- Ostdeutschland versinkt in den Fluten
Während im Süden schon aufgeräumt wird, bangen die Menschen an der Elbe noch. Sie versuchen sich so gut es geht, zu schützen. Doch der Fluss bleibt unberechenbar
Nach mehr als einer Woche seit Beginn des Hochwassers an Elbe, Mulde, Donau und anderen Flussläufen ist die Lage in vielen Regionen noch immer dramatisch. Bundesweit sind weiterhin rund 70.000 Feuerwehrleute und 11.000 Bundeswehrsoldaten im Einsatz gegen die Flut. Das Elbehochwasser verlagert sich weiter nach Norden. Doch weil dieser Scheitel eine Länge von 40 Kilometern hat – noch nie wurde in Deutschland bisher ein Hochwasserscheitel mit solch einer Ausdehnung registriert –, sind viele Städte und Gemeinden gleichzeitig betroffen. Wir berichten von Elbe und Donau. Während sich im Osten Deutschlands viele Menschen noch um ihr von der Flut bedrohtes Hab und Gut sorgen, ist in Teilen Bayerns, zum Beispiel in Passau, schon das große Aufräumen angesagt.
Eine der wichtigsten Erfahrungen bei diesem Hochwasser: Das eine wie das andere schafft Gemeinsinn.
Der Dirigent steht bis zur Brust im Wasser. Ein Seil um den Bauch soll ihn vor dem Abtreiben bewahren. Man spürt förmlich, wie sich der Soldat mit den Beinen gegen die Strömung stemmt. Denn das Seil zieht sich immer wieder straff. Doch die Arme bewegt der Mann ganz ruhig. Sie gehen hoch und runter, zur Seite und dann wieder nach oben, um schließlich das Signal zum Abwurf zu geben. Aus vielleicht 20 Metern Höhe kracht ein riesiger Sandsack ins Wasser. Der Hubschrauberpilot hebt zum Gruß kurz den Arm. Dann macht er Platz für den nächsten Helikopter.
Mehrere Stunden dauert dieser Einsatz zum Flicken einer Deichbruchstelle am übervollen Elbedamm kurz vor Wittenberge. Nun werden die 50 Kilogramm schweren Sandsäcke wieder per Hand übereinander gestapelt, um das Loch zu schließen. Die Soldaten zeigten einen „schier unfassbaren Einsatzwillen“, sagt Bernd Lindow vom Krisenstab des Landkreises Prignitz, der auf 75 Kilometer Länge von der Elbe begrenzt wird. „Die standen am Ende einer langen Kette mit Seilen gesichert im Wasser. Zusammen mit Tauchern flickten sie schließlich das Leck.“
Doch erst am Sonntagnachmittag klatschten sich Bundeswehrsoldaten, Feuerwehrmänner, Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks und viele freiwillige Helfer gegenseitig ab. Sie hatten das Loch geschlossen und so eine Überflutung von Havelberg und sogar Teilen des 12 Kilometer entfernten Wittenberge verhindert. Solche Erfolge gehen zwischen den Meldungen über gebrochene Deiche und nachfolgende Überflutungen oft unter. Doch es gibt sie in diesen Tagen hundertfach entlang der übervollen Flüsse.
Die Dimensionen der Flut
Gerade die Industrieregion im Norden von Magdeburg konnte nicht zuletzt durch solche Einsätze gerettet werden. In Magdeburg selbst bangen die Menschen noch. Am Sonntag mussten alle Stadtteile östlich der Elbe geräumt werden, 23.000 Bürger brachten sich vor den herannahenden Wassermassen in Sicherheit. Auch die Stromversorgung in der Stadt war bedroht, weil das Hochwasser auf ein Umspannwerk zufloss. Hier zeigen sich die Dimensionen dieser Flut, die vielerorts keinen Vergleich in der Geschichte kennt - so wie in Wittenberge.
Hier zeigen sich nicht zuletzt die Dimensionen dieser Flut, die vielerorts keinen Vergleich in der Geschichte kennt. „Wir müssen bis ins Jahr 1844 zurückblättern, um wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt zu finden“, meint der Bürgermeister von Wittenberge, Oliver Herrmann. „Damals zeigte der Pegel 7,44 Meter. Heute messen wir 7,70 Meter, sogar 35 Zentimeter mehr als bei der letzten Flut 2002.“ Normal sind um diese Jahreszeit nicht einmal zwei Meter. „Nun wird das Wasser auf dieser Höhe mindestens drei Tage stehen“, sagt der Bürgermeister nachdenklich. Niemand wisse, wie die Dämme diesem Druck standhalten.
