- „Deutschland ist meine Heimat”
Die Tochter des ersten NSU-Opfers, Semiya Simsek, wird als Nebenklägerin am NSU-Prozess teilnehmen. Im Gespräch mit Cicero Online verrät die junge Frau, was sie sich von dem Prozess erhofft, welche Antworten sie sucht und welche Botschaft sie mitbringt
Semiya Simsek ist die Tochter des ersten NSU-Opfers. Als ihr Vater Enver Simsek 2000 starb, war sie 14 Jahre alt. Jahrelang wurde vorwiegend gegen die Familie selbst ermittelt, die Verdächtigungen reichten von Geldgier der nächsten Verwandten über Drogenhandel bis hin zu Mafiaverbindungen in die Türkei. In drei Wochen erhält Semiya Simsek und ihre Familie nun die Chance, ihrerseits Fragen zu stellen - und den wahren Tätern in die Augen zu sehen.
Frau Simsek, Ihr Vater Enver war das erste Opfer in einer ganzen Serie rechtsradikaler Morde, ausgeübt von der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund. Was bedeutet Ihnen der in einem Monat beginnende NSU-Prozess?
Ich bin sehr neugierig auf diesen Prozess. Es ist der Prozess, auf den wir Jahre lang gewartet haben. Ich habe Erwartungen und wünsche mir, dass der Prozess diesen Erwartungen gerecht wird.
Welche Erwartungen sind das?
Wir wünschen uns, dass der Mord an meinem Vater und die Hintergründe dieses Verbrechens endlich vollständig aufgeklärt werden. Nach all den Jahren der Verzweiflung und der Resignation wollen wir zudem nicht mehr tatenlos zusehen, sondern als Nebenkläger im Prozess mitwirken.
Was werden Sie fragen?
Ich habe jahrelang Fragen in mir getragen, auf die ich Antworten suche. Inwieweit ich das in den Prozess einbeziehen kann, weiß ich nicht, aber ich werde es versuchen. Die drängendsten Fragen sind: Warum ausgerechnet mein Vater? Hat man ihn bewusst ausgesucht? Wie konnten die drei jahrelang im Untergrund leben?
Werden Sie Beate Zschäpe in die Augen sehen?
Ja, das möchte ich.
Wer ist diese Frau für Sie?
Sie wird der Mittäterschaft an dem Mord an meinem Vater und neun weiteren Menschen angeklagt. Mir geht es nicht um die Strafe, mir geht es um die Antworten. Nach dem Prozess möchte ich das einfach abschließen können.
Was, wenn der Prozess über zwei Jahre andauerte, wie beispielsweise der Präsident des Oberlandesgerichts München vermutet?
Meine Familie geht auch davon aus, dass der Prozess über zwei Jahre gehen wird. Das wird eine anstrengende Zeit, aber es kann nicht schlimmer werden als die letzten elf Jahre, in denen wir nicht wussten, was wirklich passiert ist. Jetzt wissen wir, was passiert ist und müssen nur noch diese zwei Jahre durchhalten.
In Ihrem Buch „Schmerzliche Heimat“ äußern Sie die Kritik, auch nach Bekanntwerden der wahren Hintergründe der Mordserie unzureichend informiert worden zu sein. Hat sich da inzwischen etwas geändert?
Von den Ermittlungsbehörden hören wir fast gar nichts mehr. Geändert hat sich nur, dass wir jetzt als Nebenkläger besseren Zugang zu allen Informationen haben.
Im Vorfeld des Prozesses in München gibt es schon wieder ganz neue Pannen…
…das ist wieder so ein Punkt, der mich so wütend macht. Der Saal ist mit 105 Sitzplätzen im Zuschauerbereich viel zu klein. Es wird über 70 Nebenkläger mit bislang 49 Anwälten, jede Menge Journalisten und Zuschauer geben. (Der Schwurgerichtssaal A101 des OLG München wird derzeit umgebaut und soll zu Prozessbeginn rund 250 Sitzplätze bieten, davon 110 Zuschauerplätze, Anm. d. Red.) Ich als Nebenklägerin habe einen festen Platz, aber wenn mein Mann mitkommen würde, muss er damit rechnen, dass er draußen bleiben muss.
Erwarten Sie während des Prozesses auch neue Enthüllungen bezüglich der deutschen Sicherheitsbehörden?
Es würde mich nicht wundern, wenn ich morgen die Zeitung aufschlage und über neue Fehler berichtet würde. Mittlerweile habe ich den Eindruck, die können nicht arbeiten, ohne Fehler zu machen.
Seite 2: Trennung von Heimat und Schmerz
Welche Rolle spielten für Sie die Medien bei der Aufarbeitung des NSU-Terrors?
