- „Ohne die Tafel würde es zum Leben nicht reichen“
Immer mehr Menschen sind trotz Rente, Sozialbezügen oder sogar einer Arbeit auf das Angebot der Tafel angewiesen. Cicero Online blickt hinter die Kulissen einer „Laib-und-Seele“-Ausgabestelle in Berlin
Das Stadtbild der Berliner Landsberger Allee ist geprägt von DDR-Blockbauten und Discountern. Der deutschlandweite Sturm „Ulli“ wütet, trotzdem hat sich vor der Evangelischen Advents-Zachäus-Kirchengemeinde am Prenzlauer Berg eine Menschentraube angesammelt. Sie tragen Plastik-, Müll oder Stofftüten, denn hier ist eine Ausgabestelle der Berliner Tafel.
Auch Hertha Kulansky*, 68 Jahre, wartet geduldig. Die Rentnerin ist hier Dauergast. Weil ihr Mann nicht mehr laufen kann und hier nicht freiwillig auftauchen würde, erledigt Hertha Kulansky den Job für beide. Die Renten allein decken ihre bescheidenen Lebenskosten schon lange nicht mehr. „Ohne die Beihilfe der Tafel würden unsere Mittel von hinten bis vorne zum Leben nicht reichen“, erzählt sie. Dabei hat die ehemalige Weberin ihr Leben lang gearbeitet. Sie ist körperlich angeschlagen, hat Diabetes und ist fast blind, weshalb sie ein Blindenabzeichen auf der Handtasche trägt.
Ebenso mit dabei ist Kulanskys Sohn Peter*, 44 Jahre, er kommt seit einem Jahr, jeden Mittwochmorgen. Er ist arbeitslos und lebt von Hartz IV. Kaum ein anderer Verein eignet sich mehr als Indikator für Armut in Deutschland wie die Tafel. An 365 Tagen im Jahr versorgen die Tafeln 1,3 Millionen Bedürftige. In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl damit fast verdoppelt. Knapp ein Drittel der Tafelkunden sind Kinder und Jugendliche.
Zugleich ist die Einkommenskluft in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich stärker gewachsen als in den meisten anderen Industrienationen, wie eine im Dezember 2011 vorgelegte Studie der Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) zeigt. Mit durchschnittlich 57.300 Euro inklusive aller Einkünfte verdienten die obersten zehn Prozent der deutschen Einkommensbezieher im Jahr 2008 etwa achtmal so viel wie die untersten zehn Prozent (7400 Euro). In den 90ern lag das Verhältnis noch bei 6 zu 1, der aktuelle OECD-Durchschnitt ist nun auf 9 zu 1 gerückt. Außerdem gibt es eine wachsende Anzahl an Alleinerzieher- und Single-Haushalten mit entsprechend niedrigem Einkommen. Ebenso verweisen die neuen Zahlen der statistischen Behörde Eurostat darauf, dass in Deutschland so viele Erwerbslose wie in keinem anderen europäischen Land von Armut bedroht sind. Als solcher gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren nationalen Einkommens verfügt – das sind für einen Singlehaushalt 940, für eine vierköpfige Familie knapp 1.970 Euro.
Warum der Tafelgedanke Gemeinschaft und Interesse an der Gesellschaft stiftet, erfahren Sie auf der nächsten Seite
Zur Tafel kommen vereinzelt auch Menschen mittleren Alters und alleinerziehende Mütter wie Miriam Dirkes*, die nach Kulansky an der Reihe ist. „Ich komme seit Oktober. Ich habe nicht vor, lange davon abhängig zu sein und hoffe bald zu Bewerbungsgesprächen eingeladen zu werden.“ Die 29-jährige Sozialarbeiterin und Mutter hat nach über 50 Bewerbungen noch immer keinen Job gefunden. Sie lebt von Hartz IV und Kindergeld. Abzüglich ihrer Fixkosten muss sie von 80 Euro im Monat für ihren gesamten Lebensunterhalt auskommen. Ihr ehemaliger Freund, mit dem sie sich das Sorgerecht teilt, ist zur Zeit auch arbeitslos, deswegen bleibt der Unterhalt zur Zeit für sie aus. Dirkes und ihr vierjähriger Sohn ernähren sich vegetarisch. Sogar der Hund ist zum Bananenesser geworden.
Vielleicht bietet deswegen die Berliner Tafel mittlerweile flächendeckend 44 Laib-und-Seele-Ausgabestellen an. Hertha Kulansky hat eine Essensmarke und bezahlt einen symbolischen Euro für die Lebensmittel. Sie bekommt als eine der ersten, auf Nachfrage, einen Blumenstrauß mit nach Hause.
„Der Tafelgedanke stiftet Gemeinschaft und Interesse an Gesellschaft. Wir nehmen das Essen da weg, wo es zu viel ist und geben es dorthin, wo es gebraucht wird“, erklärt die ehrenamtliche Vorsitzende der Berliner Tafel, Sabine Werth, das Tafelkonzept und erinnert damit an das Robin-Hood-Prinzip. Sie sagt, viele Ehrenamtliche helfen, weil sie meinen, „das Leben“ habe es gut mit ihnen gemeint und sie wollen der Gesellschaft etwas zurückgeben. Andere helfen, weil sie meinen, „das Leben“ hat es weniger gut mit ihnen gemeint, aber sie wollen der Gesellschaft zeigen, dass sie dazugehören. „Wir müssen uns wieder mehr Zeit nehmen für wichtige Entscheidungen, für andere Menschen und für schiefe gesellschaftliche Rahmenbedingungen, um etwas in der Gesellschaft zu bewegen“ appelliert Werth.
Es ist kurz nach zwölf und die Menschentraube hat sich nach einer guten Stunde aufgelöst. Der Essensvorrat hat für alle Bedürftige gereicht. Was übrig bleibt, wird an einen Tierhof in der Nähe oder in den Gemeindeflur für weitere Bedürftige, die nicht kommen konnten, zur Verfügung gestellt. Sturm „Ulli“ wütet immer noch ungemütlich und weht Kulansky und ihrem Sohn die Haare durcheinander. „Heute koche ich etwas Gesundes, mein Mann wird sich freuen“, sagt sie zufrieden. Und dann läuft sie am Gehstock mit ihrem Sohn und den prall gefühlten Plastiktüten auf ihrem Wagen davon.
*Namen von der Redaktion geändert
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