- Parteitag ohne Weichenstellung
Die Piraten stehen vor dem Parteitag. Es warten strukturelle Herausforderungen und interne Probleme auf die Partei, die bei den Mitgliedern für Unsicherheit sorgen und an einer erfolgreichen Bundestagswahl zweifeln lassen
Parteitage haben in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich an Relevanz verloren. Richtungsentscheidungen oder zentrale Kontroversen finden dort immer seltener statt. Ein Grund dafür liegt in der Anpassung der etablierten Parteien an die Anforderungen der Mediendemokratie: Die Dramaturgie von Parteitagen wird von den Parteiführungen im Vorfeld minutiös geplant und von den Teilnehmern selten durchbrochen, denn selbst die Dauer des Applauses wird akribisch gemessen und schon Wahlergebnisse, die geringfügig unterhalb von Ostblockresultaten liegen, werden als Zerstrittenheit gewertet. Einen Kontrapunkt dagegen bilden die ebenso partizipatorisch, chaotisch wie ergebnisoffen angelegten Parteitage der Piraten. Diese taugen aufgrund ihrer systematischen Defizite jedoch kaum als Vorbild für eine Erneuerung der Parteitagskultur, sondern tragen ihrerseits zu den gegenwärtigen Problemen der Piratenpartei bei.
In der latent anarchischen Organisationsstruktur der Piraten stellen Parteitage bislang den einzigen Ort dar, an dem überhaupt verbindliche Entscheidungen gefällt werden können. Allerdings hat die junge Partei bislang kaum solche Debatten zu führen, geschweige denn zu einem Ergebnis bringen müssen. Sie zehrte vor allem von der Agilität ihrer Mitglieder, ihre in Wahlkampfzeiten erstaunlich effektive Organisation ließ die Piraten zur Projektionsfläche für unterschiedliche Hoffnungen auf politische und demokratische Erneuerung werden. Vor diesem Hintergrund war die Entwicklung einer profilierten Debattenkultur und effektiven Entscheidungsstruktur zwar wünschenswert, jedoch nicht zwingend notwendig.
In der momentanen Situation einer handfesten Krise der Piraten mit niedrigen Umfragewerten, rückläufiger Aufmerksamkeit und negativen Schlagzeilen wäre ihr anstehender Bundesparteitag im oberpfälzischen Neumarkt eigentlich der Ort für strategische und organisatorische Weichenstellung. Doch diese scheitert absehbarer Weise an den Defiziten der Parteiorganisation.
So ist die Piratenpartei kaum in der Lage, einen strukturierten Prozess zur Erstellung von Positionspapieren oder Forderungen für Wahlprogramme anzubieten. Zwar ist in den verschiedenen Arbeitszusammenhängen der Partei alles für eine anspruchsvolle, diskursive und kontroverse Programm- und Strategiedebatte vorhanden. Doch die losen Enden des innerparteilichen Diskurses werden nicht effektiv zusammengeführt, vielmehr blockieren sich die Piraten regelmäßig selbst.
Ein Grundproblem der Piratenorganisation liegt in der mangelnden Fähigkeit zur Kanalisation der massenhaften innerparteilichen Partizipation. Nachvollzogen werden kann dieses Phänomen aktuell anhand des 826 Seiten umfassenden Antragsbuchs zum anstehenden Parteitag. Hierin haben Mitglieder der Partei rund 270 Vorschläge zur Satzung, zum Grundsatz- oder zum Wahlprogramm eingebracht. Während des dreitägigen Parteitags lassen sich jedoch im günstigsten Fall 10 bis 20 Prozent der Anträge beraten, der Rest versickert in den Weiten der Parteikommunikation. Hierdurch entsteht natürlich Frustration an der Parteibasis und das eigentliche Pfund der Piratenpartei, die kontinuierliche Aktivität ihrer Mitglieder, droht langsam zu erodieren.
Die am Ende angenommen Anträge sind meist untauglich, um Sach-und Strategiefragen wirklich zu klären, seitdem die Piratenpartei durch das enorme Mitgliederwachstum der letzten Jahre ideologisch und kulturell sehr viel heterogener geworden ist. Anträge werden zudem oftmals so leidenschaftlich kritisiert und dekonstruiert, dass Forderungen nur in Form höchst vager Kompromisse beschlossen werden. Der Agenda der Piraten mangelt es daher insgesamt zusehends an Detailschärfte und einer konkreten politischen Zuspitzung. Entsprechend mischt sich die Partei kaum wirksam in die aktuellen Debatten über Netzneutralität, Steuerhinterziehung oder die Organisation einer transparenten Suche nach einem Atommüllendlager ein, obwohl hierzu durchaus innerparteiliche Kompetenzen zu vermuten wären.
