Bücher des Monats - Die Queen lernt lesen

Wie Alan Bennett Königin Elisabeth II. zur Bücherliebe verführt und mit Witz und Charme eine doppelte Huldigung zustande bringt – an seine Monarchin und an das Buch

Wie Julius Caesar spricht die Königin von sich in der dritten Person. Sie verwendet ein Pronomen, das die ganze Menschheit einschließt, obwohl seine wörtliche Bedeutung im Englischen auf die Einzelperson hinter der Gattungsmaske verweist: «one», deutsch «man». Diese Eine hier, Elisabeth, deren Name in Alan Bennetts Erzählung nicht fällt, verhält sich, so ist sie erzogen, nicht wie die Vielen, aber wie jeder, der sich in der Vergan­genheit ihrer Rolle gefügt hat. Von dem Fahrer der Bibliothek auf Rädern, auf die sie in einem Hinterhof des Palastes gestoßen ist, möchte sie erfahren: «Darf man denn ein­fach so ein Buch ausleihen?»

Man tut, was von einem erwartet wird: Das gilt in einer Gesellschaft der permanenten wechselseitigen Beobachtung für jedermann, aber beispielhaft für die Frau, die eigentlich gar nichts tun kann ohne Gegenzeichnung durch ihre Minister. Die Königin thront auf der Spitze der Sozialpyramide und betrachtet auch sich selbst mit olympischer Objektivität, in ihrem Willen zur Unauffälligkeit die perfekte Doppelgän­gerin ihrer Untertanen. «Man ist ja schon im Rentenalter.»

Aus Rücksicht auf den Bibliothekar nimmt sie ein Buch mit, einen Gesellschafts­roman von Ivy Compton-Burnett, einer aus der Mode gekommenen Autorin, an deren Namen sie sich erinnert, «denn sie wusste, wenn sie ohne Buch ginge, bekäme Mr Hutchings den Eindruck, seiner Bibliothek man­gele es an irgendetwas». Die erste Wahl der spätberufenen Leserin bleibt also im Bann des Konventionellen, und als sie eine Woche später – nach der Rückgabe des von ihr als trocken und eintönig empfundenen Romans – zu ihrer eigenen Überraschung mit einem neuen Buch den Bus verlässt, hat sie sich instinktiv nach dem gerichtet, was die ihr unvertraute soziale Situation nahelegt. Die Augen des Bibliothekars und eines Küchenjungen mit einer Vorliebe für schwule Autoren, den sie bald zu ihrem Pagen und Literaturkritiker befördert, ruhen auf ihr: «Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, noch ein Buch auszuleihen, kam nun aber zu dem Entschluss, das sei womöglich leichter, als es nicht zu tun.»


Die intriganten Höflinge der Queen

In dieser psychologischen Randnotiz steckt ein Plädoyer des Autors Alan Bennett, der über dem väterlichen Metzgerladen im nord­englischen Leeds aufgewachsen ist: ein Plädoyer für die Institution der öffentlichen Bib­liothek. Zwar kann man niemanden zu seinem Leserglück zwingen, aber für die Begegnung mit Büchern braucht es Gelegenheiten, und wenn die Regularien einer Bib­liothek mit ihren Öffnungszeiten, Ausleihstempeln und Schutzumschlägen anzeigen, dass das Lesen in den Augen der Gemeinschaft etwas Wertvolles ist, so haben Pomp und Umstände dieser unaufdringlichen Art noch niemandem geschadet.

Einmal im Jahr publiziert Alan Bennett Auszüge aus seinem Tagebuch in der «London Review of Books», wo vor zwei Jahren auch diese Erzählung über «Die souveräne Leserin» zuerst erschien. Ein wiederkehrendes Thema seines Tagebuchs ist der Niedergang der öffentlichen Dienstleistungen im Staat von Lady Thatcher und Mr Blair. Dass auch die Königin nicht mehr als sechs Bücher auf einmal ausleihen darf, ist eine Verteilungsregel, die dem demokratischen Ethos die Ehre erweist, ein Relikt aus der Kriegszeit, als die Familie Georgs VI. ostentativ die gleichen Essensrationen bezog wie die ausgebombten Londoner. Nichts Gutes verheißt es dagegen, dass Mr Hutchings seine Leser als Kunden ansprechen soll. Die Steigerung der Nachfrage im Buckingham-Palast um hundert Prozent kann nicht verhindern, dass die Route des Bücher­busses geändert und die Königin vom Nachschub abgeschnitten wird.

Allerdings geht diese Rationalisierungsmaßnahme auf eine Palast-Intrige zurück. In ihren offiziellen Proklamationen wird der Königin die erste Person Plural in den Mund gelegt. Die Hofbeamten fürchten um ihre Souffleurshoheit, als der zum Buchvorkoster erhobene Küchenhelfer zu Protokoll gibt: «Wir» haben Ian McEwan und Kazuo Ishiguro gelesen. Der Privat­sekretär der Königin und der Premierminister, zwei Modernisierer, usurpieren den majestätischen Singular des «man», den die Königin als Privatperson benutzt. Sie artikulieren eine Staatsräson des vorauseilenden Gehorsams gegenüber den Barbaren, die sie vor den Palasttoren wähnen. Sir Kevin Scatchard, der Neuseeländer, den es aus dem Hofdienst in die Privatwirtschaft zieht, gibt sich jede euphemistische Mühe, um seiner Arbeitgeberin das Lesen auszureden. «Ich habe den Eindruck, Ma’am, dass es vielleicht nicht direkt elitär wirkt, aber doch die falsche Botschaft aussendet. Es schließt gewissermaßen aus.»

