- Laboratorien des Grauens
Wie das sowjetische System die Menschen ummodelte und zermalmte, beschrieben von einem Insider
Es geschah vor gut einem Menschenalter, dass westliche Schriftsteller und Intellektuelle ein östliches Land als Hort der Menschlichkeit priesen, während sich dort Folgendes abspielte: «Erschießung von Kindern ab zwölf Jahren, in der Praxis auch von Säuglingen … Abermillionen von Menschenseelen in den Konzentrationslagern. Erschießung ohne Ermittlung und Gericht … Todesurteile per Telegraph … Großbauprojekte auf den Knochen der Häftlinge … Endlose Kriege – Bürgerkrieg, Weltkrieg, Dutzende von Kleinkriegen … Allgemeine Verelendung und schmähliche Rückständigkeit. Moralischer Zerfall und eine unermessliche Müdigkeit der Menschen.»
Die Sowjetunion – beschrieben von keinem Geringeren als einem Ex-Politbüromitglied der Kommunistischen Partei. Alexander Jakowlew lässt sein Jahrhundert Revue passieren. Der enge Mitstreiter Michail Gorbatschows hat mit seiner Autobiografie zugleich eine Geschichte des sozialistischen Experiments in Russland vorgelegt. Herausgekommen ist eine scharfe Abrechnung mit dem System und eine stimmige Erklärung, wie das heutige Russland aus den Trümmern der Sowjetunion emporwuchs. Spannung gewinnt die Darstellung, die ein Dissident nicht ätzender hätte formulieren können, durch die Lebensstationen Jakowlews – eine klassische Funktionärskarriere.
Diktatur, sich selber zerhäckselnd
Der Junge aus einem Dorf bei Jaroslawl nördlich von Moskau; Mitglied im Komsomol; Lehrer an der Parteischule; Promotion im Fach Geschichte; Instrukteur für Agitprop in Moskau; Redakteur der Zeitschrift «Kommunist»; sowjetischer Botschafter in Kanada; Vollmitglied des Zentralkomitees und verantwortlicher Sekretär für Kultur und Propaganda; Chef der Kommission für Internationale Politik beim ZK.
Eine Nebentätigkeit Jakowlews seit 1987 hatte besondere Bedeutung. Als Mitglied einer Kommission zur Erforschung der Repressionen unter Stalin bedrängte er die Partei, wühlte sie auf, prangerte sie an. Er gehörte zu jenen Spitzenfunktionären der KP, die unter dem Schutze Gorbatschows die eigene Vergangenheit umgruben – gleich, was zutage treten mochte.
«Das juristische Eichmaß der Sowjetmacht für den Menschen war die Schuldvermutung», schreibt Jakowlew. «Der homo rossicus, später sovieticus, war a priori sündhaft, nicht durch die Erbsünde vor Gott, sondern vor der Macht. Die Macht nahm den Platz Gottes ein. Der Mensch war für die Bolschewiki ein Nichts, als irdisches Wesen das Material der kapitalistischen Epoche, das für die Schaffung der sozialistischen Zivilisation nichts taugte. Er musste exekutions- und haftgemäß umgemodelt werden. Die Axt der sich selbst zerhäckselnden Diktatur schlug in einem fort die Köpfe ab.»
Jakowlew führt den Leser durch die Laboratorien des Grauens und zeichnet anhand von Einzelschicksalen nach, wie das System maschinengleich die Menschen zermalmte. Im Gegensatz zu seinem Mentor Gorbatschow, der bis zu seinem Rücktritt 1991 den Sowjet-Urahn Lenin reinzuwaschen suchte, kommt Jakowlew zu folgendem Befund: «Nur ein blutrünstiges Ungeheuer konnte anordnen, Bauern aufzuhängen, unbotmäßige Bürger vergasen zu lassen und rund dreizehn Millionen Menschen im Bürgerkrieg, den er zielstrebig organisierte, vernichten zu lassen … Lenin verkörperte den Inspirator und Organisator des Terrors in Russland – er steht für alle Zeiten vor dem Tribunal Verbrechen gegen die Menschlichkeit.» Jakowlew bezeichnet den Bolschewismus Lenins und Stalins als «Archetypus des europäischen Faschismus», denn «sowohl der Bolschewismus als auch der Faschismus ließen sich von ein und demselben Prinzip der Staatsführung leiten – dem Prinzip der massenhaften Gewalt».
Chefingenieur der GlasnostEs ist das Privileg des Historikers Jakowlew, die Fortsetzung der Stalin-Diktatur als spät-totalitäre Farce in seiner Position als hoher Funktionär miterlebt zu haben. Manche Episode lässt nicht nur schaudern, sondern schmunzeln. So der Versuch, aus Leonid Breschnjew, «der eigentlich nur etwas unterschreiben konnte», einen epochalen Schriftsteller zu machen. Für sein Büchlein «Malaja Semlja» (Kleines Land) erhielt der Generalsekretär den Lenin-Preis für Literatur, er wurde an den Universitäten beflissen studiert. Seine Schriften waren Vorlage für Oratorien, Theaterstücke und steinerweichende Lobesarien: «Dieses Buch ist zwar nach dem Umfang nicht so groß, doch in der Tiefe des ideologischen Inhalts wurde es zum großen Ereignis. Es hat einen warmen Widerhall in den Herzen der Sowjetmenschen und begeisterte Reaktionen bei den Frontsoldaten gefunden.» Mit dieser öffentlichen Rezension aus den siebziger Jahren zitiert Jakowlew den ehemaligen Sekretär des Parteibezirkskomitees von Stawropol: Michail Gorbatschow.
