- Mythos Mitte oder der politische Tanz um das Nichts
Wenn die Wahlen wieder näher rücken und die Parteien sich für den Kampf um die Wechselwähler rüsten, dann ist bei Politikern vor allem ein Wort in aller Munde. Ein Wort, das zugleich die politische Überzeugung, Positionsbestimmung und Strategie auf den Punkt bringen soll: die Mitte.
„In der Mitte sind wir“, verkündet die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel, auch der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel will Politik „für die Mehrheit und die Mitte“ machen und glaubt so, die nächste Bundestagswahl gewinnen zu können. Die Grünen erklären mittlerweile selbstbewusst, „wir sind in der politischen Mitte angekommen“ und sie träumen im Vielparteiensystem von der machtpolitischen Schlüsselrolle einer Scharnierpartei, die nach links und rechts gleichermaßen koalitionsfähig ist. Die Zahl der FDP-Anhänger tendiert zwar mittlerweile gegen Null, trotzdem sind die Liberalen natürlich bei dem politischen Veitstanz um die Mitte dabei. Durch diese verläuft nach Überzeugung von FDP-Chef Philipp Rösler die „Grundachse“ seiner Partei. [gallery:Szenen einer Ehe – Bilder aus dem schwarz-gelben Fotoalbum]
In der politischen Mitte drängen sich also die Machtstrategen und die Marketingexperten der Parteien. Dort wird um politischen Einfluss, strategische Vorteile und um die kulturelle Hegemonie gerungen. Wahlen werden in der Mitte entschieden, davon sind die Mittefetischisten überzeugt. Legendär ist mittlerweile jene „Neue Mitte“, die einst Gerhard Schröder erfand, um die selbst ernannte christlich-liberale „Koalition der Mitte“ nach 16 Jahren und vier vergeblichen Anläufen erfolgreich von der Macht zu verdrängen.
Die Mitte ist überall. Dabei ist sie ein Mythos. Und schaut man genau hin, bleibt von ihr in der postmodernen Parteiendemokratie mit den erodierten Parteienbindungen, den vielen Wechselwählern und den fragmentierten gesellschaftlichen Interessen nur eine aufgeblasene Leere. Mit der Beschwörung der Mitte durch die Parteien versuchen die Politiker, den Wählern in einer Zeit schneller politischer und gesellschaftlicher Veränderungen die Angst zu nehmen. So wird die Mitte zum Sehnsuchtsort für Stabilität und Kontinuität.
Bis dahin war es ein weiter Weg. Seit der Französischen Revolution sind links und rechts als politische Positionsbestimmungen für Parteien bekannt, den Raum dazwischen entdeckten im 19. Jahrhundert jene Politiker, die gesellschaftlichen Utopien und radikalen politischen Forderungen eine Absage erteilten. Nach dem Trauma des Scheiterns der Weimarer Republik und dem Ende der NS-Herrschaft wurde für die deutschen Parteien die politische Mitte schließlich ein Fixpunkt gegen die Angst vor den politischen Extremen und zugleich ein Plädoyer für eine Politik des sozialen und gesellschaftlichen Ausgleichs. Der Mythos Mitte bildete somit das Fundament für den dualen Erfolg der beiden Volksparteien CDU und SPD.
Doch nach dem stillen Tod der Volksparteien kann die Beschwörung der politischen Mitte die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Politiker jedweder Couleur kaum noch kaschieren. Agenda 2010 und Energiewende, Afghanistankrieg und Abschaffung der Wehrpflicht, Internet und Einwanderung, Euro-Einführung und Euro-Krise – die Liste der grundlegenden Veränderungen in den politischen Koordinaten der Mitte-Parteien ist lang und sie zeigt, wie sehr die Beschwörung der politischen Mitte nur noch ein Reflex ist.
Seite 2: Stimmt es überhaupt noch, dass die Wahlen in der Mitte entschieden werden?
Natürlich kommen die Parteien der Mitte damit den Beharrungskräften in der Gesellschaft entgegen, jenen Wählern also, die sich gegen gesellschaftliche Veränderungen sperren, die von der Angst vor dem sozialen Abstieg, der Angst vor Überfremdung oder der Angst vor der Globalisierung getrieben werden. Zudem nährt der Mythos Mitte die Illusion, gesellschaftliche Veränderungen würden sich umsetzen lassen, ohne dass es dafür einen politischen Preis zu zahlen gilt.
Aber stimmt es noch, dass die Wahlen in der Mitte entschieden werden? Einerseits scheint es so, schließlich fühlt sich auch die Mehrzahl der Wähler der gesellschaftlichen Mitte zugehörig. Doch wenn sich andererseits fast alle Parteien dort tummeln, dann reicht das Bekenntnis zur Mitte längst nicht mehr, um Wahlen für sich zu entscheiden.
Hinzu kommt: Erstens gibt es die Mitte nur dann, wenn es auch Ränder gibt. Deshalb können die Parteien nur dann erfolgreich ihre Mitte beschwören, wenn sie in den eigenen Reihen auch Raum für linke beziehungsweise rechte Positionen lassen.
Zweitens hat sich der Begriff der politischen Mitte in den letzten Jahren als so flexibel erwiesen, dass sich mit ihm so unterschiedliche Projekte wie die Einführung von Hartz IV, die Abschaltung der Atomkraftwerke und die Abschaffung der Hauptschule sowie Milliardenprivilegien für Hoteliers, die Solarenergiebranche oder Bauern begründen ließen. Als politischer Ort lässt sich die Mitte also nur im Wechselspiel von kontroversen parteipolitischen Debatten und widerstrebenden gesellschaftlichen Interessen definieren.
Drittens gibt es in Deutschland mittlerweile mehr Wechselwähler als Stammwähler und die Gründe für die Wahlentscheidung sind mittlerweile so heterogen wie die Interessen. In der Gesellschaft stehen sich nicht mehr Großgruppen, sondern heterogene und individualisierte Lebenslagen gegenüber. Und nicht mehr die Partei gewinnt die meisten Wähler, die am kunstvollsten den rasenden Stillstand der Mitte beschwört, sondern die am erfolgreichsten Partikularinteressen addiert.
Die politische Mitte ist also eine Leerformel geworden, mit der sich vielleicht noch die verunsicherten Stammwähler der Parteien beruhigen lassen. Doch eine erfolgreiche politische Strategie wird daraus nicht. Und so gleicht der Mythos Mitte, den CDU, CSU und SPD, Grüne und FDP gemeinsam nähren, einem aufgeregten politischen Tanz um Nichts.
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