- Der erste Prominente der Weltgeschichte
Hochstapler, Wahrsager, Wunderheiler und Verschwörer: Das abenteuerliche Leben des Grafen Cagliostro und seine Nachwirkungen bis heute
Geboren wurde Giuseppe Balsamo am 2. Juni 1743 in Palermo; als Graf Cagliostro ist er noch heute bekannt, führte er doch ein Leben, das sagenhaft zu nennen nicht untertrieben ist. Balsamo stammte aus einfachen Verhältnissen, gleichwohl war es ihm möglich, Schulen und Seminare zu besuchen, von denen er dann zumeist rasch wieder verwiesen wurde. Schließlich trat er – als Novize und Apothekergehilfe – in ein Kloster der Barmherzigen Brüder ein. In diesem erwarb er Kenntnisse der Medizin, Alchemie und Pharmazie, der Astrologie und Magie.
Das Kloster konnte ihn nicht lange halten; Balsamo provozierte – so will es die Legende – seinen Ausschluss, indem er bei einer Morgenlesung aus dem Martyrologium die Namen der Heiligen durch die Namen stadtbekannter Huren ersetzte. 1769 fuhr Cagliostro nach Griechenland, Ägypten und Vorderasien und bemühte sich auf Malta um die Gunst des Großmeisters der Malteser-Ritter. In Rom heiratete er wenig später die schöne Lorenza Feliciani, Tochter eines Gürtlermeisters. Mit ihr bereiste er London und Paris, verkaufte allerlei Tinkturen, Lebenselixiere und Schönheitswässerchen, betätigte sich auch als Goldmacher und Geisterbeschwörer. Nach kurzen Aufenthalten in Holland und Deutschland, in Malta, Neapel, Marseille und Spanien wurde er – wieder in London – in den Freimaurerorden aufgenommen, wo er in kurzer Zeit einen bemerkenswerten Aufstieg absolvierte. Er gründete eine ägyptische Loge (mit eigenem System und eigenen Ritualen), bezeichnete sich selbst als «Großkophta» und als Sohn eines Engels.
Verstrickt in die Halsbandaffäre
Weiter ging es. Auf Umwegen über Frankfurt und Straßburg,
Berlin, Petersburg und Warschau kam Cagliostro 1783 nach
Frankreich, wo er dem Kardinal von Rohan begegnete, den er bereits
in Straßburg kennen gelernt hatte. In Lyon gründete er zunächst
eine weitere Loge seines ägyptischen Ordens, bevor er in Paris
wenig später in die berüchtigte «Halsbandaffäre» verstrickt wurde:
eine peinliche Betrugsgeschichte, in deren Verlauf dem Kardinal von
Rohan die Gunst Marie Antoinettes (durch eine
Doppelgängerin) vorgegaukelt wurde, was danach zum Kauf – und
Diebstahl – eines kostbaren Diamanthalsbandes für die Königin
führte.
Der Prozess endete 1786 zwar mit einem Freispruch des Kardinals, ließ aber die unpopuläre Königin in wenig günstigem Licht erscheinen. Cagliostro wurde vorübergehend in der Bastille inhaftiert und 1786 aus Frankreich verbannt. Ausgerechnet im Revolutionsjahr 1789 kam seine abenteuerliche Karriere dann abrupt zum Ende: Der Graf wurde in Rom verhaftet und vom Inquisitionsgericht zum Tode verurteilt. Zwar wandelte Papst Pius VI. das Urteil in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe um; doch starb Giuseppe Balsamo wenige Jahre später – am 26. August 1795 – in Festungshaft auf San Leone bei Rimini. Und Lorenza, seine Frau, verschwand in einem Strafkloster.
Cagliostros Leben – kein übermäßig langes – wurde skandiert von Affären, Kerkerstrafen und Verbannungen. Umso auffälliger ist darum die gewaltige Wirkungsgeschichte, die er entfacht hat und die bis heute anhält. Sie ist eindrucksvoll, weil man sich zur Not vorstellen kann, von einem gegenwärtigen Charismatiker in Bann geschlagen zu werden; aber nur in den seltensten Fällen überlebt dieser Bann die nachfolgenden Generationen und Jahrhunderte. Wer spricht heute noch – trotz Peter Sloterdijks «Zauberbaum» – vom Marquis de Puységur, dem mutmaßlichen Entdecker der Hypnose? Oder von Franz Anton Mesmer, seinem Lehrer? Wer spricht noch vom Abbé Alphonse Louis Constant, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – unter dem Pseudonym Eliphas Lévi – die französische Avantgarde faszinierte?
