- Das Gute? Ein Griff ins Klo
Mörderischer Alltag: Zwei deutsche Kriminalromane und ein Dokumentarfilm machen es sich mit Gut und Böse schwer
Im Fernsehen ermitteln die Kommissare wie im Fieber. Beseelt wie Künstler und mit den Muskeln von Boxern. Feierabend gibt es nicht! Schließlich ist ein Verbrechen geschehen, vorzugsweise ein scheußliches. Es muss aufgeklärt werden. Die Fernsehpolizei treibt der Gerechtigkeitssinn. Beziehungen werden aufs Spiel gesetzt, Vorschriften ignoriert. Türen werden eingetreten. Und immer kommt am Ende der nervenzerfetzenden Hetzjagd die Wahrheit ans Licht.
Wir schalten um ins wirkliche Leben. Wo es leider, liebe Kinder, manchmal etwas anders läuft. Da stolpern dann alte Polizisten und Feuerwehrleute durch ein Maisfeld in Mecklenburg-Vorpommern. Vor 20 Jahren stand hier Gerste, da sind hier zwei Männer erschossen worden. Komisch, dass das Feld gleich nach ihrer Entdeckung in Brand geraten ist. Komisch, dass nie jemand richtig nachgefragt hat, woher das Feuer kam. Komisch, dass das Feld umgepflügt wurde, bevor der Tatort richtig untersucht war. Komisch, dass nur der Gerichtsmediziner sich für die Möglichkeit interessiert hat, dass einer der Männer beim Auffinden noch gelebt haben könnte und man ihn einfach hat verrecken lassen. Komisch, dass die Angehörigen der Opfer nie von dem Verfahren gegen zwei Beschuldigte informiert wurden. Könnte all das damit zu tun haben, dass die beiden Opfer Roma aus Rumänien beim illegalen Grenzübertritt und die Beschuldigten deutsche Jäger waren? Die beiden Jäger haben ihre Schüsse zugegeben. Leider haben sie Menschen mit Wildschweinen verwechselt, das passiert mir auch dauernd. Zum Glück für sie ließen sich die Munitionssplitter in den Schädeln der Leichen nicht eindeutig einer Waffe zuordnen. Freispruch.
Diese Geschichte erzählt Philip Scheffners beklemmender Dokumentarfilm „Revision“ („Revision“; 106 min, Regie: Philip Scheffner; DVD ab Frühjahr im Handel, Ausstrahlung auf Arte im Herbst). Das ist ein Film aus einem Deutschland, von dem in einem schwierigen historischen Moment nach der Wende Menschlichkeit gefordert ist und das darauf im Rahmen der Verwaltungsvorschriften reagiert. Dem Unmenschlichkeit einfach nicht nachweisbar ist. Die Horrormomente: Die Frau vom Landratsamt weist darauf hin, dass viele Jäger damals der vielen illegalen Einwanderer wegen nicht mehr auf die Jagd gegangen sind. Denn sie hätten ja auch einen Bundesgrenzschützer treffen können. Einen Flüchtling abzuschießen, wäre also weniger schlimm? Der Sprecher der Staatsanwaltschaft erklärt, warum die Familien der Opfer nicht über den Prozess gegen die Beschuldigten informiert worden sind: Die deutsche Justiz hat sie nicht gebraucht. Der Anwalt eines der Beschuldigten gibt zu Protokoll, dass sein Mandant den Jagdunfall seiner Versicherung gemeldet hat. Natürlich hätten die Angehörigen Anspruch auf Entschädigung geltend machen können. Aber sie haben sich ja leider nie gemeldet.
Manche Menschen haben als Herz eine altmodische Registrierkasse; in „Revision“ kann man sie leise rattern hören. Man möchte diese Art Herzenstaubheit unter Strafe stellen – Paragraf 176a: „Betäubung eines zum Schutze anderer lebenswichtigen Organs zum eigenen Vorteil“. Aber dann säße wahrscheinlich halb Deutschland im Knast.
