- «banane ist Hase, ich weiß von nutz»
Alles nur cooler Ästhetizismus? Eine Querfeldeinfahrt durchs vielgestaltige Gelände der Gegenwartslyrik: Von der «Vershohnepipelung» bis zu Orten einer Sehnsuchtsreise
Lyriker, hat Gottfried Benn einmal behauptet, sind «Sonderlinge, Einzimmerbewohner, sie geben die Existenz auf, um zu existieren». Diese soziologische Bobachtung von 1951 hält einem aktuellen empirischen Crashtest nicht mehr stand. Der alte heroische Mythos vom vereinzelten, isolierten Dichtergenie hat sich im digitalen Zeitalter verflüchtigt. Die Lyriker unserer Tage sind keine rückzugsbedürftigen Einzelgänger mehr, sondern höchst gesellige Wesen und allseits informierte Netzwerker. In ihren communities und Online-Foren, die www.forum-der-13.de oder www.der-goldene-fisch.de heißen, sind sie ubiquitär erreichbar und jederzeit auf der Pirsch, um das nächste Stipendium einzuheimsen oder auf das immer schneller sich drehende Karussell der Poesiefestivals aufzuspringen. Zu den Evergreens jeder Lyrik-Debatte gehört zwar immer noch die Klage über die Marginalisierung der Gattung und die verschwindend geringen Auflagen der Gedichtbände, deren Verkaufszahlen in der Regel weit unterhalb der «Enzensbergerschen Konstante» von 1354 Lesern liegen. Aber in einem erstaunlichen Gegensatz zur mangelnden Kaufbereitschaft des Publikums steht der anhaltende Boom sich stetig vermehrender Poesiefestivals und Lyrik-Events, die mittlerweile auch in den abgelegensten deutschen Provinzen die Herzen der Kulturamtsleiter höher schlagen lassen.
Das deutsche Gedicht des 21. Jahrhunderts, so scheint es, ist ein flexibler, sozialverträglicher Textkörper, der kulturell vielseitig einsetzbar ist. So ist der jüngste Versuch einer Wiederbelebung des politischen Gedichts, wie ihn die literarisch bislang reichlich verschnarchte Wochenzeitung «Die Zeit» für sich reklamierte, nur als eine harmlose Werbeveranstaltung zur Aufpolierung des eigenen publizistischen Images zu bewerten. Das Gedicht der Gegenwart sucht eben nicht mehr den direkten Weg «ins Handgemenge» (Jürgen Theobaldy), begreift sich nicht mehr als Verstärkung gesellschaftlicher Aufbruchssignale, wie das vor dreißig Jahren den politisch motivierten AlltagsLyrikern der «Neuen Subjektivität» vorschwebte, sondern es bewegt sich in einem separaten Raum des artistischen Experiments, der aber nur der kleinen exklusiven community zugänglich ist.
Es gibt innerhalb der kleinen Dichter-Zunft durchaus ein Unbehagen an dieser Selbstreferentialität der lyrischen Aktivitäten, ein Leiden an der Abgeschlossenheit der Dichterzirkel. In einer kleinen Notiz zu seiner «confessional poetry», nachzulesen im aktuellen «Jahrbuch der Lyrik 2011», dem stets verlässlichen Seismografen für lyrische Trends, stellt André Rudolph die entscheidende Frage an die Konzepte seiner Kollegen: «was mir immer wieder bauchschmerzen bereitet, ist der ästhetizistische konsens meiner generation. soll es das schon gewesen sein? was ist mit den drängenden notzuständen der seele, terrorisiert vom gedicht?» Ja, soll es das schon gewesen sein? Gibt es keine verstörenden Erschütterungen des Humanum mehr, keine drängenden Existenz-Fragen, an die sich ein zeitgenössisches Gedicht herantraut? Soll die moderne Poesie des 21. Jahrhunderts auslaufen in resignierenden Sentenzen, wie sie der 1979 geborene Alexander Gumz in kritischer Absicht in eins seiner Gedichte integriert hat? Da heißt es: «das ist unsere zukunft: ein remix aus versprechen, die keiner hält (…) / dankeschön, dass die archive schrumpfen, dass das wissen / über uns verschwindet.» Hier markiert der Autor die postmoderne Perspektive, die glaubt, in einer nach-geschichtlichen Situation gelandet zu sein, in der nur noch Zitate verwaltet werden.
