- „Liebe ist eine Kosten-Nutzen-Analyse“
Der Wiener Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe Karl Grammer beschäftigt sich seit rund 30 Jahren mit dem menschlichen Verhalten bei der Partnerwahl. Im Interview mit Cicero Online spricht er darüber, warum es Liebe überhaupt gibt, was Sex mit Parasiten zu tun hat und warum Patchwork-Familien nur sehr schwer funktionieren können
„Liebe ist eine Kosten-Nutzen-Analyse“
Cicero Online: Sehr geehrter Herr Grammer: Warum hat die Evolution die Liebe überhaupt erfunden?
Karl Grammer: Die Evolution hat die Liebe nicht erfunden. Sie hat sich ganz einfach aus den Systembedingungen ergeben. Es geht dabei in erster Linie um Brutpflege. Ein Blick auf die Scheidungsraten zeigt, dass eine Beziehung von zwei Menschen durchschnittlich so lange hält, wie es dauert, den Nachwuchs aufzuziehen. Das sind circa drei bis sechs Jahre.
Also ist Liebe nur ein Trick der Evolution, um das menschliche Überleben zu sichern?
Nein, es gibt keine Tricks, um das Überleben zu sichern. Wenn ich mich um meinen Nachwuchs kümmere, dann hat das den Menschen auch einen Vorteil gebracht.
Der da wäre?
Freundlich zueinander zu sein. Das ist der Punkt, um den es geht. Wir kümmern uns um unseren Nachwuchs zu einem Grad, der sonst im Tierreich nicht vorhanden ist.
Warum ist das denn überhaupt notwendig geworden?
Der Nachwuchs ist von uns abhängig geworden, da wir mehr in kognitive Leistungen investieren und größere Gehirne haben. Wir gebären den Nachwuchs nicht nur, um ihn freizulassen. Wir müssen ihm auch etwas beibringen; unser Nachwuchs muss erst einmal von uns lernen.
Nun gibt es aber durchaus viele Paare, deren Kinder längst erwachsen sind. Was hält diese Beziehungen dann noch zusammen?
Es ist durchaus möglich, dass man sich immer wieder neu ineinander verliebt – das scheint manchmal auch zu funktionieren – aber wie eingangs erwähnt: Die Scheidungsraten sprechen eine andere Sprache: In der Regel gehen Paare nach der Reproduktion wieder auseinander.
Und auch kinderlose Paare dürfte es nach Ihrer Theorie nicht geben…
Moment, das ist eine Fehlannahme. Auch Kinderlosigkeit hat mit evolutionspsychologischen Voraussetzungen zu tun und wird sogar von diesen vorhergesagt. Die Reproduktionsfähigkeit hängt beispielsweise wesentlich davon ab, wie genetisch kompatibel die beiden Partner sind. Nicht in allen Fällen ist die Passung perfekt. Darüber hinaus können auch Krankheiten oder sozioökonomische Faktoren bewirken, dass Paare kinderlos bleiben.
Gibt es denn überhaupt so etwas wie romantische Liebe?
Ja, unbedingt. Als wir vor etwa zwanzig Jahren damit angefangen haben, das Phänomen der Liebe zu erforschen, haben die Sozialwissenschaftler stets erklärt, Liebe sei eine Erfindung der Romantik. Doch das ist Quatsch. Schon bei den Sumerern, also circa 3000 Jahre v. Chr., finden sich Liebesgedichte. Liebe löst in unserem Gehirn physikalische Veränderungen aus. Damit lässt sie sich eindeutig wissenschaftlich erklären.
Das klingt aber nun ziemlich unromantisch…
Ganz und gar nicht. Liebe bedeutet Bindung. Wenn Sie eine Person lieben, wollen Sie diese sehen. Und zwar am liebsten permanent. Denn durch die visuelle Stimulation werden Endorphine ausgeschüttet. Fehlen die Ihnen plötzlich, bekommen Sie regelrechte Entzugserscheinungen. Wir haben in unserem Institut vor vielen Jahren einmal eine Studie über Liebeskummer durchgeführt und fast jeder, der daran teilnahm, hatte ein Bild von der geliebten Person dabei, obwohl diese Person die Liebe ja gar nicht erwiderte. Allein der visuelle Reiz genügt also, um beim Verliebten positive Gefühle auszulösen. Das bedeutet: Wenn Sie jemanden lieben, dann müssen Sie diese Person auch sehen. Das ist schon ziemlich romantisch…
Dennoch: Gegenseitiges Sehen reicht auf Dauer nur den Allerwenigsten. Wie wichtig ist eigentlich Sex für eine glückliche Liebesbeziehung?