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Für Buch, Dramaturgie und Produktion von Philip Scheffners Film zeichnet Merle Kröger verantwortlich. Sie hat das Material zu ihrem dritten Kriminalroman verarbeitet und der Geschichte beherzt das hinzugefügt, was ihr am meisten fehlt: Menschen, die das Gute wollen. Eine flippige und quirlige Multikultifrau, ein linkes Kreuzberger Anwaltskollektiv, Menschen, die sich bedingungslos in die Sache verbeißen, wie im Fieber. (Merle Kröger: „Grenzfall“, Roman; Argument-Verlag, Hamburg 2012; 347 Seiten, 11 Euro) Auch die Bösen nehmen hier auf befriedigendere Weise Gestalt an und decken größere Themenbereiche ab: Immobilienspekulation im wilden Osten, krude Politverschwörungen. Den aus dem wirklichen Fall abgeschobenen Roma wird hier endlich eine aktive Rolle erlaubt; ein zweiter Plot aus Rachedurst, Erpressung, Mord und drohendem Justizirrtum bringt die Sache so richtig zum Laufen. Wo Philip Scheffners Film uns frieren lässt, verschafft Merle Krögers Kriminalroman wärmende Erleichterung. Die Geschichte rundet sich, die Spannung löst sich auf, alles findet – nicht ohne schmutzige Deals – zu einem Happy End.
Einen „Möglichkeitsraum“ wollte Merle Kröger mit ihrer Geschichte öffnen. Ist das Gute möglich? Vielleicht, aber es ist harte Arbeit. Und jeder muss selbst nachsehen, ob er ein Herz hat. Kann es aber herzensgute Kriminalromane geben? Lesen wir Kriminalromane nicht auch deshalb, weil die Figuren so zwielichtig bleiben, dass wir uns immer auch ein wenig mit den Bösen identifizieren können (weil wir ja wissen, dass das Böse eine Lust ist)? Diesen Möglichkeitsraum eröffnet „Grenzfall“ nicht.
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Nach elf Jahren hat Jakob Arjouni seinen berühmten deutsch-türkischen Privatdetektiv Kemal Kayankaya wieder aus dem Schrank geholt, für einen Kriminalroman, der nichts anderes sein will als ein Kriminalroman. (Jakob Arjouni: „Bruder Kemal. Ein Kayankaya-Roman“; Diogenes-Verlag, Zürich 2012; 240 Seiten, 19,90 Euro) Das Gute? Fehlanzeige. Einmal packt es Kayankaya, da will er für „das Gute“ kämpfen und schlägt zu – ein totaler Griff ins Klo. Die gute Tat verfolgt ihn, und den Rest des Romans über hat er mit den Konsequenzen alle Hände voll zu tun. Wenn man sich nicht mehr beamtenmäßig zurückhält, geht es nachher eben vor allem um Schadensbegrenzung.
Da überlappen sich dann plötzlich zwei Fälle, und die Bösen aus dem ersten Fall drohen, dem Detektiv den zweiten zu versauen. Und deshalb geht es nicht um Islamismus, als ein islamistischer Frankfurter Scheich während der Buchmesse einen marokkanischen Autor entführt, der gerade seinen gewagten Roman über Homosexualität in der islamischen Welt vermarktet, wobei er selbst ein höchst heterosexueller geiler alter Sack ist; es geht darum, den dicken unrasierten Kayankaya zu treffen. Zum Glück merkt die Öffentlichkeit nichts davon; nach der Freilassung des marokkanischen Autors kommt daher der große Marketingerfolg.
Und so kommt nie das eine zum anderen, wird kein Fall ganz gelöst, erweist Gerechtigkeit sich als nicht herstellbar. Kayankaya rettet sich mit Ach und Krach, und Jakob Arjouni schmuggelt in die Genre-Erzählung abgeklärte Beobachtungen der mittelgrauen deutschen Wirklichkeit zwischen Literaturbetrieb und Kinderprostitution ein, die ihm vielleicht am allerwichtigsten sind. Und die Moral von der Geschicht? Glotzt nicht so romantisch. Ein Buch wie ein Feierabendbier. Jetzt aber husch ins Bett, liebe Kinder! Morgen ermittelt bestimmt wieder Kommissar Fieber.
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