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(Umbanda-Altar, Rio de Janeiro, Foto: J. G. Filho) Der dreizehnte Apostel

Rückkehr der Religionen? - Die Faszination des dreizehnten Apostels

Warum die Ausrufung einer Wiederkehr des Religiösen in der postsäkularen Gesellschaft mit Skepsis zu betrachten ist

Seit einigen Jahren sieht die populäre Trendforschung eine «Wiederkehr des Religiösen». Seit den Debatten um einen möglichen Clash of Civilizations, seit den Balkankriegen und erst recht seit dem 11. September 2001 wird gar ein neues Zeitalter der Religionskriege proklamiert. Zugleich vermehren sich die Anzeichen für eine dauerhafte Krise religiöser Institutionen, die von Austrittswellen und polemischen Konflikten – zumindest in West- und Zentraleuropa – erschüttert werden. Nicht umsonst schrieb Joseph Kardinal Ratzinger zum Millennium: «Am Beginn des dritten christlichen Jahrtausends befindet sich das Christentum gerade im Raum seiner ursprünglichen Ausdehnung, in Europa, in einer tief gehenden Krise, die auf der Krise seines Wahrheitsanspruches beruht.»

Dieser Diagnose kann mit dem Verweis auf religiöse Elemente der «Erlebnisgesellschaft» ebenso wenig begegnet werden wie mit der historischen Erinnerung an die ebenfalls häufig diffusen und synkretistischen Entstehungsphasen der so genannten Hochreligionen: Auch wenn beispielsweise das Christentum oder der Islam in ihren Anfängen mit Sekten unserer Zeit verglichen werden können, so ist doch entschieden zu bezweifeln, dass die sozialen, kulturellen und technologischen Rahmenbedingungen der Moderne den Aufschwung einer neuen – oder auch nur die Wiederbelebung einer alten – Hochreligion ermöglichen.

Seit dem Sieg der Aufklärung und ihrer Religionskritik – mit der Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat, der Widerlegung der Gottesbeweise, der Historisierung heiliger, kanonisierter Schriften (insbesondere der Bibel), aber auch mit der Forderung nach Religionsfreiheit und Toleranz – sind die Religionen zunehmend aus der Sphäre des Kults in die Sphäre der Kultur abgewandert. Sie haben sich im Zuge dieser Emigration, die mit der Kategorie «Säkularisierung» nur teilweise erfasst wird, aufgespalten: in die rationalen Gestalten einer «Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft» und in die individualistischen Glaubensformen beliebiger Privatkulte. Darum ist es auch kein Zufall, dass die gesell­schaftlich relevanten «Entzauberungs»- und Rationalisierungs- prozesse seit dem frühen 19. Jahrhundert von einem Aufschwung esoterischer oder mystischer Bewegun­gen (zwischen Spiritismus und Monte Verità, Madame Blavatsky und den nordamerikanischen Pfingstgemeinden) begleitet wurden. Die Etablierung der Civil Religions – die sich im Wesentlichen auf Humanitätsideale gründen, wie sie in den Erklärungen der Menschenrechte nach der Amerikanischen und der Französischen Revolution formuliert wurden – ermöglichte geradezu die Karriere von zahllosen Private Religions, die sich am «Imperativ der Häresie» (Peter Berger) orientierten.


Ein Goldenes Zeitalter im arabisch-jüdischen Spanien

Wahrscheinlich hat die Geschichte dieser Trennung zwischen zivilrationalen und individualistisch-privaten Religionsformen bereits im hochmittelalterlichen Spanien begonnen – zur Zeit der so genannten Convivencia zwischen Juden, Christen und Moslems. Diese mehr als zwei Jahrhunderte umfassende Epoche lässt sich erstens charak­terisieren als eine Ära wissenschaftlich-technischer Inno­vationen, die nahezu alle Wissensgebiete – Astronomie, Optik, Medizin, Mathematik, Philosophie – betraf; diese Neuerungen verdankten sich einem lebhaften Wissens-, Kultur- und Technologie-Transfer von den Zentren des arabischen Reichs nach Westeuropa. Sie lässt sich zweitens beschreiben als eine Zeit des intellektuellen und interreligiösen Dialogs, der bis zur Einrichtung eigener Übersetzerschulen (etwa in Barcelona) führte. Und sie lässt sich drittens kennzeichnen als eine Ära des Aufschwungs mystischer Erfahrungsreligiosität, und zwar in allen drei Hochreligionen.

