- Wehret der Normalität
Ein Bielefelder Gesellschaftsforscher warnt seit 20 Jahren vor der wachsenden Gewaltbereitschaft junger Nazis. Nach den Terror-Morden könnte er endlich Gehör finden
Die Mordserie der Zwickauer Neonazi-Terrorzelle könnte einiges verändern, sogar im Milieu der Sicherheitsbehörden. Nach der Pannenserie bei der Fahndung und den Fehleinschätzungen der Gesamtlage werden die amtlichen Extremismusexperten bei Gesprächen mit den nichtamtlichen Kennern der rechtsextremistischen Szene nun möglicherweise genauer zuhören. Und nicht gleich mit dem stereotypen Satz von damals reagieren: „Wenn das so wäre, dann wüssten wir es.“ Die Nazi-Beobachter aus Wissenschaft, Presse und Demokratiegruppen analysieren das Treiben der alten und neuen Nazis in Deutschland seit vielen Jahren. Sie sind vertraut mit deren archaischen Mythen und rassistischen Menschenbild. Sie kennen das Personal. Sie wissen, was im Milieu der völkischen „Kameraden“ gedacht wird und wie sie ticken. Und sie sind auch nicht überrascht von der Entschlossenheit jener radikalen Fanatiker, die sich – ähnlich dem Massenmörder Breivik in Norwegen – zur Rettung des deutschen Volkes berufen fühlen und bereit sind, dafür zu morden. Geplant und in Serie.
Dass im rechten Untergrund die Gewaltbereitschaft wächst, haben die Nazi- Watcher vor Jahren prophezeit. Gehört wurden sie nicht. Nicht nur die Verfassungsschützer winkten mit dem Gestus des Platzhirschen ab: Alles halb so wild. Abwehrreflexe gab es auch in der Politik und seitens der Medien. Warnungen vor rechtem Terror, Mord und Totschlag galten als Panikmache, Pessimismus, Alarmismus. Sozusagen als „unmögliche Tatsache“, der man sich deshalb auch entschlossen verweigert, wie der legendäre Palmström, dessen Standhaftigkeit gegenüber der Wirklichkeit der Dichter Christian Morgenstern so beschrieb: „Weil (so schließt er messerscharf), nicht sein kann, was nicht sein darf.“
Die erste Leugnung der inakzeptablen Wahrheit eines real existierenden Rechtsextremismus in Deutschland liegt relativ weit zurück. Wilhelm Heitmeyer, 66, Sozialwissenschaftler und Direktor des international vernetzten und renommierten „Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung“ an der Bielefelder Universität, erinnert sich. Er selbst hatte damit nichts zu tun, aber das Thema sollte bald auch seines werden.
Wahljahr 1980: Das Meinungsforschungsinstitut Sinus hat im Auftrag des Bonner Kanzleramts untersucht, wie groß das rechtsextremistische Potenzial in der Bundesrepublik Deutschland ist. Konservative Medien und die christlich-demokratische Opposition fanden allein schon die Themenstellung und den Aufwand (7000 Befragte) skandalös, ganz zu schweigen von dem „unmöglichen“ Ergebnis: Über 13 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, so der später als „Sinus-Studie“ in die Geschichte eingegangene Bericht der Meinungsforscher, verfügten über ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“, das im Wesentlichen als autoritär, nationalistisch, fremdenfeindlich, antisemitisch und pronazistisch definiert wurde. Und nicht nur das: Darüber hinaus befürworte die Hälfte dieser Gruppe Gewalt als Mittel zur Durchsetzung dieses Weltbilds. Die Botschaft der Studie war klar: Der braune Bodensatz ist eine latente Gefahr.
Dass sie nicht aus der Luft gegriffen war, sollte das ganze Land noch im selben Jahr erfahren. Am 26. September, in der heißen Phase des Konfrontationswahlkampfs Schmidt gegen Strauß, zündete ein Rechtsterrorist auf dem Münchener Oktoberfest eine Bombe. Der Albtraum aller Sicherheitsverantwortlichen, Modell für alle späteren Horrorszenarien im Zeichen der Angst vor Al Qaida. 13 Tote, darunter der Attentäter, 211 zum Teil schwer Verletzte.
Bis heute ist ungeklärt, ob der Täter allein gehandelt hat. Die Behörden hatten sich relativ schnell auf die Einzeltäterthese festgelegt, der Fall wurde geschlossen. Ein Anwalt von Angehörigen der Opfer sagte später: „Bewusst oder unbewusst wurden alle Spuren und Zeugenaussagen, die der Einzeltätertheorie widersprechen, nicht richtig gewürdigt oder beiseitegeschoben.“ Die offizielle Version sei ein politisch erwünschtes Ermittlungsergebnis gewesen.