Ein Denkmal in Mozarts «Zauberflöte»Über Cagliostro haben dagegen nicht nur Casanova, Goethe, Schiller, Friedrich Nicolai, William Blake, Thomas Carlyle, Alexandre Dumas, Walter Benjamin oder Umberto Eco – polemisch und fasziniert zugleich – geschrieben; es war Mozart, der ihm mit der Gestalt des Sarastro in der «Zauberflöte» ein unvergängliches Denkmal setzte. Wer die zahlreichen Bilder, Portraits und Büsten Cagliostros betrachtet, kann diese Wirkung nicht verstehen: Er sieht einen ebenso fülligen wie sanften und offenbar freundlichen Mann – keinen Dämon, aber auch keinen Magier und Herzensbrecher.
Cagliostro, gesuchter Gesprächspartner von Kardinälen, Königinnen und Gelehrten, der sich selbst gelegentlich mit Ahasver, dem «ewigen Juden», identifizierte, wandert dennoch durch die Texte und Epochen. Nach wie vor erscheinen, auch jenseits von Jubiläen, immer wieder neue Biografien und exemplarische Analysen über Balsamo und die «dunkle Seite der Aufklärung». Erst 1991 gab Klaus H. Kiefer (in der bei C. H. Beck und Kiepenheuer verlegten «Bibliothek des 18. Jahrhunderts») einen 740 Seiten umfassenden Band zu Cagliostro heraus, mit dem Untertitel «Dokumente zu Aufklärung und Okkultismus»; im selben Jahr veröffentlichte der Insel-Verlag die russische Cagliostro-Biografie von Michail A. Kusmin (aus dem Jahr 1919) unter dem Titel «Das wundersame Leben des Joseph Balsamo Graf Cagliostro». Ebenfalls bei Insel ist nun die jüngste Biografie erschienen, verfasst von Iain McCalman, Direktor des Humanities Research Centre an der Australian National University von Canberra.
McCalman hat die einschlägigen Archive besucht, um das rätselhafte Bild Cagliostros neu zu fassen, vielleicht sogar zu korrigieren. Wer die gebräuchlichen Lexika konsultiert, findet unter dem Stichwort «Cagliostro» vor allem Einträge wie Scharlatan, Hochstapler, Gaukler, Betrüger. War Balsamo also bloß ein Abenteurer, ein Dieb, der sich trickreich zunächst den Grafentitel und später das Prestige eines Wunderheilers, Wahrsagers und Magiers zulegte? Oder doch ein Verschwörer und Revolutionär, Agent der Jakobiner oder – im Gegenteil – der Jesuiten, Anführer der deutschen Illuminaten oder des wiedergekehrten Ordens der Tempelritter? Oder ein betrogener Betrüger, der den eigenen Suggestionen nicht weniger erlag als seine Zeitgenossen?
Oder war er nicht vielmehr ein Vorläufer jener modernen Individuen, die stets im Bewusstsein der Notwendigkeit handeln, sich in jeder Situation gleichsam «neu erfinden» zu müssen? War er schlicht der erste «Prominente» der Weltgeschichte, ein Mann, dessen Wirkung weder aus seiner persönlichen Erscheinung noch aus seinem Auftreten abgeleitet werden kann, sondern einzig und allein aus den Bedürfnissen und Erwartungen seines Publikums?
Auch McCalman weiß keine gültige Antwort. Doch bezeugen bereits die Kapitelüberschriften seiner Studie über den «letzten Alchemisten» eine gewisse Sympathie mit dem Grafen: als «Freimaurer», «Nekromant», «Schamane», «Prophet» oder «Ketzer» wird Balsamo apostrophiert; und zum Ende lässt McCalman ihn gar als den «Schutzheiligen» von Palermo erscheinen – als Betrüger vielleicht, aber als Betrüger mit einer «großen Seele». In Palermo beginnt auch das Buch, in der schmutzigen Marktgasse, in der das Geburtshaus Balsamos steht, ein «baufälliges Gebäude» mit einem großen Loch in der Backsteinmauer. «Ich war zwölftausend Meilen von Australien hierhergereist, um ein Loch in der Mauer zu besichtigen – ein trauriges Zeugnis des Lebens von Alessandro di Cagliostro», resümiert der Autor mit leichter Koketterie. Hat der Historiker sich tatsächlich «einen Fußabdruck, einen Geist, irgendeine Spur» erhofft, die ihn «dem Geheimnis» seines Gegenstandes hätten näher bringen können?