Just unter dem Regiment des Islam, im Zeitalter der Kreuzzüge und der Reconquista – vom 11. bis zum 14. Jahrhundert – erlebte Spanien also eine bemerkenswerte Blütezeit der Begegnung und Integration griechischer, arabischer, jüdischer und lateinisch-christlicher Wissenschaft und Spiritualität. Dem Synkretismus von Granada, Córdoba, Toledo, Sevilla und Barcelona entsprangen nicht nur bedeutende intellektuelle Leistungen, sondern auch jene universal-religiösen und mystischen Impulse, die bis heute den einzi­gen Horizont einer möglichen Versöhnung zwischen den drei anta­gonistischen Weltreligionen des Judentums, des Christentums und des Islam zu bilden scheinen.

Religion nach der Religion

Im 12. und 13. Jahrhundert wurde der Reichtum der griechischen Philosophie für das abendländische Denken erschlossen. Der spanischen Kultur dieser Zeit verdankte die europäische Wissenschaftsgeschichte die Entwicklung logischer Klassifikationsmodelle, die bis ins späte 17. Jahrhundert nachwirken sollten. Was ich an der spanischen Geisteswelt vor 1492, dem Jahr des Ver­treibungs-Edikts von Granada, wahrzunehmen glaube, ist die Trias der religiösen Lage in der Moderne: erstens der Durchbruch wissenschaftlicher Kategorien und Ordnungs­systeme, zweitens die Entwicklung universalreligiöser – die Grenzen historisch gewachsener Religio­nen systematisch über­schrei­tender – Kulturen der Übersetzung und des Dialogs sowie drittens der Aufschwung mystischer Erfahrungsreligiosität ohne institutionelle oder kanonische Bindung. In gewissem Maße haben die Renaissance- und Barockwissenschaften die Ideengeschichte Spaniens fortgesetzt. Und es war nicht umsonst ein portugiesisch-marranisch geprägter jüdischer Denker in den Niederlanden, der das spanische Erbe gleichsam in konzentrierter Gestalt an die Moderne überlieferte: Baruch de Spinoza. Seine «Ethik» von 1677 kann auch als eine systematisch-rationale Theologie interpretiert werden; und sein «Theologisch-politischer Traktat» (1670 anonym publiziert) enthält nicht nur die Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat, sondern auch das Programm der Historisierung so genannter heiliger Schriften und Quellen. Spinozas Werke übten einen beträchtlichen Einfluss auf die deutsche Aufklärung aus; Leibniz, Lessing, Moses Mendelssohn oder Herder übernahmen, jeweils auf ihre Weise, spinozistische Gedanken und Ideale.

Vor diesem historischen Hintergrund ist es missverständlich, unter Bezug auf aktuelle Zukunftsprognosen von einer Wiederkehr des Religiösen in der Postmoderne zu sprechen. Soweit ich sehen kann, sprengt keine gegenwärtige Strömung die grundsätzliche Trennung zwischen rationaler Zivilreligion (gleichgültig, ob sie sich in wissenschaftlichen Programmen oder in Humanitätsidealen verkörpert) und den vielfältigen Privatreligionen, die sich – etwa in der Esoterik – auf nicht verallgemeinerbare Erfahrungen und Erlebnisse berufen. Was in Starkults oder in subkulturellen Inszenierungen wie der Love-Parade zum Ausdruck kommt, generiert kein neues Wissen, sondern funktioniert allenfalls nach dem Motto: Wer in der Geisterbahn fahren kann, muss noch nichts von Geistern verstehen (um vom Geist selbst schamhaft zu schweigen). Und umgekehrt bringt die moderne, wissenschaftliche Rationalität keine Kultformen hervor, sondern allenfalls Alltagsrituale ohne kollektive Verbindlichkeit.

