- Wer in den Ring steigt, darf sich nicht wundern
Die Piraten reagieren trotzig auf manche Medienberichte. Das hat nicht zuletzt der Streit zwischen dem Spiegel und Marina Weisband über ein mögliches Comeback der früheren Piraten-Geschäftsführerin gezeigt. Doch wer sich freiwillig anschickt, das politische System zu verändern, darf dort keine Schonung erwarten
Manchmal siegt die Urteilsbildung über die Wahrheitsfindung. Anders lässt sich die Debatte über den Fall „Spiegel gegen Marina Weisband“ nicht erklären. Plötzlich bilden sich auf beiden Seiten Fronten: hier die Bild-Zeitung, die die Ex-Geschäftsführerin der Piraten am Dienstag zur Verliererin des Tages erklärte, dort die anwaltliche Parteimaschinerie, die mit allerlei Beispielen den Ruf der Spiegel-Redakteurin Merlind Theile im Netz zu ruinieren trachtet.
Wer letztlich im Recht ist, lässt sich freilich nicht entscheiden – es steht Aussage gegen Aussage: In ihrem Spiegel-Beitrag hatte die Autorin über ein mögliches Comeback der früheren Bundesgeschäftsführerin spekuliert. Weisband behauptete anschließend in ihrem Blog, autorisierte Zitate seien verfremdet worden. Theile bestritt dies im Spiegelblog; sie habe alle Aussagen an Weisband gemailt. Weder Weisband noch Theile äußerten sich dazu auf Cicero-Online-Anfrage.
Der Fall wäre eigentlich kaum der Rede wert – schließlich ist es für Redaktionen Alltag, Kritik von Interviewten, Betroffenen oder Lesern entgegenzunehmen – wenn hier nicht zwei Systeme aufeinanderprallen würden. Zwei Systeme, die sich durch die Reibung, die sie erzeugen, am Ende beide verändern werden.
Da ist das System Journalismus: Ein System, das sich in rund zwei Jahrhunderten zurechtgestoßen hat, das durch Despoten gestählt, durch Literaten geadelt, durch Lobbyisten immunisiert und durch die Digitalisierung beschleunigt wurde. Es ist ein System, das darauf getrimmt ist, es mit den Mächtigen aufzunehmen, deren Kampagnen kritisch zu hinterfragen, deren Sätze dreimal umzudrehen, um darin Widersprüche oder relevante Andeutungen zu entdecken. In diesem System sind Politiker durch eine innerparteiliche Ochsentour gegangen; sie haben Wahlkämpfe bestritten, Gegner ausgeschaltet, mit Journalisten gerungen. Sie haben Profis an ihrer Seite, ganze Behörden oder Ministerien, dazu eine Schar von PR-Experten und Pressebeauftragten.
In einem solchen System ist es selbstverständlich, dass der Journalist Hintergrundgespräche führt und ausgewählte Zitate anschließend autorisiert und veröffentlicht. In einem solchen System ist es auch üblich, ganz gemeine Fragen zu stellen, um Aussagen zu generieren.
Im konkreten Fall fragte der Spiegel laut Weisband „Nehmen die Rufe nach Ihnen zu?“. Sie habe geantwortet: „Es sind hauptsächlich Mentions auf Twitter, in letzter Zeit schon mehr“. Daraus habe der Spiegel das Zitat gemacht: „Die Rufe nach mir nehmen zu.“ Der Journalist Stefan Winterbauer jedenfalls nannte es im Branchendienst Meedia.de eine „alte, miese Masche, die Frage nachträglich zur Antwort umzudeuten, wie sie im Boulevardjournalismus gepflegt wird“.
Dabei ist es genau diese „Masche“, mit der politische Doppelmoral häufig am besten entlarvt werden kann. Erinnert sei an die legendäre Frage des Moderators Reinhold Beckmanns an Ex-Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 2004, ob Putin ein lupenreiner Demokrat sei. Schröder bejahte dies – und die Titelzeilen lauteten wie folgt: „Schröder: ‚Putin ist ein lupenreiner Demokrat‘“. Das ist nicht nur lauter, sondern pfiffiger Journalismus.
