- War Stalin Kommunist?
Neues über Mao, Stalin und Hitler: Der Markt politischer Gräuel- und Schurkenliteratur wächst über den deutschen Diktator hinaus
Als Kind wollte ich wissen, ob Stalin tatsächlich ein Kommunist gewesen war. Kommunisten, wie ich sie kannte, waren wie meine Eltern, sie trugen Schlaghosen, hatten wilde Vollbärte und sangen lustige Lieder. Alle waren friedlich, liebten Kinder, und manchmal adoptierten sie welche aus Vietnam, aus Indien oder Lateinamerika. Stalin dagegen sah aus wie die untersetzten Schnurrbartträger aus den Solinger Hofschaften: Brummelig waren die, kläfften die Kinder an, wahrscheinlich wählten sie CDU und verbreiteten auch sonst meist schlechte Laune.
Meine Eltern redeten nicht gern über Stalin, zumindest nicht mit mir. Sie redeten auch nicht über Mao, aber dass sie von dem nicht viel hielten, wurde mir auch so schnell klar. Sie mochten die Maoisten nicht, «Chaoten» seien das, erklärte mein Vater. Mein Vater hatte einen Jugendfreund, der war Mitte der siebziger Jahre im KB-Nord. Die Sowjetunion fand er «imperialistisch» oder «spießig». Zur politischen Erbauung fuhr er nach Albanien, aber Mao fand er auch ziemlich gut. Mein Vater zuckte die Achseln und lächelte.
Mein Vater lächelt nicht mehr, jedenfalls nicht über Mao. Heute lächeln die anderen. Über Mao, über Stalin, über den Staatssozialismus, über Albanien, Bolschewismus und Kommunistische Internationale, über Marx und Engels, über Alt-68er, über Lafontaine und Gysi und über den Melancholie-Marxismus. Rückständig und hilflos erscheinen die Theorien und Rezepte der Linken für die Zukunft, nahezu albern in Zeiten der finanzkapitalistischen Weltrevolution. Perspektivlos für die Zukunft, moralisch diskreditiert in der Vergangenheit, dümpelt die Linke dahin, ungeachtet jeder alten neuen Linkspartei im Parlament. Und in den Buchhandlungen stapeln sich die Biografien der linken Verbrecher von einst. Denn Mao schlägt Hitler.
Stalin und seine Spieß-Genossen
Nach Jahren der braunen Diktatur in den Buchhandlungen, nach Jahren Guido Knopp’scher Fernsehunterhaltung – kein Abend ohne Nazis, Krieg und Holocaust – nun ein Verkaufserfolg für eine Biografie über Mao Zedong. Zwölf Jahre haben die Bestseller-Autorin Jung Chang und ihr Ehemann, der Historiker Jon Halliday, an dem Opus magnum gearbeitet und das Leben und Wirken des «Großen Vorsitzenden» nach allen Regeln der Schreibkunst beleuchtet. Das Ergebnis ist sensationell, zumin-dest für den «Spiegel», dem Buch und Thema gleich eine Titelgeschichte wert waren: «Anatomie eines Massenmörders». Mao ist der größte Verbrecher in der Geschichte der Menschheit, verantwortlich für den Tod von 70 Millionen Menschen.
Nicht völlig neu und auch nicht so sensationell, mag man einwenden, denn 70 Millionen Tote und Mao an der Spitze der Diktatoren und Massenmörder – das hatte vor sieben Jahren auch schon das «Schwarzbuch des Kommunismus», herausgegeben von Stéphane Courtois, ausgerechnet. Aber wer hatte das schon gelesen? Die Mao-Biografie dagegen ist ein Verkaufsschlager. Zehntausende Deutsche, so scheint es, entdecken nun auf einmal ihr Herz für ein Thema, das bislang den Sinologen vorbehalten war: die chinesische Geschichte.
Das Ergebnis der Recherche kommt vielen zupass: Mao ist noch schlimmer als Hitler, noch rücksichtsloser und noch brutaler. Der chinesische Diktator schlägt den deutschen in fast allen Belangen. Der nämlich rangiert in der Hitparade sowohl des Buch-Verkaufs wie seiner Verbrechen derzeit nur auf Rang drei hinter Mao und Väterchen Stalin. Und weil beide rote Diktatoren so grausig und erschröcklich sind, verkauft sich auch das Buch von Simon Sebag Montefiore über Stalins Privatleben und das seiner Spieß-Genossen im Kreml in Deutschland bestens. Nicht weniger als zehn Stalin-Biografien aus den letzten drei Jahren finden sich derzeit in den deutschen Buchhandlungen, die vielen weiteren Bücher zum Thema, wie «Der rote Terror» und «Ein Jahrzehnt der Gewalt in Sowjetrussland», nicht mitgerechnet. Dagegen haben selbst die intimsten Bekenntnisse aus gut informierten Kreisen des Führers, wie «Die Hitlers» oder «Bei Hitlers», keine Chance mehr.