Wechsel zwischen Heimweh und spiritueller LeereDie unverhüllt vorgetragene Sehnsucht nach dem Authentischen, nach dem Lokalaugenschein, wirkt ein wenig verräterisch. Sie soll dem Buch – komponiert aus eigenen Recherchen und vor allem aus den nötigen Lektüren der umfangreichen Cagliostro-Literatur – das Erscheinungsbild des historischen Romans verleihen (woran auch das Verlagslektorat, wie die abschließende Danksagung kenntlich macht, nicht ganz unschuldig sein mag). Im selben Maße, in dem McCalman die Doppeldeutigkeit der Gestalt Cagliostros fortschreibt, bewegt er sich auch – mehr oder weniger souverän – zwischen den Ausdrucksformen der Literatur und der Wissenschaft.
Aber die Lust auf einen historischen Roman lässt sich nicht leicht mit den Ambitionen der Geschichtsschreibung vereinbaren, und zwar vor allem dann nicht, wenn der Verfasser sich selbst (und seine Freunde aus Palermo) immer wieder als Bürgen der dokumentarischen Erzählung einsetzt. So kommt ein stilistischer Zwitter heraus: manchmal ein Roman, in dem die Protagonisten am Frühstückstisch sitzen, «Heimweh verspüren» und innere Monologe führen, manchmal eine historische Darstellung, in der es dann wieder heißen kann, der Erfolg eines bestimmten Rituals lasse sich erklären aus dem «Gespür für die in Europa brodelnde Unzufriedenheit mit der spirituellen Leere der herrschenden Vernunft und Aufklärung, die die europäischen Philosophen propagierten».
McCalman läuft Gefahr, entweder in die Fallen der übertriebenen
Konkretion oder die der unvermittelten Abstraktion zu geraten. Und
der Leser weiß nie ganz genau, an welcher Stelle seine Lust auf
eine historisch fiktive Erzählung oder seine Neugier auf
wissenschaftliche Befunde und originelle Schlussfolgerungen
befriedigt werden sollen. Zur Spannung, die der Text durchaus zu
erzeugen vermag, gesellt sich folglich ein leises Unbehagen, das
wie eine Nachahmung der Irritationen wirkt, die
der Graf selbst vor mehr als zwei Jahrhunderten hervorgerufen
hat.
Lebenskünstler unter schwierigen Umständen
Dabei ist der Ansatz, den McCalman verfolgt, durchaus plausibel: Ihm geht es nicht um Parteinahme für oder gegen Cagliostro, sondern um eine Rekonstruktion der historisch-biografischen Kontexte im Licht gegenwärtiger Fragen und Probleme: Cagliostro als Prisma der Imaginationen seines Publikums. Und gerade dieses Publikum ist heute wieder empfänglich für «große Seelen» und intelligente Verführer. Erst neuerdings, so McCalman, leben wir wieder in einer «Cagliostro-Welt», in der die Wirklichkeit von der Vielfalt ihrer Möglichkeiten überboten wird.
Kann aber das 18. Jahrhundert tatsächlich als ein Zeitalter charakterisiert werden, in dem alles möglich war: Revolutionen, Totenbeschwörungen, Aufklärungsdebatten, Wunderheilungen? Und hat diese Form der Faszination im 19. Jahrhundert – einem Jahrhundert des Spiritismus, der Gothic Novels, der Gespensterfotografie – wirklich aufgehört?
McCalmans Sympathie für den Zauberer, für den Lebenskünstler unter schwierigen Umständen – die wenigstens nicht zur offenen Proklamation einer Wiederkehr des Religiösen oder Okkulten führt –, verstellt den Blick auf eine schlichtere Pointe der Wirkungsgeschichte Cagliostros. Der Sizilianer war, in seinem Erfolg wie in seinem tragischen Scheitern, die exemplarische Verkörperung eines schmerzhaften Trennungsprozesses, in dem nicht nur Religion und Politik, sondern auch theatralische Bühnenmagie und sakraler Kult unwiderruflich auseinander traten. Er war Ausdruck jener janusköpfigen Forderung der Aufklärung nach Religionskritik und Religionsfreiheit zugleich, in deren Schatten wir nach wie vor leben. Sonst könnten wir nicht mit mehr oder weniger ausgeprägtem Genuss Cagliostro-Biografien lesen.
Thomas Macho ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Erwähnte Bücher
Klaus H. Kiefer
Cagliostro. Dokumente zu Aufklärung und
Okkultismus
C. H. Beck, München 1991. 740 S., 24,90 €
Michail A. Kusmin
Das wundersame Leben des Joseph Balsamo Graf Cagliostro.
Roman
Aus dem Russischen von Christel Ruzicka.
Insel, Frankfurt a. M. 1991. 156 S., 12,80 €
Iain McCalman
Der letzte Alchemist. Die Geschichte des Grafen
Cagliostro
Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher und Rita Seuß.
Insel, Frankfurt a. M. 2004. 331 S., 22,90 €
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