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Big Data und Energieverbrauch - Bedrohen die Stromzähler der Zukunft unsere Freiheit?

Bald schon sollen intelligente Stromboxen exakte individuelle Verbraucherprofile erstellen. Das erleichtert zwar die Netzplanung und spart Kosten. Doch macht den Bürger abhängig vom eigenen Profil. Die Probleme beginnen, wenn er plötzlich davon abweicht und sich zum Beispiel verliebt

Autoreninfo

René Mono ist Fellow bei der Berliner Denkfabrik stiftung neue verantwortung und beschäftigt sich mit den zentralen Konflikten der Energiewende.

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Mit dem Energieverbrauch verhält es sich wie mit der Diskriminierung: Betrachtet man nur Mittelwerte, bleibt vieles unentdeckt. Benachteiligungen sind oft erst dann sichtbar, wenn gesellschaftliche Gruppen einzeln unter die Lupe genommen werden. Ähnlich ist es beim Strom. Bisher blieben spezifische Verbrauchsmuster bei einzelnen Privatkunden verborgen. Denn derzeit geht man davon aus, dass alle Privatverbraucher – gemäß dem  „Standardlastprofil“ – exakt zur gleichen Zeit die gleiche Menge Strom verbrauchen.

Doch eine unlängst veröffentliche Studie zeigt: Die tatsächliche Belastung unserer Stromnetze weicht in einzelnen Regionen um bis zu 30 Prozent vom angenommenen Durchschnitt ab. Trotzdem basiert die Planung des Netzausbaus noch immer auf Durchschnittswerten. Hinzu kommt: Viele Standardlastprofile sind fast 20 Jahre alt. Weder die gestiegene Erwerbstätigkeit von Frauen, noch der Trend zur Selbstversorgung mit Solarstrom sind eingerechnet.   

Die Zeit der Datenarmut im Energiebereich geht zu Ende


Wenn es nach den Stromanbietern geht, soll mit dem Mittelwertdenken nun endgültig Schluss sein. Ein großer überregionaler Versorger will die dummen Stromzähler endlich klug machen und plant, noch in diesem Jahr eine intelligente Strombox auf den Markt zu bringen. Das Unternehmen setzt dabei auf Algorithmen, die berechnen, welches Gerät wie viel Strom verbraucht.

So wird es möglich, die Elektro-Übeltäter im eigenen Haushalt zu identifizieren. Ein Kühlschrank, der leise aufgibt, eine Waschmaschine, die verkalkt – all dies lässt sich bald mit der digitalen Analyse des Stromverbrauchs frühzeitig erkennen. In der Stromanbieter-Sprache nennt  sich dieses Verfahren „Disaggregation“.

Lange war die Datenarmut im Energiesektor kein Problem. In einer Grundlastwelt sorgten Kern- und Kohlekraftwerke für einen stabilen Stromfluss. Abweichungen einzelner Stromkunden von der Norm waren unbedeutend. Doch dies ändert sich mit der Energiewende. Ungenauigkeiten können wir uns nicht mehr leisten. Wind- und Sonnenenergie schwanken ständig. Von einer Stunde auf die andere kann der Wind abflauen oder die Sonne verschwinden. Der Verbrauch muss flexibel auf Schwankungen reagieren.

Mit entsprechenden Daten lassen sich Unter- und Überversorgungen vorhersagen


Wenn dies nicht gelingt, sind Pannen wie zu Weihnachten 2012 vorprogrammiert. Damals schien in Süddeutschland am 24. Dezember bei über 20 Grad die Sonne am wolkenlosen Himmel. Die Photovoltaik-Anlagen erzeugten über fünf Gigawatt-Strom – ein ungewöhnlich hoher Wert für Ende Dezember. Die Menschen schalteten ihre Elektroheizungen aus und gingen an die laue Luft. Abweichungen dieser Art sieht das Standardlastprofil der Stromunternehmen im Winter allerdings nicht vor. Und insgesamt gab es viel zu viel Strom im Markt – mit  dramatischen Folgen an der Strombörse.

Stromhändler zahlten fast 75 Millionen Euro drauf. Wer in der Lage war, eine Megawattstunde Strom zu verbrauchen, erhielt dafür bisweilen über 230 Euro. Nur Privatverbraucher konnten davon nicht profitieren. Denn sie bezahlen ihren Strom in starren Tarifen.  

In einer intelligenten Stromwelt mit detaillierter Verbrauchsmessung wäre es anders gelaufen. Mit der massenhaften Analyse individueller Verbrauchsdaten nach dem Prinzip Big Data hätte man exakt berechnen können, welche Verbraucher über Weihnachten tatsächlich Strom abnehmen können – Rohstoffe wären nicht verschwendet, finanzielle Schäden verhindert worden.

Weihnachten 2012 ist ein Lehrstück: Gutes Energiemanagement hängt vor allem von der Genauigkeit der Prognosen ab.

Und diese lässt sich durch Big Data erheblich steigern. Über Monate hinweg und trotzdem bis ins Detail präzise kann analysiert werden, wer wann wie viel Energie benötigt und inwieweit sich die Nachfrage aus Wind und Sonne decken lässt. Mit entsprechenden Daten lassen sich Unter- und Überversorgungen bis auf die einzelne Kilowattstunde und je nach Region vorhersagen. So wird eine genaue Planung möglich, wann sich wie viele Verbraucher der Sonne und dem Wind anpassen können.    