Unangenehme Wahrheiten und ihre Wirkung: Wilhelm Heitmeyer und sein Forscherteam in Bielefeld haben damit einige Erfahrung gesammelt. Sie kennen den Ärger, den unliebsame Veröffentlichungen auslösen. Und sie kennen die abwehrende Haltung politischer Gesprächspartner, ob in den Behörden oder in der Zivilgesellschaft, wenn der Rat aus der Wissenschaft nicht den Erwartungen entspricht.
Rückblick auf die neunziger Jahre: Deutschland ist vereinigt, die zwei Gesellschaften sollen zusammenwachsen, die Landschaften im Osten werden bald blühen, und die Jugend möge bitte optimistisch in die Zukunft blicken. Doch das Zusammenwachsen entwickelt sich schwierig, die Landschaften blühen nicht, und deutsche Rechtsradikale, voran „die Jugend“, macht Schlagzeilen mit neuer Gewalt: Rostock, Mölln, Hoyerswerda, Halberstadt und andere werden zum Symbol für Fremdenhass und Zukunftsverlust. Was ist los in der Republik?
Aus aktuellem Anlass schreibt Heitmeyer 1992 in der linken Zeitschrift Das Argument einen Aufsatz über die „Gefahren eines ‚schwärmerischen Antirassismus‘“. Er handelt von der in beiden Teilen Deutschlands rückläufigen Akzeptanz von Ausländern, bei gleichzeitig wachsendem Verständnis für „rechtsradikale Tendenzen wegen des Ausländerproblems“. Heitmeyer warnt davor, es sich mit Begriffen wie „Rassismus“ und mit Formeln nach dem Muster „Das sind eben Neonazis“, die könnten quasi nicht anders, zu leicht zu machen. Das helfe in der Auseinandersetzung mit den Ängsten der Menschen – der eigentlichen Ursache ihrer fremdenfeindlichen Einstellung – nicht weiter. Sie mit dem Vorwurf des Rassismus unter Druck zu setzen, dränge sie in die Defensive. Sie würden sich daraufhin in ihrer Haltung noch mehr verschanzen. Heitmeyers Forderung daher: Die Veränderung der Lebensverhältnisse müsse dem Versuch, die Lebenseinstellungen zu ändern, vorausgehen. Das gelte besonders für Jugendliche.
Was folgte, waren die üblichen Verdächtigungen, von links bis rechts: Zu viel Verständnis für die Täter, Überbewertung der gesellschaftlichen Ursachen. Den einen zu wenig Empörung, den anderen zu viel Gesellschaftskritik. Und natürlich kollidierte mit dem Kanzler-Versprechen „blühender Landschaften“ und dem „Alles- wird-gut“-Mantra der sonst spurenlos wirkenden Jugendministerin Angela Merkel die Prophezeiung aus Bielefeld: „In Zukunft werden sich auch in Ostdeutschland‚modernisierte‘ Formen des Rechtsextremismus stärker bemerkbar machen.“
Andererseits, in den neunziger Jahren gab es auch die Jugend- und Gewaltproblematik der Migranten, sprich: der Türken. Die Bielefelder These dazu: Je weniger die jungen Türken in die deutsche Gesellschaft – Staat und Zivilgesellschaft – integriert seien, desto größer würde ihre innere Distanz sein, desto eher seien sie geneigt, sich ins Migrantenmilieu zurückzuziehen und dort die Anerkennung zu suchen, die ihnen die deutsche Gesellschaft verweigere. Heitmeyer & Co hatten diesen Prozess über einen Zeitraum von sieben Jahren untersucht, 1997 erschien schließlich der spannende Bericht über die Lebenswirklichkeit junger Türken unter dem Titel„Verlockender Fundamentalismus“. Danach war der Teufel los.
