann mir nicht aus der Klemme helfen, weil ich nicht weiß, was meine Klemme ist.»
Er trägt einen braunen Pullover und melancholische Cordhosen und spricht leise, fast flüsternd, bedächtig. Das hat einerseits damit zu tun, dass er in der deutschen Sprache nicht zu Hause ist, auch wenn er Deutsch nach längeren Aufenthalten in Ost- und West-Berlin perfekt beherrscht, vor allem aber mit einem Bedürfnis nach äußerster Genauigkeit. Manchmal nimmt er ein Wort wieder zurück, um es durch ein geeigneteres zu ersetzen, so als wäre das Gespräch nichts anderes als die Arbeit an einem Text, den er wieder und wieder verbessert. Die beiden Kapitel ganz am Ende der «Parallelgeschichten» entstanden zuerst. Er hoffte, auf diese Weise den Zwang zum narrativen Handlungsbogen zu überlisten.
Tatsächlich führen die beiden Schlusskapitel über das Romangeschehen hinaus, bringen noch einmal neue Figuren und Orte ins Spiel, wo man doch nach guter alter Tradition eine Art Zusammenführung und die Auflösung des im ersten Kapitel angelegten Kriminalfalles erwarten würde. Doch die Identität der Leiche, die bei leichtem Schneefall im Berliner Tiergarten liegt, bleibt ungeklärt. Das mag irritieren, aber bis dahin hat man sich längst daran gewöhnt, dass es in diesem Buch keine Zentralperspektive gibt, keine Haupt- und Nebenfiguren, keinen geschlossenen Handlungsort, keinen allwissenden Erzähler. Und doch bildet sich eine weite Landschaft heraus, die lange nachwirkt. Nádas vergleicht diese Struktur mit dem Speicherprinzip des Computers, das er ästhetisch abbildete, bevor er etwas darüber wusste oder gar einen besaß: Alles ist gleichzeitig da und kann jederzeit abgerufen werden.
Wir sind alle verbunden, ob wir das wissen und anerkennen oder nicht. Wir sind nicht privat und wir sind nicht gesellschaftlich. Wir sind beides, in jeder Minute.» Und darum geht es: Auch das Unbegriffene, das Unverstehbare, das Vergessene oder Verfälschte soll erzählt werden, denn es gehört zur Wirklichkeit dazu. Bei Péter Nádas steht immer der einzelne Mensch im Mittelpunkt, den er in seiner unmittelbaren Körperlichkeit erfasst. Wenn er von der Geschichte redet, redet er also von sich selbst, etwa von der Wut, die ihn beherrschte, als in der Endzeit des Kommunismus nichts mehr funktionierte.
«Man konnte nicht einmal einen Brief zukleben, weil der Umschlag nicht klebte. Dann nahm man Klebstoff, aber der klebte auch nicht. Meine Wut war die Wut eines Europäers, der daran gewöhnt ist, dass die Dinge ihre Vernunft oder Logik oder Zweckmäßigkeit haben. Ich war so wütend, dass ich dem Staatspräsidenten einen Brief schreiben wollte. Dazu ist es lächerlicherweise nicht gekommen, weil ich dann doch ein Klebemittel fand – bis auch das nicht mehr klebte. Es war symbolisch, denn die Briefe wurden ständig geöffnet. Dann brach mit großem Krach das ganze System zusammen. Da war nichts mehr zu kleben. Und erst danach fiel mir wieder ein, dass ich diesen Brief nie geschrieben habe.»
Doch es war nicht der Zusammenbruch des Kommunismus und der Systemwechsel, der die Arbeit an den «Parallelgeschichten» unterbrach, sondern sein Nahtod, den er als einen Zustand der «vollkommenen Zufriedenheit» erlebte. Er brauchte lange, sich damit abzufinden, wieder da zu sein und sich wieder «mit Schmerz, mit Freude und allem, was die Menschen für wichtig halten» befassen zu müssen. In dem Essay «Der eigene Tod» versuchte er Auskunft zu geben über diesen einzigartigen Zustand: «Alle Bewusstseinsinhalte sind gleichzeitig verfügbar. Und auch alle Inhalte des Unbewussten. Ich sehe, wie sich die Ereignisse abgespielt haben, und ich sehe, wie ich sie selber beim Abspeichern verbogen habe. Gleichzeitig. Es gibt keine Linearität, keine Chronologie. In der Minute meines Todes erlebe ich meine Geburt. Tod und Geburt sind eins. Die Religionen und die Künste haben das schon immer gewusst.»
Diese Fülle konkreter Erfahrung sei eine starke Bekräftigung gewesen, sagt er, eine beglückende «Totalität, wie wir sie mit der Liebe anstreben, aber nur für Minuten erreichen». Vielleicht hat es damit zu tun, dass er in den «Parallelgeschichten» so hartnäckig der Totalität des Augenblicks nachspürt: durch die offene Form, die das Ungleichzeitige umfasst, aber mehr noch durch die Besessenheit, mit der er sexuelles Erleben beschreibt. Ihn interessiert die Grenzüberschreitung der Körper und der Seelen, die Begegnung des eigenen, rätselhaften Ich mit einem anderen, wenn aus der immer gleichen Fortpflanzungsmechanik etwas Besonderes, Individuelles wird.