Diese These lässt sich auch auf die Diskussionen über die «Religion nach der Religion» beziehen. Während der Philosoph Ernest Gellner betonte, der Nationalismus sei die Religion der Industriegesellschaft, vertraten andere Theoretiker (wie Jean Baudrillard oder Neil Postman) die These, dass die modernen Massenmedien die Funktionen der Religionen übernommen haben. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass nationalistische Bewegungen oder die Massenmedien tatsächlich religiöse Inhalte transportieren oder gar als Instanzen einer «Wiederverzauberung» und Resakralisierung fungieren. Der Fernsehmoderator ist kein Messias (auch wenn er das «Wort zum Sonntag» ankündigt oder für die moralische Erneuerung der Nation eintritt), und das ebenso wenig wie der Anführer einer nationalistischen Bewegung, der seine Kulte, Rituale und Mythen jeweils neu erfinden muss, ohne sich auf tradierte Vorstellungen und religiös normierte Praktiken verlässlich stützen zu können.


Zweierlei Deutungen der Kreuzigung Christi

Nicht nur die Trendforschung und das Feuilleton, sondern auch die Philosophie befasst sich mit dem Anschein einer Wiederkehr der Religion. Am 28. Februar 1994 organisierten Jacques Derrida und Gianni Vattimo einen Workshop auf der Insel Capri, annonciert als Gespräch unter Freunden. Thema dieser Unterredungen sollte die Religion, ihr Ende oder ihre Renaissance, sein, formell im Gegensatz zum Zeitgeist, der nicht «heiliger Geist» sei, wie Vattimo – inzwischen zum Katholizismus konvertiert – in seiner Vorbemerkung bekennt.

Die Spannung zwischen universalreligiösen Motiven und erfahrungsreligiösem Privatglauben prägte freilich auch diese Zusammenkunft. So fragt Derrida in seinem umfangreichen Beitrag, wie denn eine Religion gedacht werden könne, «die heutzutage als universale Religion wirksam wäre und die sich nicht wiederum in eine ‹natürliche Religion› zurückverwandeln würde? … Wie würde der Entwurf für das ‹Buch› einer solchen Religion aussehen?» Im Anschluss an Kants Unterscheidung der beiden Quellen des Religiösen im Kultischen und im Moralischen – die wiederum der Differenz zwischen privatreligiösen und universalreligiösen Motiven nahe kommt – plädiert Derrida dafür, am «unüberbrückbaren» Abstand zwischen der «Eröffnung einer Möglichkeit (als universaler Struktur) und der bestimmten Notwendigkeit dieser oder jener Religion» festzuhalten. Dieser Abstand lasse sich – als konstitutiver Widerspruch – in jeder einzelnen Religion entdecken. Dagegen spricht Vattimo – auch in seinem Buch «Dopo la cristianità» – von einer «Spur der religiösen Erfahrung», die gerade nach dem Ende der «Großen Erzählungen» wieder sichtbar werde. Sein Engagement für die «Plausibilität» der christlichen Religion gründet sich dabei auf das Postulat, die «Überwindung der Metaphysik» dürfe «nicht als Nihilismus erfolgen».