Auch Sex ist ein Bindungsfaktor und zwar ein ganz entscheidender. Denn wenn wir Sex haben, arbeitet unser Gehirn auf Hochtouren. Dabei werden Hormone ausgeschüttet, die diese Bindungskraft weiter verstärken.
Wo wir gerade beim Thema sind: Wie ist Sex überhaupt entstanden? Schließlich gibt es viele Organismen, die sich auch anders fortpflanzen können…
Das hat in der Tat lange gedauert, bis sich Sex zur Fortpflanzung durchgesetzt hat. Aber Sex ist nun einmal die einzige Möglichkeit, um Variabilität zu schaffen. Denn mit jedem Sexualakt werden die Erbanlagen neu kombiniert.
Warum ist das denn so wichtig?
Das hängt mit der Existenz von Parasiten zusammen. Diesem Problem lässt sich nur durch permanente Durchmischung und mit Generationen neuer Immunsysteme entgegenwirken. Denn die Parasiten passen sich immer wieder an. Die einzige Möglichkeit, ihnen zu entkommen, ist also eine permanente Veränderung der Lebensumstände. Das bedeutet: Sie müssen den Parasiten Immunsysteme zur Verfügung stellen, die diese noch gar nicht kennen.
Das heißt, wir haben also nur Sex, um uns vor Parasiten zu schützen?
Ganz genau. Und perfekt ist es, wenn wir Sex mit jemandem haben, dessen Immunsystem möglichst stark von unserem eigenen variiert.
Wie können wir das denn erspüren?
Das läuft in erster Linie über den Geruch. Wenn Menschen sich gut riechen können, reagieren sie automatisch erst einmal positiv aufeinander. Und dabei präferiert man tatsächlich eher den Geruch einer Person, deren Immunsystem konträr zum eigenen ist. Auch das ist wissenschaftlich bewiesen.
Gibt es denn dann auch die berühmte ‚Liebe auf den ersten Blick‘?
Mit Sicherheit – unser Gehirn entscheidet bereits in den ersten zehn Sekunden darüber, ob etwas läuft zwischen zwei Menschen. Bereits bei der ersten Wahrnehmung sind ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen beteiligt.
Und was muss dann stimmen in diesen zehn Sekunden? Welche Kriterien entscheiden denn darüber, ob wir uns verlieben oder nicht?
Das wollen Sie wirklich wissen? Es ist so primitiv. Oberste Priorität ist, nett und verständnisvoll zu sein. Das ist die Voraussetzung für alles weitere. Dann gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede. Männer präferieren eher Attraktivität, Frauen sind auf Status aus.
Was heißt Status genau?
Gesellschaftliches Ansehen, Macht, aber in erster Linie Geld.
Das klingt ziemlich ernüchternd. Das bedeutet also, Frauen suchen im Mann immer noch den Versorger?
Genau das ist die entscheidende Frage. Das ist in unseren modernen Gesellschaften eigentlich nicht mehr notwendig, da sich da der Staat an den Erziehungskosten beteiligt. Eigentlich ist die Frau nicht mehr auf einen Versorger angewiesen. Das erklärt auch die hohe Zahl an Alleinerziehenden.
Und warum sind Männer so verrückt nach schönen Frauen?
Männer sind auf der Suche nach Frauen, die Fruchtbarkeit ausstrahlen, weil das einen optimalen Reproduktionserfolg garantiert. Folglich selektieren sie nach Kriterien, die auf einen hohen Östrogenanteil hinweisen wie volle Lippen, große Augen, hohe Wangenknochen oder auch glatte Haut.
Warum gibt es denn diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern überhaupt?