Das andere System, das ist das der Piraten – weniger ein System als viel mehr die Ausformung oder Parteiwerdung eines digitalen Trends. Es sind politische Novizen, auf die keine der oben genannten Regeln zutreffen. Weder haben sie lange Parteikarrieren hinter sich, noch kommunikative Ressourcen auf ihrer Seite. Ihre Wahlkampferfahrung ist minimal, regional begrenzt, und kaum älter als ein Jahr. Sie sind sympathische Neulinge, man könnte auch sagen: politische Kinder.
Seite 2: Die Piraten sind keine Profiboxer, aber trotzdem freiwillig in den Ring gestiegen
Die Frage ist also nicht, wer von beiden falsch gehandelt hat. Die Frage ist vielmehr, ob auf diese Novizen die gleichen brutalen Regeln angewendet werden dürfen, die eigentlich für gewiefte Politstrategen gedacht sind. Darf der Profiboxer mit einem Anfänger in den Ring steigen, fragte „sunrun“ in einem Kommentar und forderte mehr Fairness von den Journalisten ein, die über Piraten berichten: „Medienmacht bedeutet auch Verantwortung und Respekt.“
Zweifelsohne ist die letztgenannte Aussage zu bejahen. Verantwortung für das journalistische Handeln gilt heute wie damals; der Pressekodex, den sich die Branche selbst gegeben hat, verlangt Faktentreue und Sorgfaltspflicht. Presserechtlich ist den meisten von Piraten kritisierten Journalisten allerdings selten etwas vorzuwerfen – anders ist es nicht zu erklären, warum nach eigenen Angaben noch nie ein Pirat etwa vor der Hamburger Pressekammer klagte.
Fragen von Macht, Verantwortung und Respekt sind eben meist moralisch-ethische Fragen – und keine juristischen. Und da erleben es die Piraten tatsächlich so: Medien können äußerst hart zuschlagen. Nicht nur Marina Weisband bekam das zu spüren. In Folge von massenhafter kritischer Berichterstattung stürzten etwa der Berliner Ex-Parteivorsitzende Hartmut Semken oder Ex-Bundesvize Julia Schramm. Ihnen wurde der von Journalisten vorgehaltene Widerspruch zwischen Wort und Tat zum Verhängnis.
Zwar sind die Piraten in der Tat keine Profiboxer, aber trotzdem sind sie freiwillig in den Ring gestiegen. Eine Schonung gibt es dort, wo es um Plätze im Bundestag, wo es um Macht und Kontrolle geht, nicht. Die Piraten wussten oder hätten wissen können, dass im „politischen System“, das es für sie zu „entern“ galt, der alte Journalismus nach den alten Regeln spielt.
Dass diese Regeln funktionieren, zeigt nicht zuletzt die Piraten-Gefolgschaft selbst. Auf kritische, zugespitzte, personalisierte Medienberichte reagiert sie viel stärker als auf inhaltliche. Weisband selbst beschrieb das so: „Aber alle generieren Klicks und machen damit genau dieses Thema relevant.“ Und da Journalismus auch ein ökonomisches System ist – eines, das sich verkaufen und durch Anzeigen finanzieren muss – interessiert es sich viel mehr für die reichweitenstärkeren Themen. Oder anders gesagt: Für den frontalen Angriff.
Die Piraten sind jetzt an einem Punkt, an dem sie merken, dass sie das Spiel weder gewinnen noch die Regeln verändern können. Also reagieren sie auch wie Kinder, die laut jammern und das Spiel als unfair bezeichnen.
Dabei zeigt sich längst, dass die scheinbaren Anfänger gar nicht so machtlos sind. Was früher als Leserbrief versandet wäre, findet heute als einfacher Blogbeitrag tausendfachen Widerhall. Der einzelne, von Medienberichterstattung Betroffene kann seine digitalen Gefolgschaften aktivieren und einen Koloss wie den „Spiegel“ zu einer Stellungnahme zwingen. So etwas hat es in zweihundert Jahren Journalismus nicht gegeben. Die sozialen Netzwerke zwingen das starre System zu mehr Transparenz und Beweglichkeit. Es ist eine gute Entwicklung.
Zwischen den beiden Systemen, zwischen Medien und Piraten, herrscht mittlerweile Waffengleichheit. Im Ring haben beide ihre Taktiken und offenen Flanken. Wer dort gewinnen will, muss offensiv spielen – und das geht nicht ohne blaue Flecken.
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