Das Projekt einer Apologie des Christentums vereint auch so unterschiedliche Theoretiker wie René Girard und Slavoj Zizek. Während Girard das Christentum gerade in seiner biblisch-theologischen Gestalt als unverzichtbare Aufklärung der psychosozialen Mechanismen des Gründungsopfers und der Gewalt gegen Sündenböcke verteidigt (siehe auch «Buch des Monats», S. 50), schlägt Zizek – als «altmodischer, bedingungsloser Atheist (dialektischer Materialist gar)» – die «Rückkehr zu der dem Christentum zugrundeliegenden symbolischen Struktur» vor. Girard deutet die Kreuzigung Christi als notwendig performative – und daher zugleich ultimative – Kritik einer mythischen Opfergewalt. Zizek wiederum erklärt die Passion zu einer grandiosen «Geste der Verausgabung», die jede Logik des Tauschs und der Bezahlung aufhebe. «Es ist so, wie wenn wir in unserem Alltagsleben jemandem ‹beweisen› wollen, daß wir ihn/sie wirklich lieben, und dies nur mittels einer überflüssigen Geste der Verausgabung tun können. Christus ‹zahlt› nicht für unsere Sünden; Paulus hat deutlich gemacht, daß eben diese Logik der Bezahlung, des Tausches, gewisser­maßen die Sünde selbst ist und die Wette von Christi Tat darin besteht, zu zeigen, daß diese Kette des Tausches durchbrochen werden kann. Christus erlöst die Menschheit nicht dadurch, daß er den Preis für unsere Sünden entrichtet, sondern indem er uns zeigt, daß wir aus dem Teufelskreis von Sünde und Vergeltung ausbrechen können.» Auch für Girard eröffnet das Christentum die einzig veritable Chance, Satan nicht mehr mit Beelzebub austreiben zu müssen. Wie Zizek empfiehlt er die Haltung eines «authentischen radikalen Fundamentalismus», die Chance auf «Erlösung» verbunden mit einer gesteigerten Wahrnehmung von Freiheit und Verantwortung.

 

Plädoyer für ein Esperanto der Religionen

«Das Christentum», so Zizek, ist «von Anbeginn an die Religion der Moderne.» Mit diesem Resümee folgt der slowenische Philosoph der These Hegels vom Christentum als der universalen Religion nach der Religion, einer Aufhebung der Religion – wenngleich selbst noch in religiöser Gestalt. Dieses Programm eines religiösen Universalismus verfolgt auch der Grazer Philosoph Peter Strasser in seiner «philosophischen Grenzüberschreitung», die den «Gott der Philosophen» (Wilhelm Weischedel) zum «Gott aller Menschen» erhebt. Im Anschluss an die Argumentationsfiguren einer negativen Theologie fordert er, den «Zusammenhang zwischen religiösem Universalismus und moderner Religiosität» zu konkretisieren, freilich nicht im Sinne eines ahistorisch-transsubjektiven Begriffs vom «Heiligen». Der «Gott aller Menschen», so legt es Strasser zumindest implizit nahe, ist kein anderer als der christliche Gott; er müsse nicht eigens neu erfunden werden, gleichsam als Überschrift eines inhaltsleeren «Religions-Esperanto».

Strassers Universalismus beruft sich häufig auf Fragen der Lebenskunst, etwa der ars moriendi; darin wird die Möglichkeit einer individuellen, privatgläubigen Aneignung des religiösen Universalismus behauptet. Ähnlich verfährt der Münchner Religionswissenschaftler Michael von Brück, wenn er die Frage nach «Religion und Spiritualität in einer Welt ohne Maß» unter die Leitfrage stellt: «Wie können wir leben?» Anders als Strasser betont er durchaus die positive Pragmatik eines «Religions-Esperanto», beispielsweise eines christlichen Buddhismus. «Es ist wie der Einstieg in einen tiefen Schacht ohne Treppen», heißt es zum Ende seiner Einleitung. «Ich werde gehalten nur durch das Abstützen von Füßen und Händen an den Einstiegswänden. Die eine Wand ist für mich das Christentum, die andere die buddhistische Übungspraxis.»