Glaubte Stalin an die Illusion der eigenen Größe?Die Aufarbeitung der Vergangenheit prägt das Bild des Sozialismus und des Kommunismus in der Gegenwart. Heute, so scheint es, steht der in den zwanziger Jahren geprägte, später etwa von Hannah Arendt zum Zweck des phänotypischen Systemvergleichs etablierte Begriff «Totalitarismus» nahezu konkurrenzlos in der politischen Landschaft: Hitlers Faschismus und Stalins Staatssozialismus als zwei Seiten einer Medaille, Spielarten eines vergleichbaren Zentralsystems menschenverachtender Ideologie und politischer Verbrechen, das auch noch die DDR und andere politische Vorgartenableger des Staatssozialismus als Mitglieder aufnimmt. «Politischer Holismus» und ein zutiefst gläubiger «Szientismus», so benennt der liberale Zeithistoriker Richard Overy die Wurzeln der totalitären Diktaturen Stalins und Hitlers. Auch nicht wirklich neu, aber zurzeit die wohl wirkungsmächtigste Interpretation von Kommunismus und Nationalsozialismus.
«Das Jahrhundert der Wölfe» hatte Ossip Mandelstams Frau Nadeschda ihre bösen Erinnerungen an die Stalin-Zeit genannt; Gedanken zu einem Realisten ohne Moral. Wolf, Verbrecher und Top-Terrorist des 20. Jahrhunderts – Begriffe, über die sich heute, mehr als fünfzig Jahre nach Stalins Tod und fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, leicht Einigkeit erzielen lässt. Doch der Versuch, Stalin als einen überzeugungs- und gewissenlosen Tyrannen zu begreifen, ist nur eine Facette des detaillierten Bildes, das etwa Montefiore zeichnet. Die Auswertung ungezählter Quellen in Moskauer Archiven über Stalins Privatleben und das seiner Paladine führt zum Portrait eines Menschen, der nahezu alle charakterlichen Widersprüche in sich vereint. Für welche Illusionen war der amoralische Naturalist Stalin selbst empfänglich, in welchem Wolkenkuckucksheim hat er gelebt? Woran glaubte der Mörder nahezu aller seiner Freunde und Vertrauten, der Offiziere, Polen, Juden, Ehefrauen, Armenier und Georgier? An die Illusion seiner eigenen Größe als Marschall, die ihn in weinerlichen Momenten regelmäßig verließ, an seine strategische Genialität, die keine Niederlage ohne inneren Zusammenbruch überstand, an die bolschewistische Ideologie, die er mit zynischen Äußerungen karikierte wie kaum ein Zweiter, an das «Volk», das er zu Millionen opferte und vor dem er sich mit zunehmendem Alter im Kreml-Turm verschanzte?
War Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, der sich erst Soso, dann Koba und später Stalin nannte, ein Kommunist? Montefiore hält ihn, allen Widersprüchen zum Trotz, für einen Überzeugungstäter. Doch brauchte ein Gespenst wie Stalin tatsächlich einen Rahmen, in den er hineinschlüpfen konnte? Brauchte er den Bolschewismus, zu dessen Theorie er nichts beigetragen hatte, gleichwohl als Glaubensfundament?
Der gescheiterte Künstler aus dem Männerheim
Die Frage ist schwierig. Generiert der in Staatsform gegossene Kommunismus zwangsläufig Verbrecher, wie die Totalitarismus-Theorie nahe legt, oder nutzten Verbrecher die Machtfülle eines kommunistischen Führers für ihre persönlichen Zwecke? Im ersteren Fall bilden Kommunismus und Verbrechen eine untrennbare Einheit, im letzteren sind sie akzidenziell, wenngleich historisch wirkungsmächtig miteinander verknüpft. Die Mao-Biografen Jung Chang und Jon Halliday, gewiss keine Ideologen, neigen eher der zweiten Sicht zu. Für sie war Mao kein Kommunist, sondern ein blutrünstiger Tyrann und Sadist ohne jegliche politische Glaubensüberzeugung.