„Das war schon eine bittere Erfahrung“, erinnert sich Heitmeyer. Die „politisch korrekte“ multikulturelle Szene fiel über die Autoren her, als wären sie die neuen Vorreiter einer Hetze gegen „die Ausländer“ und „die Türken“. Islamfeindliche Diffamierung und Rassismus waren die mildesten Vorwürfe, erinnert sich Heitmeyer. Vor allem von deutschen Anwälten und Vertrauensleuten der Zuwanderer, namentlich aus der evangelischen Kirche, aus der Linken und aus dem Lager der akademischen Migrationsforscher, kamen die Vorwürfe. „Heute, wo wir die Islamfeindlichkeit in der Bevölkerung untersuchen, hat sich das gedreht.“ Jetzt sind die „politisch Inkorrekten“, die sendungsbewussten Retter des Abendlands hinter den Bielefeldern und deren Leitwolf her. Viel Feind, viel Ehr? Ach was! „Das brauch ich nicht.“
Die etablierte Politik wiederum ist insgesamt schwer für wissenschaftliche Ratschläge zu erwärmen. Da unterscheiden sich die Traditionsparteien nicht sehr voneinander. Wo ein Vorschlag nicht einfach in die Praxis umzusetzen ist, nimmt das Interesse schnell ab. Beliebt ist das, was Heitmeyer „Feuerwehrforschung“ nennt: Etwas passiert, die Wissenschaft wird gerufen, die Ursachen zu erforschen und Empfehlungen abzuliefern. Geld gibt es für diese eine Untersuchung, danach ist Schluss. „Das ist eine folgenlose Aufregung, die bringt nichts.“ Deshalb hat Heitmeyer irgendwann erklärt, sein Institut stünde für solche Einsätze nicht mehr zur Verfügung, die gründliche Forschung habe Vorrang. Und so entstand das Projekt, das im Grunde die programmatische Grundlage für Heitmeyers Lebenswerk darstellt, der Doppelband über die Ursachen von sozialer Desintegration und die Wege zur sozialen Integration: „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ und „Was treibt die Gesellschaft auseinander?“ – ein Standardwerk in zwei Bänden, in erster Auflage erschienen 1997, die intellektuelle Vorlage zu den aktuellen Büchern, Konferenzen und Internetaktionen zum Thema „Wie wollen wir leben?“
Desintegration und Integration: die Schlüsselthemen, um die sich alles dreht. Gesellschaftliche Kernfragen, die nicht darauf reduzierbar sind, wie man die Migranten zu verfassungstreuen Mitbürgern macht. Was die Gesellschaft spaltet – Ungerechtigkeit, Misstrauen und Angst – und was sie zusammenhält – Gerechtigkeit, Vertrauen und Anerkennung –, ist das Zukunftsthema schlechthin. Für Heitmeyer entscheidet sich hier, ob die moderne Gesellschaft
• insgesamt die Perspektive eines sich ausbreitenden „autoritären Kapitalismus“ und die fortschreitende „Demokratieentleerung“ vermeiden kann,
• den „schleichenden Prozess“ der Entsolidarisierung und Ökonomisierung der Lebensverhältnisse zu stoppen und
• ihre „gewaltförmige Desintegration“ zu verhindern vermag.
Ein zentraler Begriff der Heitmeyer- Schule, in der auf pointierte Begrifflichkeit großer Wert gelegt wird, ist die sprachlich etwas sperrige „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, inzwischen auch intern mit dem Kürzel GMF versehen. Darin wird alles zusammengeführt, was an menschenfeindlichen Einstellungen gegen die Demokratie, eine rechtsstaatliche Verfassung und eine solidarische Gesellschaft gerichtet ist. GMF ist die begriffliche Basis für das jüngste Produkt aus Bielefeld, die zehnbändige Suhrkamp-Reihe mit dem lakonischen Titel: „Deutsche Zustände“.
Besser, dramatischer und leider auch beklemmender ist keine Untersuchung der deutschen Gesellschaft ausgefallen, die in letzter Zeit erschienen ist. Die Mischung aus repräsentativen jährlichen Umfragen, aktuellen Reportagen und Interviews mit Zeitzeugen des Ringens um eine bessere Demokratie ist ungewöhnlich informativ. Die Bände umfassen das ganze Jahrzehnt seit dem 11. September, eine Dekade, die die Autoren „das entsicherte Jahrzehnt“ nennen. Es ist das Jahrzehnt, in dem es bergab ging mit Solidarität, Menschenrechten und Demokratie.
Für diesen Verlust an demokratischer Substanz haben die Bielefelder Begriffspaten ebenfalls einen neuen Terminus aus der Taufe gehoben: „rohe Bürgerlichkeit“. Das steht für den neuen asozialen Trend, der sonst unter dem scheinneutralen Titel Individualisierung läuft: Die Starken verteidigen sich gegen die Schwachen und grenzen sie zugleich aus, zusammen mit allen, die unerwünscht sind, wie Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Hartz-IV-Bezieher, Asylbewerber, Ein-Euro-Jobber. Symptome einer Spaltung.