Statt eines Standardlastprofils für alle wird es künftig also hunderte, vielleicht sogar tausende unterschiedlicher Profile geben, auf denen die Prognosen zum Stromverbrauch basieren. Diese werden aber nicht nur die Stromnachfrage betreffen, sondern auch die Wärmenutzung und das Mobilitätsverhalten erfassen.    

Die begonnene digitale Vermessung unserer Stromkreise hat auch ihre Schattenseiten. Neben dem Schutz der Privatsphäre stellt sich die Frage, wie wir mit Abweichungen vom Normverhalten umgehen – zum Beispiel bei der für diesen Artikel erfundenen Verbraucherin Elena Müller.

Es kostet Geld, wenn man sich nicht verhält wie gewöhnlich


Frau Müller ist eine von rund 1.500 Deutschen im Profil Pendlerin mittlerer Distanz, mit Schönwetter-Outdoor-Aktivitäten und kalter Wochentagsküche. Elena verlässt ohne Frühstück zwischen 6.45 Uhr und 7.00 Uhr das Haus und legt 15 Kilometer zur Arbeit mit dem Elektroauto zurück. Dienstags und Donnerstags geht sie – nur wenn es kalt ist – ins Fitnessstudio. Bei einer Temperatur von mehr als 15 Grad fährt sie direkt von der Arbeit zur zehn Kilometer entfernten Joggingstrecke. Unter der Woche bleibt die Küche kalt. Wenn sie frei hat, fährt sie immer Fahrrad – außer in Stunden mit mehr als 0,2 Millimeter Niederschlag pro Quadratmeter pro Stunde.

So entsteht ein vollumfängliches Verbraucherprofil von „Elena Müller“, in dessen Rahmen sie kaum Energiekosten hat. Die Probleme fangen erst an, wenn sie Dinge anders macht. Elena verliebt sich. Sie nimmt sich an einem Dienstagmorgen spontan frei und entscheidet sich zu einem romantischen Frühstück. Natürlich muss sie am gleichen Abend von ihrem Abenteuer berichten. Sie lädt spontan zehn Freundinnen zu einem Vier-Gänge-Menü ein. Den notwendigen Einkauf erledigt sie nachmittags mit dem Elektroauto – eine Fahrt von 50 Kilometern bis zum besten Delikatessengeschäft der Region. Außerdem verzichtet sie auf das Joggen, obwohl es über 20 Grad sind.

Elena Müller handelt im völligen Gegensatz zu ihrem gewöhnlichen Profil. Dafür muss sie zahlen – und zwar sowohl für die Energie, die sie außerplanmäßig verbraucht, als auch dafür, dass sie Energie nicht abgenommen hat.

Die Gemeinschaft spart Strom – und der Verbraucher bezahlt mit seiner Wahlfreiheit


Spontaneität und Ausbruch aus der Routine werden Geld kosten. Verbraucher werden bestraft, wenn ihr Verhalten schwer vorhersehbar ist. Die Gemeinschaft als Ganzes kann so deutlich Strom einsparen. Aber leidet darunter nicht die Willensfreiheit? Wer möchte sich schon die Wahlfreiheit beim Waschgang nehmen lassen?

Hinzu kommt ein ganz konkretes Dilemma: Die Deutschen lieben die dezentrale Energiewende. Sie wollen ihre Energie selbst erzeugen, weil es Autonomie verspricht. Niemand möchte von großen Energieversorgern und ihren Entscheidungen abhängig sein. Doch je dezentraler die Energiewende wird, desto notwendiger ist die digitale Vermessung und Profilbildung à la Big Data. Doch indem Big Data abweichendes Handeln sanktioniert, entsteht wiederrum eine neue Form der Abhängigkeit – diesmal vom eigenen Datenprofil. Sorgfältig zwischen dem abzuwägen, was die Energiewende erfordert, und dem, was sie uns an Freiheiten nimmt, ist eine Herausforderungen der kommenden Jahre.

Und auch eine weitere Entscheidung ist zu treffen. Unsere Energie-Infrastruktur wird – ebenso wie das Gesundheitssystem – bisher solidarisch finanziert. Ob einzelne Privatverbraucher das Gesamtsystem mehr in Anspruch nehmen als andere, war bisher unmöglich zu überprüfen. Schon alleine deshalb, weil schlicht keine Daten gesammelt werden.

Wer zu viel verbraucht, wird bestraft


Doch dies wird sich ändern. Big Data deckt auf, inwieweit jeder einzelne mit seinem Verhalten einen Beitrag zur Energiewende leistet oder eben nicht. Wenn Elena Müller notorisch bei Windstille den Trockner anwirft, stellt sie sich gegen die Energiewende. Ihr Verhalten wird in Zukunft bestraft werden.

Das erscheint nur gerecht. Aber wie ist damit umzugehen, wenn Elena nicht anders kann? Bedeutet Solidarität nicht, dass die Gemeinschaft bis zu einem gewissen Grad die Fehler und Schwächen einzelner auffängt und ausgleicht? Sollten wir dieses Prinzip nicht auch im Energiesystem aufrechterhalten? 

Willensfreiheit und Handlungsautonomie, Gerechtigkeit und Solidarität – die durch Big Data erreichbare Auflösung des individuellen Energieverhaltens zwingt uns, diese Begriffe neu zu diskutieren und neu zu definieren. Angesichts der Massivität, mit der Big Data den Markt zu durchdringen droht, ist nur eines gewiss: Wir können es uns nicht leisten, diesen fundamentalen Fragen weiter auszuweichen, nur weil die Antworten schwer fallen.

René Mono arbeitet für den Thinktank „stiftung neue verantwortung“.

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