Gegen solche Anwandlungen setzt der 1970 geborene Tom Schulz, einer der wenigen zeitgenössischen Aktivisten des politischen Gedichts, seine pointierte Gegenrede. Die Kunstübungen seiner Kollegen, so erklärt er im «Poetenladen», dem lebendigsten und substantiellsten Literaturportal der Gegenwart, seien «ohne die Idee einer wahrhaft humanen Kondition». Und weiter: «Empfinden äußert sich vornehmlich in Ironie und Kühle; eine ethische, moralische oder politische Haltung gilt als verpönt. Anstelle einer rettenden Schönheit hat sich eine Form von coolem Ästhetizismus entwickelt wie ein Wurmfortsatz.» Auch Tom Schulz erhebt also – wie der preisgekrönte André Rudolph – den Vorwurf des Ästhetizismus gegen die Lyrikerkollegen, freilich ohne Namen zu nennen. Was ihre Attacken eigentümlich zahnlos wirken lässt. Es wäre wohl auch als ein Verstoß gegen die ungeschriebenen Gesetze der Lyrik-community gewertet worden, wenn sich die beiden Polemiker der Mühe einer namentlich adressierten Textkritik unterzogen hätten.
Das Verdikt gegen den Ästhetizismus liest sich fast wie ein Misstrauensvotum gegen den ambitioniertesten Lyrik-Verlag der vergangenen Jahre, den Berliner «Kookbooks»-Verlag, in dem die Gedichtbände der quecksilbrigen Monika Rinck («Helle Verwirrung») und Uljana Wolf («falsche freunde») erschienen sind. «Gedichte sind das Sagen, das ich nicht habe. / Gedichte sind die Habe, die ich nicht sage. / Gedichte sind Sagen, wenn ich es nicht habe, das Gedicht.» So formulierte einst Uljana Wolf in einem schönen Paradoxon die Bezüglichkeiten, in die sich ihre Art von Dichtung verstrickt: Es ist die Sprache selbst, ihr semantisches und lautliches Oszillieren zwischen den unterschiedlichsten Klang- und Bedeutungs-Räumen, die zur primären Passion der «Kookbooks»-Autoren geworden ist.
Um die Entdeckung und Entfaltung solcher Poetiken der Sprachartistik bemühen sich neben «Kookbooks» vor allem zwei konzeptionell arbeitende Lyrik-Verlage: die «Roughbooks»-Reihe des fast nur noch im Internet-Direktvertrieb tätigen Schweizers Urs Engeler und – am wirkungsmächtigsten – der Wiesbadener «Luxbooks»-Verlag, der zuletzt unter dem sprechenden Titel «Freie Radikale» eine Anthologie mit wilden experimentellen Poeten publiziert hat, in der sich dreizehn junge Autoren in heftigster Sprachzerlegungsakrobatik gegenseitig überbieten.
Unter den «Roughbooks» tummelt sich ein ebenso sprachverrückter junger Autor, der aus dem Saarland stammende Wahl-Berliner Konstantin Ames, der in der Nachfolge des 2005 verstorbenen Thomas Kling ungestüme Dekonstruktionsarbeiten an unserer grammatischen Ordnung verrichtet. Was Ames in einem Essay einmal als «Vershohnepipelung» und «forcierte Flapsigkeit» bezeichnet hat, wird in seinem Band «Alsohäute» mit Feuereifer zelebriert: eine zwischen Alltagswitz, Kalauer, hohem Ton und Sprachresteverwertung balancierende Wortakrobatik, die ihren Sprachstoff unablässig grammatischen Zerreißproben unterzieht. Es geht hier nicht mehr um die Evokation von Befindlichkeiten oder gar um Bekenntnisse eines lyrischen Ich, sondern um die Produktion sich permanent generierender Sprach-Turbulenz. Der Autor ist souverän genug, diese Sprachanstrengung nicht als avantgardistisches Dogma hinauszuposaunen, sondern das gelegentlich Hyperaktive seines Verfahrens selbstironisch zu kennzeichnen: nämlich als Methode eines Vortragskünstlers, «der mit seinen mitunter experimentell lautmalerischen Fersen nur rumstampfte wie ein weinroter Elefant auf der Trommel». Seine fröhliche Wissenschaft der Dichtkunst kommentiert Ames mit gewitzten Fußnoten und «tranchierten Poenten»: «banane ist hase, ich weiß von nutz.»