Das Verhältnis zu seinem Vorgesetzten und Bundesgenossen in der
Perestrojka-Ära
Ende der achtziger Jahre war kompliziert. Jakowlew spart nicht mit
wohl dosierter Kritik an Gorbatschow, betont aber zugleich dessen
historische Leistung. Michail Gorbatschow hielt schützend seine
Hand über die allmähliche Öffnung der Sowjetunion, die mit dem
russischen Wort «Glasnost» in die Sprachen der Welt einging. Ihr
Vordenker und Chefingenieur war Alexander Jakowlew. Als
Kultursekretär entschied er über Bücher, Artikel, Filme, welche die
dunkle Stalinzeit grell anleuchteten. Anatolij Rybakows «Kinder des
Arbat» wurde einer der berühmtesten Romane jener Zeit.
Schriftsteller wie ihn förderte Jakowlew, während er den Warnungen
und Widerständen konservativer Funktionäre auswich, so gut es
ging.
«Ein direkt geführter Kampf gegen den Bolschewismus wäre in jenen Jahren zum Scheitern verurteilt gewesen … Die Lage diktierte die List. Man musste etwas verschweigen und sich verstellen, aber dabei die Ziele anpeilen und erreichen, die im offenen Kampf eher mit Haft oder Lager, ja mit Tod geendet hätten … Es war der Weg, mittels einer totalitären Partei den Totalitarismus evolutionär zu zerbrechen, die Prinzipien des Zentralismus und der Disziplin auszunutzen, sich aber zugleich auf den mit Protest geladenen, reformatorischen Flügel zu stützen.»
Eine Revolution gegen die Nomenklatura, da hat Jakowlew Recht,
hätte unzweifelhaft zu blutigen Auseinandersetzungen im Zentrum
geführt. An der Peripherie des Sowjetreiches waren die Schlachten
des Zerfalls bereits zu besichtigen, die Bürgerkriege, Pogrome und
Putsche von Almaty, Tiflis, Baku, Sumgait und Vilnius. Doch lag in
der Strategie der listenreichen Evolution auch der Keim des
Scheiterns.
Jakowlew ist selbstkritisch genug, um das einzugestehen. Den
Großteil der Schuld bürdet er freilich seinem Generalsekretär auf:
«Unter Gorbatschow wurde das Band der Bürokratie zur Macht nicht
zertrennt», schreibt Jakowlew. Der Regierungschef habe nach
Kompromissen gesucht, die ihre Wirksamkeit längst verloren hatten.
Er ließ sich auf «ehrlose, intelligenzschwache Leute ein und gab
die Zügel aus der Hand». Die KGB-Spitze habe Gorbatschow
zielstrebig mit «Lügen» darüber gefüttert, wie groß die
Unterstützung im Volk noch gewesen sei. «Und das
Regierungsoberhaupt heilte seine Verwirrtheit durch diese
Lügen.»
«Unser Jesus – ein Ersatzmessias»
Nicht Demokratisierung, sondern Bürokratisierung – das ist Jakowlews Fazit für die Jahre der Umwälzung von Gorbatschow zu Boris Jelzin, dem Revolutionär, der 1991 die KPdSU verbot. Auch er übrigens ein ehemaliger hoher Funktionär. «Die Macht nahm unter Jelzin der Beamte ein. Die antidemokratische Allmächtigkeit hat ungeheuerliche Ausmaße angenommen», beschreibt Jakowlew zutreffend das neue Russland. Wie das passieren konnte? «Die alte und neue Bürokratie fanden rasch eine gemeinsame Sprache, passten sich den demokratischen Verfahrensweisen geschickt an und schlachteten diese für den ökonomischen Terror gegen das Volk aus.»
Jakowlew analysiert messerscharf, mit saftiger Sprache und ohne Ansehen der Person. Deshalb liest man ihn gern und fragt sich dennoch: Wie konnte dieser klar sehende und schreibende Mann Gorbatschow bis zum bitteren Ende begleiten? Jakowlew trat im Juli 1991 von seinen hohen Parteiämtern zurück. Am 16. August 1991 gab er sein Parteibuch ab, drei Tage vor dem Putsch der lebensmüden Altbolschewisten. Spät. Warum?
Die Antwort liegt darin, dass auch die radikalsten Reformatoren des Jahres 1985 die Erkenntnis scheuten, das Problem des Landes im Sozialismus selbst zu sehen. «Wir suchten die bolschewistische Kirche im Namen der wahren Religion und des echten Jesus zu zerstören», resümiert Jakowlew. «Wir begriffen nicht, dass auch unsere Religion verlogen und unser Jesus ein Ersatzmessias waren. Es stellte sich heraus, dass es in der Sowjetunion keinen Sozialismus gab, sondern nur die Macht einer ordinären, despotischen Diktatur. Unser Versuch, die alte, hellgeröstete Schlampe mit einem braven, knackigen Burschen zu vermählen, mutet heute lächerlich an.» Auch da hat er Recht.
Michael Thumann, Jahrgang 1962, war bis 2001 Russland- und Zentralasien-Korrespondent der «Zeit», deren außenpolitische Berichterstattung er heute koordiniert. Zuletzt erschien sein Buch «Das Lied von der russischen Erde. Moskaus Ringen um Einheit und Größe».
Alexander
Jakowlew
Die Abgründe meines Jahrhunderts. Eine
Autobiographie
Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer.
Faber & Faber, Leipzig 2003. 800 S., 29,90 €
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