Währenddessen schreitet an den sozialen Brennpunkten der Gesellschaft die Entleerung der Demokratie fort. Die „Postdemokratie“ entwickelt sich ungebremst weiter. Und die Gesellschaft gewöhnt sich daran. „Schlimm ist es, wenn es normal wird“, sagt Heitmeyer, und an vielen Orten wird das Schlimme normal. Dort, wo die Existenz des Rechtsextremismus und dessen „kulturelle Hegemonie“ im Sinne Gramscis so selbstverständlich geworden sind, dass sie kaum noch auffallen. Das Grauen bleibt direkt unter der Oberfläche.
Einer der Mitarbeiter des Bielefelder Projekts, der Berliner Politologe Dierk Borstel, beschreibt im Band 10 der „Deutschen Zustände“ diesen Normalzustand anhand der modellhaften Vorzeigeregionen der neuen Neonazi-light-Normalität: Ostvorpommern und die Sächsische Schweiz. Beide Landstriche „genießen im europäischen Rechtsextremismus einen hervorragenden Ruf“. Sie gälten als „gelungene Beispiele einer rechtsextremen Verankerung in der Mitte der örtlichen Gesellschaften“. Demokraten im westlichen Sinn gäb’s da kaum noch, weiß Borstel. Die wenigen, die geblieben sind, halten still. „Die Angst hat viele Engagierte ausgelaugt. Es hat sich eine neue Angstkultur etabliert.“
Äußerlich ist die Lage vergleichsweise entspannt. Die Extremisten bestimmen die Spielregeln, wer sich daran hält und nicht als Randgruppe, vor allem nicht durch die Hautfarbe auffällt, hat nichts zu befürchten. Hier ist keine offene Gewaltszene, die Gewalt ist nicht Teil des Alltags, wie in dem beklemmend aktuellen Spielfilm „Kriegerin“, der im Skinhead-Milieu angesiedelt ist, wo gesoffen und geprügelt wird, was das Zeug hält. Anklam, das braune Nest, ist anders. „In Ostvorpommern sind Neonazis die netten Jungs von nebenban“, schreibt die Berliner Journalistin Astrid Geisler. In ihrem Buch „Heile Welten. Rechter Alltag in Deutschland“ beschreibt sie den alltäglichen Extremismus unserer rassistischen, nazistischen „Mitbürger“ und zieht am Ende das Fazit: Gegendie Vormachtstellung der unauffälligen Rechtsextremisten gebe es wenig Chancen. Wo Demokraten fehlen, helfen Demokratieprogramme wenig.
Ist das die Zukunft? Funktionierende Postdemokratie im Großen, kleine unverhohlen extremistische Taschen am Rande der Republik oder in einzelnen urbanen Vierteln auch im Westen, in Dortmund beispielsweise, und da und dort in ländlichen Idyllen Westdeutschlands, im grünbraunen Bio-Selbstversorger-Milieu. Und irgendwo dazwischen die Schlupflöcher für Terroristen, die von ihrer Umwelt ignoriert oder geduldet oder unterstützt werden. Die von da aus gezielt zuschlagen können und darauf vertrauen, dass eines Tages der große Knall kommt, alles zusammenbricht und dann Ostvorpommern überall ist?
Einer der nichtamtlichen Experten, der heute zumindest in den Medien befragt wird, wenn es um den rechten Terror geht, ist Bernd Wagner, 57, Ex-DDR-Polizist und nach der Wende Staatsschützer in Ostdeutschland. Heute ist er unter anderem ein wichtiger Berater von Exit, der Hilfsorganisation für aussteigewillige Neonazis.
Neulich sagte er in einem Interview mit Spiegel-online auf die Frage, ob die deutschen Behörden den Rechtsterrorismus unterschätzt und darauf vertraut hätten, das Problem werde sich auswachsen: „Das war vollkommen naiv. Aber dieses Denken entsprang der Ignoranz der Behörden. Die hatten keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun hatten.“ Als er nach der Wende davor gewarnt hätte, dass im Osten radikalisierte Gruppen aufrüsteten, ideologisch und materiell, habe man ihm nicht geglaubt. Auch im Westen nicht. „Ich kann mich noch gut an meine erste Sitzung beim Bundeskriminalamt in Meckenheim erinnern, kurz nach der Wende. Ich habe meine Sicht auf die rechtsradikale Szene in Ostdeutschland geschildert. Und meine Zuhörer haben mich alle mit großen Augen angeguckt und mir dann vehement widersprochen.“
Mehr als 20 Jahre ist das her. Zehn Jahre später begann die Mordtour des Zwickauer Nazi-Trios. Zeit genug dazuzulernen.
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