Ganz egal, ob das die Erlebnisse eines jungen Mannes im Schwulenpark sind, die Dauerekstase eines sexbesessenen Paares, die Verzögerungskünste eines Onanisten oder eine lesbische Begegnung: In immer neuen Varianten umkreist Nádas das Begehren und die Geschlechtlichkeit des Menschen. Da bleibt keine Körperflüssigkeit und -öffnung ausgespart, kein Härchen, keine Hautfalte, keine Berührung und keine Enttäuschung. Doch handelt es sich dabei weniger um Pornografie als um die Suche nach Transzendenz. Er nennt das «einen Gottesdienst – sofern es einen Gott gibt.» Aber das Universum gibt es auf jeden Fall. «Und wie könnten wir ihm anders begegnen als mit dem Körper? Nur mit dem Kopf? Oder dem Geist? Oder der Seele?»
Der Tod hat ihn immer begleitet. Sein erstes Wort sei «Bombenalarm» gewesen. Da war er, Sohn jüdischer Eltern, noch keine zwei Jahre alt und plapperte die Radiostimmen nach. Er habe viele Tote gesehen in seinem Leben. Die Mutter starb 1955 an Krebs, der Vater – ein Funktionär der Kommunistischen Partei – erschoss sich drei Jahre später. «Der Tod war ständig da. Das hat mich geprägt. Außerdem die Aussichtslosigkeit der Diktatur: dieses Stillgelegte, Unlebendige. Da befasst man sich mit dem Tod auf eine andere Weise. Es dauerte Jahrzehnte, bis ich den ständigen Drang zum Selbstmord aus meinem Kopf austreiben konnte. Das war immer der erste Gedanke: Na gut, dann beende ich das jetzt. Das ist eine ungarische Spezialität.»
Geschichte ist bei Nádas die Parallelgeschichte der Körper, der Tabus, mit denen der Körper umstellt ist, und all der Vergeblichkeiten, die sich in ihn einschreiben. Dem «Buch der Erinnerung» hatte er ein Motto des Apostels Johannes vorangestellt, das auch für die «Parallelgeschichten» passen würde: «Er aber redete vom Tempel seines Leibes.» Warum, fragt er, «darf man in unserer Kultur nicht rülpsen und nicht furzen, sich aber vor anderen die Nase putzen? Warum darf man in der Öffentlichkeit essen, aber nicht scheißen? Ich versuche, dem Sprache zu geben, dass wir nicht nur aus Kopf und Gedanken bestehen.
Es ist doch lächerlich, dass wir über philosophische Begriffe so viel wissen, aber was in unserem Körper in jeder Minute vor sich geht, das wird in der Schule nicht gelehrt. Wenn man plötzlich eine Krankheit bekommt, erfährt man, dass dies oder das nicht richtig funktioniert. Aber wir wissen es nicht. Doch dieses Wissen, was wo entsteht und womit in Verbindung gesetzt wird, brauchen wir. Wenn wir das nicht bewusst werden lassen können, wissen wir auch nicht, warum wir Kommunisten oder Faschisten oder Demokraten oder verlogene Staatspräsidenten werden.» Oder Neonazis. Bei denen, sagt Nádas, könne man schon am Körper sehen, dass etwas nicht stimmt: «Die sind nicht martialisch, sondern aufgedunsen und ungesund.»
Die Unterscheidung in politische und unpolitische Literatur hält er folglich für Unsinn. «Alle Aspekte eines Lebens fließen in die Politik ein und umgekehrt. Es gibt nichts, was nicht in mein persönliches Leben, in meine Leber und meine Innereien eingeflossen wäre. Man bekommt Magenkrämpfe, und die sind ab und zu politisch. Politik verursacht bei meinem Herzen zusätzliche Systolen. Von meiner Geliebten bekomme ich das auch. Wir haben keine besondere Auffassung für Politik und Arbeit und Liebe.» Ob diese Empfindlichkeit die besondere Sensibilität des Künstlers ausmache? «Ach was, ich scheiße auf den Künstler.»
Die Entwicklung in Ungarn hat Nádas immer wieder mit politischen Essays begleitet. Als Bürger, als Demokrat. Damit hat er jetzt aufgehört. Mit dem Abbau der Demokratie will er sich nicht mehr befassen. «Über Verrücktheiten etwas noch Verrückteres zu sagen oder als Klugscheißer zu erscheinen, das ist sinnlos. Was soll ich damit machen, dass eine Zweidrittel-Mehrheit verrückt spielt?» Aber dann redet er doch darüber, über die inneren und äußeren Ursachen, die EU, Angela Merkel, entfesselte Märkte und die Gier des Kapitalismus. «Die demokratischen Kräfte waren zu schwach. Auch ich. Aber ich finde nicht den Punkt, wo ich verantwortlich wäre.»
In rechten Zeitungen und im Internet werde er als Landesverräter und Nestbeschmutzer, als Schwuler und «dreckiger Jude» beschimpft, als amoralisch und einer, der nicht schreiben kann. Er will das alles nicht mehr lesen. Nicht weil es ihm Angst macht oder ihn ekelt, sondern weil es ihn langweilt. «Man kann mich prügeln, man kann mich töten, man kann mich quälen, das interessiert mich nicht so sehr. Die Verrohung der Gesellschaft trifft mich. Aber ich kann damit nichts anfangen.» Er sei alt geworden, sagt er leise, auch wenn er mit seinem jungenhaften Gesicht überhaupt nicht aussieht wie einer, der bald 70 wird. «Alt und teilnahmslos. Die Tage werden kürzer.» Aber was macht das schon. Die «Parallelgeschichten» sind endlos. Sie kommen ohne Anfang und Ende aus. «Sind Sie jetzt fertig?», fragt Péter Nádas. «Gut. Ich auch.»
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