Ja, das enttäuscht mich natürlich auch. Die Medien können eine sehr positive Rolle übernehmen, sie können aber auch sehr gemein sein. Bei uns war letzteres der Fall. Die haben ohne die Familie zu fragen, Dinge geschrieben, die nicht bewiesen war. Dann hieß es plötzlich „Dönermorde“, „Mafia“, „PKK“ und das beeinflusst den öffentlichen Diskurs. Genau das hat man in unserem Fall gesehen.
Jetzt erleben Sie das Gegenteil, die Medien rennen Ihnen und Ihrer Familie die Tür ein – nicht mehr als Täter-, sondern als Opferfamilie. Hilft Ihnen das bei der Verarbeitung des Erlebten?
Ich muss ehrlich sagen, ich nutze diese Plattform jetzt, um aus dieser Opferrolle hinauszuschlüpfen. Ich möchte die Augen der Gesellschaft öffnen. Was wir jahrelang ertragen haben, sollen alle wissen.
Dafür haben Sie ein Buch geschrieben. Mussten Sie damit alles noch einmal durchleben?
Ja, das war wirklich so. Aber das Buch hat mir sehr geholfen. Das war wie eine Therapie für mich. Es tat gut, das alles aufzuschreiben und ich habe mich sehr intensiv mit den Debatten und den neuen Informationen beschäftigt und kann jetzt auch besser darüber reden. Das war befreiend für mich.
Sie wohnen inzwischen mit Ihrem Mann in der Türkei. Was fühlen Sie für Deutschland?
Ich freue mich immer, wenn ich in Deutschland bin. Meine Familie wohnt hier und ich weiß, wir sind in Deutschland beheimatet – auch wenn ich jetzt in der Türkei zu Hause bin. Aber mir ist auch etwas Schreckliches in diesem Land passiert, die Behörden haben versagt. Aber das – davon bin ich überzeugt – muss man trennen!
Was genau?
Man muss trennen können zwischen dem, was passiert ist, den Fehlern der Polizei gegenüber den Opferfamilien und der Gesellschaft als Ganzem. Es gibt Familien, die das vermischen, aber ich bin in die Öffentlichkeit gegangen, weil ich das sehr wohl trennen kann. Ich bin nicht verbittert, ich habe keinen Groll. Ich habe eine sehr schöne Kindheit in Deutschland verlebt, ich habe deutsche Freunde, ich habe Nachbarn von überall her, mit denen wir Straßenfeste gefeiert haben. Was kann denn der Einzelne dafür?
Woher nehmen Sie die Kraft, trotz Ihrer Erfahrungen an jeden Einzelnen zu glauben?
Das kommt von der Erziehung meiner Eltern. Sie haben mir beigebracht, dass man jedem Einzelnen eine Chance geben soll. Außerdem bin ich Sozialpädagogin, vielleicht hat mir das Studium noch Erkenntnisse in diese Richtung gebracht.
Wird es Ihnen je gelingen, den Tätern zu verzeihen?
Nein, das auf keinen Fall. Für mich sind die beiden Feiglinge. Sie sind geflüchtet, vor ihren eigenen Taten, vor ihrer Schuld. Keinem ihrer Opfer haben sie eine Chance gelassen, sie haben wehrlosen Menschen ohne Vorwarnung ins Gesicht geschossen. Und als sie schließlich in der Falle saßen und merkten, dass sie sich nun für ihr Tun würden verantworten müssen, machten sie sich für immer aus dem Staub.
In Ihrem Buch bezweifeln Sie auch die Annahme der Polizei, dass es nun nach dem Freitod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vorbei sei mit rechtsterroristischen Mordanschlägen.
Ja, es ist ja klar, dass die Helfer hatten, ohne die sie das jahrelange Versteckspiel nicht geschafft hätten. Wer kann denn sagen, dass so etwas nicht wieder passiert? Niemand. Wir haben gesehen, dass die Szene gewalttätig ist.
Was muss Ihrer Meinung nach jetzt passieren?
Ich möchte, dass wir durch gemeinsames Handeln die Zukunft ändern. Was geschehen ist, ist jetzt geschehen. Aber man muss versuchen, gemeinsam mithilfe der Politik zu verhindern, dass solche Morde nochmal passieren. Da müssten auch die Medien mehr tun. Man beschäftigt sich mit der Thematik des Rechtsextremismus, des Rechtsterrorismus wirklich zu wenig in diesem Land. Da sollte man ansetzen.
Kann Deutschland verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen?
Also ich muss sagen, ich wünsche mir das. Ich möchte diesem Land vertrauen können. Ich werde das jetzt an diesem Prozess messen. Wenn er so abläuft, wie ich mir das vorstelle und meine Fragen beantwortet werden, bin ich gerne bereit, diesem Land noch einmal zu vertrauen.
Frau Simsek, vielen Dank für dieses Gespräch.
Das Gespräch führte Lisa Schneider.
Semiya Simsek: Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater. Rowohlt, Berlin (März 2013), 272 S., 18,95€.
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