Siegfried Kracauers Satz, dass, wann immer auf Mikroebene gewonnene Überzeugungen auf eine Makroebene gebracht werden, sie dort oben leicht beschädigt ankommen – worauf träfe dies besser zu als auf die historische Bewertung von Verbrechern vom Schlage Stalins oder Maos! Menschliche Psychen sind keine besonders konzisen Gebilde, zu oft stochert auch der informierteste Historiker hier im Unklaren. Gesellschaftliche Deutungsmuster auf solcher Basis zu erstellen heißt, mit dem politischen Zollstock im psychischen Molekularbereich zu messen. Selbst Hannah Arendt hatte dies am Ende
ihrer Studien einsehen müssen: «Zu erklären ist das totalitäre Phänomen aus seinen Elementen und Ursprüngen so wenig und vielleicht noch weniger als andere geschichtliche Ereignisse von großer Tragweite.»
Was sich im Rückblick zeigt, sind Laborversuche der Weltgeschichte für den Missbrauch von Macht. Die Geschichte von gewissenlosen Emporkömmlingen, von Adi, dem gescheiterten Künstler aus dem Männerheim, von Soso, dem vaterlosen georgischen Spitzel und Herumtreiber, von Zedong, dem rebellischen Sohn eines Reisbauern und Schweinehändlers: Was ihnen ideologisch zupass kam, verwandelten sie sich an, die kommunistische Lehre vom Schönengutenwahren gleichermaßen wie die sozialdarwinistische Moral vom Recht des Stärkeren und vom fehlenden Lebenswert des Schwachen. Gewaltige Unterschiede in der Theorie, aber kaum auffindbare in der Realgeschichte.
Perverse Zählerei: 30, 50, 70 Millionen Tote
Jung Changs Mao-Biografie, Montefiores Stalin-Buch und Overys Diktatoren-Vergleich belegen dies eindrucksvoll auf jeweils rund tausend Seiten; es sind überaus verdienstvolle Arbeiten. Doch was erklärt ihren gegenwärtigen Erfolg nicht nur in Deutschland? Als wichtige Aufklärung angesichts der albernen Mao-Hysterie der siebziger Jahre in den westlichen Ländern kommen sie dreißig Jahre zu spät. Viele verdrehte Hirne von West-Maoisten, die man einrenken könnte, gibt es nicht mehr. Und Stalin-Fans waren selbst unter DKP-Mitgliedern eine Seltenheit. Entscheidender dagegen ist ein schlichtes Verkaufsargument: Der Markt der politischen Gräuel- und Schurken-Literatur lässt sich über Hitler hinaus noch vergrößern.
Die Globalisierung erschließt neue Terror-Märkte auch in der Geschichte. Und mit ihr ein kaum anders als voyeuristisch zu bezeichnendes Interesse an einer nicht wenig perversen Zählerei: 30 Millionen, 50 Millionen oder 70 Millionen Tote – wer hat die meisten? Was rechnen wir Mao persönlich an, was den notorischen Agrarkatastrophen in China? Jeder tote chinesische Landmann ein maoistisches Bauern-Opfer? Wer trägt die Schuld an den Millionen Toten in der sowjetischen Armee – Stalins Säuberungen, sein militärischer Dilettantismus oder Hitlers Krieg? Schurken-Ranglisten in Dimensionen, die kein Mensch mehr zählen kann, befriedigen nicht politische Neugier, sondern viele schlichte – und schlechte – Gelüste.
Eine Moral, die sich daraus ziehen ließe, gibt es kaum. Je stärker die monströsen Polit-Ikonen der Vergangenheit psychologisiert werden, desto weniger politische Moral bleibt am Ende übrig. Psychologisierung, dies liegt nahe, ist das Gegenteil politisch-emotionaler Willensbildung. Äußerlich unvorstellbar grausam, psychologisch dagegen entmystifiziert und nahezu lächerlich, bleiben die Führer von einst zurück. Berechtigte Sockelstürze von Figuren einer anderen Zeit, seltsam abständig und fremd. Heute dagegen ist der permanente Sockelsturz als zeitgemäßer Umgang mit Politik längst tägliche Passion der Medien. Gesellschaften wie unsere untergraben ihre Politiker psychologisch bereits zu Lebzeiten, im Regelfall innerhalb weniger Wochen. Die Gesellschaft braucht keine politischen Helden mehr – sie hat ja auch genug andere.
Richard David Precht, Jahrgang 1964, ist Schriftsteller und Publizist in Köln. Soeben veröffentlichte er «Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Meine kleine deutsche Revolution».
Jung Chang, Jon Halliday
Mao. Das Leben eines Mannes. Das Schicksal eines
Volkes
Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Heike Schlatterer und
Werner Roller.
Blessing, München 2005. 976 S., 34 €
Richard Overy
Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins
Russland
Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl H. Siber.
DVA, München 2005. 1023 S., 48 €
Simon Sebag Montefiore
Stalin. Am Hof des roten Zaren
Aus dem Englischen von Hans Günter Holl.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2005. 874 S., 24,90 €
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