Die Renaissance des Saulus/Paulus

Die eine Wand des Schachts, so könnte man folgern, besteht aus einer universalreligiösen Struktur, in der Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Christentum miteinander zu verschmelzen scheinen; die andere Wand errichtet sich aus individuellen spirituellen Praktiken und Erfahrungen. Nicht zufällig beruft sich Michael von Brück – in seiner Charakterisierung des Christentums – auf den ersten Korintherbrief von Paulus. Seit mehr als hundert Jahren reüssiert der «dreizehnte Apostel» als die Schlüsselfigur jeder Beschäftigung mit der religiösen Lage der Moderne. Saulus/Paulus wird dabei einerseits (wie etwa bei dem Religionsphilosophen Jacob Taubes) wahrgenommen als der jüdische Intellektuelle, der den nationalen Monotheismus Israels in eine universale Religion transformieren wollte; andererseits gilt er als der erste Gnostiker (spätestens seit Elaine Pagels und ihrer Studie «The Gnostic Paul» von 1975), dessen religionspolitische Sendung einer persönlichen, nicht verallgemeinerbaren Erfahrung entsprang. Die Anrufung vor Damaskus, der Sturz vom Pferd und die anschließende vorübergehende Blindheit – Erleuchtungen sind gefährlich für die Augen – figurieren seither als die Grundszene einer Konversion, einer restlos überzeugenden Bekehrung, vergleichbar einzig der Begegnung des Moses mit dem brennenden Dornbusch.

Die paulinische Konversion und seine Missionsarbeit bilden eine Einheit, die gleichsam die religiöse Lage der Moderne vorwegnimmt. Daher braucht es nicht zu verwundern, dass Paulus gerade in den letzten Jahren eine Reihe von neuen Kommentaren provoziert hat. Ebenso wenig erstaunt es, dass diese Kommentare einander in entscheidenden Punkten widersprechen. Während Zizek die «gewaltige Dimension der paulinischen agape», der Liebe, die «alles hofft» und überbietet, in Erinnerung ruft, plädiert der Theologe Gerd Lüdemann für eine «Musealisierung» des Apostels. Sein Erbe wird als «gefährlich» dargestellt, ja sogar als «trauriger Verrat an der Vernunft». Paulus sei am Universalismus seiner Mission gescheitert. Sein «religiöser Eifer», so Lüdemann, neige zum «Fanatismus», sein Monotheismus zum Totalitarismus.

Der Göttinger Theologe will von Paulus nichts mehr wissen, ganz anders offenbar als sein Kollege Klaus Berger von der Universität Heidelberg, der Paulus gerade als den Begründer eines ethischen Universalismus portraitiert. Die «Bedeutung des Apostels Paulus und seiner Briefe für die Gegenwart», so resümiert Berger am Ende seiner eben erschienenen Paulus-Monografie, bestehe eben darin, dass er als «Anwalt einer globalen, auch den Kosmos einbeziehenden Theologie» auftrete, ohne dabei den «Vorrang Israels» zu leugnen; seine Ethik des Machtverzichts (etwa im Römerbrief) sei gerade­zu «revolutionär».


Kronzeuge der religiösen Lage von heute

In den späten neunziger Jahren wurde die Pauli­ni­sche Botschaft offenbar auch am Collège International de Philosophie in Paris intensiv diskutiert. Diesen Diskussionen verdankt sich beispielsweise Alain Badious Studie «Saint Paul», die von einer «fondation de l’universalisme» handelt, von einer «contemporanéité de Paul», die aus den Prämissen seiner Briefe gefolgert werden könne: der Konstruk­tion des Religiösen aus dem Ereignis der Auferstehung Christi und der Einsicht in die Subjektivität der Wahrheit – gegen das jüdische Gesetz und gegen die griechische Weisheit.

Im Anschluss an Jacob Taubes und dessen Vorträge von 1987 zur Politischen Theologie des Paulus unternahm auch der italieni­sche Philosoph Giorgio Agamben, gleichfalls zunächst am Collège International, eine Neulektüre des Römerbriefs, des Gründungsdokuments der so genannten «Heidenmission». Sein exegetischer Kommentar legt den Schwerpunkt nicht auf den religiösen Universalismus (der erst mit der Er­he­bung des Christentums zur römischen Staatsreligion wirksam wurde), sondern auf die messianische Konstruktion der «Jetztzeit», die Agamben im Horizont der «Geschichtsphilosophischen Thesen» Walter Benjamins zu interpretieren versucht. Die Paulinischen Briefe und die Thesen Benjamins, so resümiert er, bilden – als die bedeutsamsten messianischen Texte unserer Tradition – eine Konstellation, die erst heute sichtbar werde.