Ist also der Verdacht gegen eine in der Gegenwartslyrik virulente Koketterie mit dem Ästhetizismus berechtigt? Er wäre es nur dann, wenn sich die jungen Helden der kompromisslosen Sprachartistik in experimentalistischem Hochmut von jeder Wirklichkeitssuche abkoppelten. Das indes kann man nur von wenigen Epigonen einer falsch verstandenen Avantgarde behaupten.
Es gibt neben den Autoren, die eine gewisse Leidenschaft für das Nomadisieren zwischen den Sprachen und Bedeutungen entwickelt haben, auch noch genügend Begabungen, die sich an Topoi und Topografien, Mythen und Metaphoriken althergebrachter Dichtkunst gebunden fühlen. Als im vergangenen Herbst der Berliner Jan Wagner seinen meisterhaften Band «Australien» vorlegte, reagierten viele Kritiker mit signifikantem Flachsinn. Wagners Band wurde als Kollektion touristisch inspirierter Reisegedichte missverstanden und die existentielle Ausdruckskraft seiner Gedichte schlicht übersehen. «Fortschritt ist das, was man aus dem Rückgriff macht», hat Wagner einmal im Blick auf die von ihm geliebten klassischen und romantischen Formen notiert. Die «Australien»-Gedichte erreichen nun eine sinnliche Direktheit und Plastizität, die frei ist von jeder kommentierenden Überformung. Es handelt sich um eine bildstarke und zugleich formsichere Poesie einer phantastischen Welteroberung und Landschaftsaneignung.
Im Bücherfrühling 2011 sind es nun drei junge Lyrikerinnen, die Marksteine für ein avanciertes poetisches Sprechen setzen – wobei gleich eine Gemeinsamkeit ins Auge fällt. Alle drei Autorinnen versuchen ihre Weltaneignungen in je eigener Weise zu topografieren, ein poetisches Koordinatensystem zu entwerfen, das an sehr konkrete Orte und Landschaften gebunden ist. Nora Bossong betritt das heilsgeschichtliche Gelände der römischen Christenheit, Judith Zander erkundet in sprach- und kulturarchäologischer Feldarbeit den deutschen Nordosten, Ulrike Almut Sandig bahnt sich in einer nomadisierenden Bewegung den Weg durchs «Dickicht» zur imaginären «Mitte der Welt».
In Judith Zanders Gedichtbuch ist die geografische Selbstverortung bereits im Titel deutlich markiert: In «oder tau» kann man das Wort «oder» als Konjunktion lesen, aber bei der Lektüre der Gedichte wird rasch klar, dass es hier nicht um die grammatische Funktion, sondern um die Evokation einer östlichen Flusslandschaft geht. In Zanders Gedichten sind Sprachbilder und Landschafts-Topoi kaleidoskopisch ineinander verfugt, eine intensive Spurensicherung in Traditionen und Lebensgeschichten: «vermessene / sind wir zu nennen und schwänzer / lichtkeimer an und für sich kultur / follower von spuren strukturen / in einem acte de volonté / verlaufene sind / wir auftrag und grund …»
Die Sehnsuchtsreisenden in Ulrike Almut Sandigs Gedichten muss man sich als glückliche Menschen vorstellen. Die «Mitte der Welt», zu der sie aufgebrochen sind, ist zwar unerreichbar. Was ihnen aber bleibt, ist das endlose Nomadisieren, das sie aus allen Bedrückungen herausführt ins Offene. Zur Antriebskraft dieser Reisenden wird das ständige Unterwegssein, das Eintreten in einen Transitraum, in dem sich die Identität des Ich auflösen kann. Die Kompassnadel dieser Gedichte zeigt nach Norden, auch wenn diese Himmelsrichtung verdunkelt scheint von Erfahrungen des Abschieds und der Trennung.