Die Entscheidungen in der Evolutionsbiologie sind ziemlich simpel. Letztlich ist Liebe nichts anderes als eine Kosten-Nutzen-Analyse. Es geht dabei immer um ein Investment in den Nachwuchs. Frauen suchen Männer, die in den Nachwuchs investieren können. Denn das ist der einzige Punkt, wie sie im biologischen Sinne ihre Kosten senken können. Bei den Männern ist es anders. Bevor sie in den Nachwuchs investieren, müssen sie sicher sein, dass es ihr eigener ist; sonst wäre es ein Fehlinvestment. Und das wiederum kann zu ernsthaften gesellschaftlichen Spannungen führen, die sich nur sehr schwer sozial abfedern lassen.
Was meinen Sie?
Da wäre beispielsweise der sogenannte Cinderella-Effekt: Kinder aus Familien, die nicht mit dem Vater verwandt sind, werden wesentlich öfter Opfer von Missbrauch als Kinder aus Familien mit leiblichem Vater. Das haben kanadische Forscher schon vor 15 Jahren rausgefunden.
Das heißt also, wenn es nicht das eigene Kind ist, ist es dem Stiefvater egal?
Ganz genau. Diese Erkenntnis hat in der Öffentlichkeit jedoch kaum Gehör gefunden, weil sie dem Zeitgeist widerspricht. Heute gilt jegliches Familienmodell als denkbar und damit auch als praktikabel. Wir leben nach dem Prinzip des `Anything goes´. Dabei ist das ein Irrglaube. In Wirklichkeit sind wir längst nicht so modern, wie wir es gerne wären. Die Patchwork-Family ist keine Lösung. Es gibt irgendwie geartete Anpassungen in unserem Gehirn, die solche Formationen nun einmal ausschließen.
Wenn die Partnerwahl tatsächlich noch so archaisch funktioniert, heißt das dann auch, dass innere Werte gar nicht zählen?
Das ist richtig. Mit einer Ausnahme: Frauen bevorzugen intelligente Männer, umgekehrt gibt es hier allerdings keinen Zusammenhang. Für Männer spielt Intelligenz bei der Partnerwahl eher eine untergeordnete Rolle. Was wir allerdings derzeit noch nicht genau wissen, welchen Stellenwert Lifestyle-Faktoren besitzen.
Was sollen das für Faktoren sein?
Beispielsweise lassen sich aus der gemeinsamen Liebe für Volksmusik 90 Prozent der Paare vorhersagen. Das ist offensichtlich weitaus mehr als nur ein Hobby, sondern spiegelt eine generelle Lebensauffassung wider. Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Religion. Dabei spielen diese Faktoren bei der eigentlichen Partnersuche überhaupt keine Rolle. Dennoch lassen sich aus ihrem Übereinstimmen ca. 90 Prozent der Paare vorhersagen.
Der berühmte Spruch von den Gegensätzen, die sich anziehen, ist also Unsinn?
Es stimmt schon, dass sich gegensätzliche Charaktere anziehen, letztlich kommen sie aber nicht zusammen. Denn wenn im Alltag jeder einzelner Punkt in einer Grundsatzdebatte mündet, kann man einfach keine dauerhafte Beziehung führen.
Und da gibt es tatsächlich keine Ausnahme?
Ausnahmen finden Sie eher in der Literatur und bestätigen, wie so oft, nur die Regel. Beispielsweise hat man festgestellt, dass bei verheirateten Paaren sogar die Ohrläppchen gleich lang sind. Bei langfristigen Beziehungen ist der Grad an Übereinstimmung also tatsächlich sehr groß. Das ist in den letzten 150 Jahren immer wieder wissenschaftlich bestätigt worden. Gleich zu Gleich gesellt sich einfach gern, basta.
Zum Schluss noch eine persönliche Einschätzung: Wird Liebe für Sie als Wissenschaftler eigentlich überbewertet?
Nein, das glaube ich nicht. Es macht einen großen Unterschied, ob man Liebe nur wissenschaftlich beschreibt oder ob man sie tatsächlich erlebt. Und Verliebtsein ist nun einmal ein verdammt schönes Gefühl.
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