Gegen die Kritik und die Reserven theologischer Lektüre erklären also Agamben wie Badiou (und natürlich auch Zizek) den dreizehnten Apostel zum Kronzeugen für die religiöse Lage der Gegenwart. Weder der Universalismus noch der Messianismus können indes unter dem Gesichtspunkt einer Wiederkehr der Religionen angemessen charakterisiert werden. Denn die Religionen der Vergangenheit gründeten sich nicht auf die universale Rationalität eines «Gottes aller Menschen» oder auf die messianische Überbietung der Geschichte zur «Jetztzeit» (wie Agamben mit Paulus und Benjamin argumentiert). Sie ermöglichten häufiger fortdauernden Bestand und Ordnung der Zeit als ihre Sprengung; sie wurden wirkungsmächtig nicht als Ereignisse und Offenbarungen, sondern als Geschichte von Texten, Institutionen, Erzählungen und Ritualen. Noch im Mittelalter bedeutete der Ausdruck «religionem intraverunt» schlicht: Sie traten ins Kloster ein. Wer weiß schon, wie viel Überlebenskraft die christliche Religion gerade aus den alltäglichen Instru­men­ten des Stundengebets, des Kirchen­jahrs und der Sakramente gezogen hat – und nicht aus der Kritik an Opfergewalten oder ökonomischen Systemen!

Émile Durkheim hat in seiner Religionstheorie zu Recht behauptet, dass die Religionen der Vergangenheit als Selbstreflexions- und Thematisierungsformen der jeweiligen Gesellschaften begriffen werden müssen. Erst eine solche kategoriale Betrachtung ermöglicht die Frage, wie die modernen Gesellschaften ihre Selbstverständigung leisten. Und an dieser Stelle kommen Zweifel auf, die weniger auf eine düstere Dialektik der Aufklärung zu beziehen sind, als vielmehr auf die – auch gegenwärtig kontrovers diskutierte – Frage nach verbindlichen symbolischen Repräsentationen des gesellschaftlichen Zusammen­halts. Wie wird der «soziale Kitt» erzeugt, der die komplexen post-industriellen Gesellschaften im Innersten zusammenhält? Und spielen dabei die Religionen – deren prophezeite, ja erwünschte Wiederkehr – tatsächlich eine nennenswerte Rolle?

 

Thomas Macho ist Professor für Kultur­geschichte und Mitbegründer des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

Zitierte Literatur Giorgio Agamben
Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani
Bollati Boringhieri, Turin 2000. 178 S., 17,50 €

Alain Badiou
Saint Paul. La fondation de l'universalisme
Presses Universitaires de France / Les Essais du Collège International de Philosophie, Paris 1997. 128 S., 10,50 €

Klaus Berger
Paulus
C. H. Beck, München 2002. 128 S., 7,90 €

Michael von Brück
Wie können wir leben? Religion und Spiritualität in einer Welt ohne Maß
C. H. Beck, München 2002. 203 S., 17,90 €

Jacques Derrida, Gianni Vattimo
Die Religion
Aus dem Französischen und Italienischen von Hella Beister, Alexander Garcia-Düttmann, Ulrich Kunzmann und Johannes Türk.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001. 220 S., 11 €

René Girard
Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums
Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh.
Hanser, München 2002. 256 S., 21,50 € (siehe auch S. 50)

Gerd Lüdemann
Paulus, der Gründer des Christentums
Zu Klampen, Lüneburg 2001. 250 S., 19 €

Elaine Pagels
The Gnostic Paul. Gnostic Exegesis of the Pauline Letters
Trinity Press International 1992. 192 S., 18,44 €

Peter Strasser
Der Gott aller Menschen. Eine philosophische Grenz­überschreitung
Styria, Graz/Wien 2002. 208 S., 16,90 €

Jacob Taubes
Die politische Theologie des Paulus
Hg. von Aleida Assmann und Jan Assmann.
W. Fink, München 1995. 200 S., 22 €

Gianni Vattimo
Dopo la cristianità
Garzanti, Mailand 2002. 160 S., 13 €

Slavoj Zizek
Die gnadenlose Liebe
Aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001. 188 S., 9 €

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