Sandig hat für die Topografierung ihrer Reisen einen ganz eigenen Ton gefunden, der
zwischen Kinderlied, romantischer Märchenmelodie und zarter Phantastik changiert. Hier ist es wieder zu hören, das trancehafte Murmeln, somnambule Flüstern und traumversunkene Beiseite-Sprechen, das bereits ihren Band «Streumen» (2007) kennzeichnete. Eine große Suggestivität erreicht diese Art des lyrischen Sprechens immer dann, wenn im Naturschönen plötzlich ein Moment der Bedrohung aufblitzt: «täglich schiebt sich der Norden (Äquator) näher heran. / in der Luft liegen Falken und spähen im Halbschlaf / nach Schatten, nach Tauben, Leichtmetall, Glück. // unter den Böen knacken die ältesten Türme, jüngere / schwanken fast nicht berechenbar: grashaft. gezielt.» Erst wenn auf diese Weise die Idylle ins Wackeln gerät und der Leser den Boden unter den Füßen verliert, entsteht poetische Intensität.
Nora Bossong bewegt sich im stärksten Gedichtband dieses Bücherfrühlings durch mythisches Gelände: durch ein «Arkadien» und eine «Dantegegend», die religionsgeschichtlich aufgeladen sind, ohne dass in den Gedichten irgendein Pathos bemüht wird. Es sind Gedichte, die sorgsam das Terrain katholischer Heilsgeschichte
erkunden, wobei die Aura des Religiösen auf das hellwache säkulare Bewusstsein der Dichterin trifft. «Große Exerzitien» werden von ihr in kleine Alltagsszenen und Rätselbilder gefasst und nahezu mühelos in schwebende Konstellationen verwandelt. Die Geschichte des Papsttums wird nicht anhand von Legenden oder Wundergeschichten aufgerufen, sondern nur in beiläufig wirkenden Episoden, in denen der Mythos profaniert wird. Die 1982 geborene Autorin bevorzugt erzählende Gedichte, die den narrativen Gestus sparsam gebrauchen, im Modus der Andeutung bleiben und damit das Geheimnis der einzelnen Szenen bewahren. Es ist großartig, wie subtil und unaufdringlich Bossong religiöse Ikonografien in die Wahrnehmung eines Nachmittags oder eine unspektakuläre Alltagsszene einwebt. Diese Gedichte, die im Gestus der Verhaltenheit daherkommen, erreichen eine Luzidität, die man in der Gegenwartslyrik selten antrifft: poetische Illuminationen, die sich den Respekt vor den religiösen Mythen bewahren und uns zugleich einen freien Blick auf ein ideologisch vermintes Gelände ermöglichen: «Ich gehe durch den Garten / zu den Fröschen, ein Zirpen / zoologische Verwirrung, /am Hangweg zittert Bambus / wieder und da: wieder, mein Jesuit / der auf die achte Plage lauert. / Ich pack den Teich am Schilf / ein Wasserläufer leuchtet auf / verludert, das Jesuitenlachen / klingt durchs Unterholz und nichts / steht fest an diesem Tag, nichts liegt / flach und leblos in meiner Hand.» Solange solche Gedichte geschrieben werden, braucht man die Frage nach einem blutleeren Ästhetizismus in der Lyrik nicht mehr zu stellen.
Michael Braun ist Kritiker, Essayist und Herausgeber und lebt in Heidelberg
Jahrbuch der Lyrik 2011
Hrsg. v. Christoph Buchwald und Kathrin Schmidt
DVA, München 2011. 272 S., 19,99 €
Jan Wagner
Australien
Berlin Verlag, Berlin 2010. 110 S., 18 €
Judith Zander
oder tau
DTV, München 2011. 96 S., 11,90 €
Ulrike Almut Sandig
Dickicht
Schöffling & Co, Frankfurt a.M. 2011. 80 Seiten, 16,95 €
Nora Bossong
Sommer vor den Mauern
Hanser, München 2011. 96 S., 14,90 €
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