Wo die Bücher hinter Gittern darben

Die Königin möchte gerade umgekehrt durch ihr Hobby ihren Untertanen näherkommen, in denen sie bisher keine Individuen hat sehen können, weil sie sich in ihrer Gegenwart alle gleich benehmen. «Sie war eine echte Demokratin, vielleicht die einzige im ganzen Land.» Beim Lesen fühlt sie sich in ihre Jugend im Krieg zurückversetzt, als sie sich mit ihrer Schwester in Uniform unter das Volk mischte. Der Titel der deutschen Übersetzung ist treffend, weil die Königin im Reich der Bücher eine Freiheit wiederfindet, die ihr die parlamentarische Verfassung genommen hat. Wie die Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige ist, so sind es Zeichen der Befreiung, dass die Königin ihre Höflinge warten lässt, ihre Garderobe vernachlässigt und in der Kutsche heimlich weiterliest, während sie mechanisch winkt.
Der Originaltitel «The Uncommon Reader» parodiert Virginia Woolf. Auch die über das gemeine Volk erhabene Leserin ist ein «common reader» insofern, als sie keine literarische Bildung hat. Sie wäre ja nicht auf den Bus angewiesen, da sie in jedem ihrer Schlösser eine eigene Bibliothek vorfindet. Dort stehen allerdings die Lederbände hinter Gittern, und ein Test ergibt, dass diese Orte sich in Wirklichkeit zum Lesen nicht eignen.

Mit größter komischer Wirkung verquicken sich im autodidaktischen Lektürekurs der Königin Weltfremdheit und soziale Intelligenz, beide genährt durch Lebens­umstände absoluter Künstlichkeit. Schon in seinem Theaterstück «A Question of Attribution» ließ Bennett Elisabeth II. auftreten, um ihre natürliche Klugheit über den kultivierten Verstand ihres der Spionage überführten kunsthistorischen Ratgebers Anthony Blunt siegen zu lassen.


Unsentimental, streng und weise

Das zweite Buch, das die Königin entleiht, sind die «Englischen Liebschaften» von Nancy Mitford. Beim Blick auf den Namen der Autorin fallen ihr die Adelskalendereinträge sämtlicher Mitford-Schwestern ein, inklusive der faschistischen Mesalliancen. «Selten konnten Romane so gute Verbindun­­gen aufweisen wie dieser, und mit entsprechender Überzeugung reichte die Queen Mr Hutchings das Buch zum Abstempeln.» Aufgewachsen in einer Welt, in der nur das Persönliche wirklich ist, verwechselt die Königin die Autorin und das Werk. So muss sie erst lernen, dass sie die Dichter keineswegs kennt, denen sie Ordenszeichen angeheftet hat.

Wie Nancy Mitford in ihren Romanen die Konventionen ihrer Kindheitswelt durch satirische Übersteigerung und roman­tische Überbietung sprengt, so emanzipiert sich beim hingerissenen Lesen das Ich der Königin vom Man. In einem zweiten Schritt lernt sie dann, die Form zu erkennen und die Konvention wieder zu schätzen. Sie nimmt Ivy Compton-Burnett noch einmal vor: «Ihr ging auf (und sie schrieb es am Morgen nieder), dass Lesen unter anderem auch eine Fertigkeit war, die sie inzwischen offenbar trainiert hatte.» Ihr schwuler Mitleser hat ihr ganz gewiss nicht die Begriffe der feministischen Literaturtheorie in der Nachfolge Virginia Woolfs nahegebracht, ganz von selbst kommt sie nun darauf, dass Ivy Compton-Burnett «eine Stimme» hat, «unsentimental, streng und weise».

Damit ist auch der Ton des Lakonikers Alan Bennett nicht schlecht umschrieben. In demselben Stil verfasst seine Königin die Notizen, in denen sich ihre Lektüre schließ­lich kristallisiert. Bei allem Witz ist das kleine Buch wieder wie das Stück «The History Boys» und die ebenfalls bei Wagen­bach erschienene Erzählung «Così fan tutte» eine Studie über Bennetts Hauptthema des ungelebten, nachgeholten, durch Literatur vertretenen Lebens. Wie die Königin der einzige Demokrat sei, so hat er einmal notiert, sei er wohl der letzte Monarchist in England. In der Außenseiter-Existenz vor aller Augen, die der Monarch zu führen verdammt ist, erkennt der Schriftsteller, zu dessen Obsessionen Peinlichkeit und Diskretion gehören, offenkundig seine eigene Lebenslage. Eine Art komischer «King Lear» ist sein Stück über den Wahnsinn König Georgs III., der hier wieder Erwähnung findet: als letzter Leser auf dem englischen Thron.

Als die Königin vor dem sonst nur während der Thronvakanz zusammentretenden Geheimen Staatsrat ihren Entschluss verkündet, Autorin zu werden, beruft sie sich auf Königin Viktoria, die das Tagebuch ihrer Urlaube im schottischen Hochland drucken ließ. Viktorias Premierminister Benjamin Disraeli, einer der berühmtesten Romanciers seiner Zeit, richtete an die Königin die Anrede: «We authors, Ma’am.» Alan Bennetts Erzählung ist eine so kühne wie loyale Variation auf Disraelis brillantes Kompliment.
Wir meinen Elisabeth II. so gut zu kennen wie keinen Menschen auf der Welt, obwohl wir von ihr gar nichts wissen. Dass alles zu ihr zu passen scheint, was Bennett ihr andichtet, ist der Triumph der literarischen Phantasie, dessen lebensverändernde Kraft die Erzählung feiert. Ob die Queen denn wohl «Die souveräne Leserin» gelesen hat? Wir wünschen es. Man fürchtet es. Sie weiß es.

 

Patrick Bahners ist Historiker und leitet das Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»

 

Alan Bennett
Die souveräne Leserin
Aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Wagenbach, Berlin 2008. 116 S., 14,90 €

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