Versuche, die Partei in diesen oder anderen Debatten zu profilieren, scheitern oftmals überdies an der destruktiven Parteikultur. Wer sich mit Forderungen und Konzeptionen vorwagt, steht latent im Verdacht, sich bloß selbst profilieren zu wollen. Prozesse der Programmarbeit erlahmen so, weil das stete Misstrauen abschreckt und dazu verleitet, lieber auf die prestigereicheren organisatorischen Aufgaben auszuweichen.
Dementsprechend wird kaum zu erwarten sein, dass auf dem nun anstehenden Parteitag die programmatische Arbeit sowie die Wahl eines Nachfolgers für den glücklosen Geschäftsführer Johannes Ponader politisch erfolgreich verlaufen werden. Dabei handelt es sich um die letzte Gelegenheit für die Piraten, ihrer bislang verkorksten Performance im laufenden Wahljahr einen anderen Dreh zu geben.
Von den Piraten wird erwartet, eine Balance aus Professionalität und dem Alleinstellungsmerkmal der Nonkonformität zu finden. Dazu müssten sie eigentlich einen konventionellen und geschickt inszenierten Parteitag abhalten, der durch zügige und mit deutlichem Votum getroffene Personal- und Sachentscheidungen wieder politische Neugier weckt. Die Chancen dafür stehen aber schlecht.
Unsere Forschungsergebnisse zeugen davon, dass viele Parteimitglieder Forderungen nach einer umfassenden organisatorischen Professionalisierung aus dem Weg gehen. Das heißt nicht, dass es keine Debatte darüber gäbe. Vielmehr nimmt sie derart viel Raum in der Parteiarbeit ein, dass kaum noch Zeit für eine inhaltliche Profilierung der Partei bleibt. So wird der anstehende Bundesparteitag wohl mindestens einen Tag in Beschlag nehmen, um über die Nutzung der Software LiquidFeedback als ständige Mitgliederversammlung zu beraten, um abermals die Aufteilung der Finanzen zwischen Bundesverband und den Landesverbänden zu erörtern und um die Regularien zur Wahl und Zusammensetzung des Bundesvorstands zu besprechen.
Kurzum, die Piraten beschäftigen sich in erster Linie mit sich selbst, belassen im Zweifel lieber alles so, wie es ist und diskutieren die gleichen Themen auf dem dann folgenden Parteitag nochmals mit der gleichen Hingabe.
Während sich die Piraten angestrengt und wenig effektiv an den internen Herausforderungen abarbeiten, fehlen Ressourcen, um programmatische Angebote an jene Wähler zu unterbreiten, die im Piratenhype 2011/12 die Partei gewählt haben oder sich eine Wahl seinerzeit vorstellen konnten. Doch um daran wieder anzuschließen, müssten die Piraten strategisch agieren, wozu sie aus genannten Gründen strukturell bislang nicht in der Lage sind. Freilich sind sie durchaus geschickt darin, Wahlen vorzubereiten, Kampagnen zu planen und Kreativitätspotentiale freizusetzen. Doch sind sie dann am besten, wenn sie reagieren können, wenn sie klare Ziele vor den Augen haben, weniger wenn sie langfristige Ideen und Prozesse entwickeln müssen. Daran klammern sich in der Partei die Hoffnungen für den Bundestagswahlkampf.
Doch diese schwindet mit jeder neuen Umfrage, die den Piraten Werte weit unter der Sperrklausel attestieren. In der Partei spürt man, dass es so nicht weitergehen kann, doch man ist unsicher, wie es weitergehen könnte. Und so dümpelt die Piratenpartei vor sich hin, sucht den richtigen Kurs, weiß aber nicht, wie und wo sie sich darüber verständigen könnte. Insofern wirkt vieles wie bei den etablierten Parteien, nur ohne Show, Botschaft und mediale Wirkung.
Alexander Hensel und Dr. Stephan Klecha sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. In einem von Otto-Brenner-Stiftung und Hans-Böckler- Stiftung geförderten Forschungsprojekt haben sie über ein Jahr lang die Piratenpartei intensiv untersucht. Ihre Forschungsergebnisse können hier eingesehen werden.
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