Rund 1500 Menschen in den ufernahen Bereichen hat er am späten Sonnabend aufgerufen, sich vorsichtshalber in Sicherheit zubringen. „Sie sind voller Sorge um ihr Hab und Gut, wirken aber sehr gefasst“, beschrieb er die Stimmung. Die meisten von ihnen suchten gar nicht die Notquartiere auf, sondern griffen zur Schippe auf den Sandsackplätzen. „Wir brauchen viele, viele Helfer“, appellierte der Prignitzer Landrat Hans Lange. „Sie können gern auch aus Berlin kommen, wir brauchen jede freie Hand.“
Neben der lebensrettenden Wirkung von inzwischen Millionen Sandsäcken ruht die Hoffnung der Prignitz auf einer Aktion, die es in Deutschland kein zweites Mal gibt. Seit dem frühen Sonntagnachmittag strömen rund 20 Kilometer südlich von Wittenberge bei Quitzöbel jede Sekunde 160 Kubikmeter Elbwasser in die Havel, die bei Quitzöbel eigentlich in den viel größeren Strom mündet. Bis Montagabend werden es sekündlich rund 600 Kubikmeter sein. „Schon unsere Vorfahren planten am Zusammenfluss von Havel und Elbe ein Wehr, um gegen solche Hochwasserereignisse gewappnet zu sein“, erklärte der Präsident des brandenburgischen Landesumweltamtes, Matthias Freude. „Doch erst in den 1970er Jahre konnte so ein überdimensionierter Riegel gebaut werden, der nun nach 2002 ein zweites Mal den Hochwasserscheitel kappt.“ Damals sank der Wasserstand in Wittenberge um 46 Zentimeter, diesmal sollen es zwischen 32 und 36 Zentimeter sein. Diese könnten am Ende entscheidend sein, ob die Prignitz trocken bleibt. Allerdings fließt die Havel mit hohem Tempo nun rückwärts in Richtung Berlin nach Rathenow. Dort stehen in zwei Tagen die Keller auf jeden Fall unter Wasser, genau wie große Felder und Wiesen.
„Wir haben die Bauern rechtzeitig über die Überflutungen informiert“, sagte Freude. „Wir haben keine Beschwerden gehört. Auch das ist ein Ausdruck von Solidarität.“ Allerdings wird das Wasser in den so genannten Havelpoldern, die auch schon vor 100 Jahren als potenzielle Überschwemmungsflächen ausgewiesen waren, wohl mehrere Wochen stehen. Das Elbehochwasser ist dann vielleicht schon längst abgelaufen.
In Mühlberg rollen Tränen
Als das Polizeiauto am Nachmittag vor der Turnhalle in Tröbitz hält, kann Angelika Kluge die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Nehmen Sie mich wirklich mit?“, fragt sie. „Kann ich meine Motte wirklich holen?“ Es sind Tränen der Erleichterung aber auch der nervlichen Anspannung. Am Mittwoch hat die 63-Jährige ihre Heimatstadt Mühlberg im Süden Brandenburgs verlassen, beim ersten Aufruf zur Evakuierung vor der drohenden Überflutung durch die Elbe. Ihre Katze, Motte, hat sie zurückgelassen. „Sie ist eine Hauskatze, kennt nur meine Wohnung, sie wäre doch in einer so großen Halle mit so vielen anderen Menschen und Tieren nicht klargekommen“, sagt sie.
Die Turnhalle in der etwa 30 Kilometer von Mühlberg entfernten Gemeinde Tröbitz bietet einigen Dutzend Mühlbergern ein Dach über dem Kopf. Spartanisch geht es hier zu: Doppelstöckige und einfache Feldbetten sind in akkuraten Reigen aufgestellt, daneben stehen Tische und Stühle, ein Fernseher, es gibt eine Spielecke für die Kinder und ein Laufställchen für Babys. „Die Tröbitzer haben uns sehr herzlich aufgenommen“, sagt Angelika Kluge. Eine der freiwilligen Helferinnen bot an, die Katze in ihrer Wohnung aufzunehmen. Sie rief bei den Einsatzkräften an und landete am Ende bei der Polizeisprecherin Ines Filohn. Die zögerte keine Sekunde. „Ich hole sie in etwa einer halben Stunde ab“, versprach sie.
Ines Filohn hat schon einige Hochwasser miterlebt. Sie weiß, wie die Ungewissheit an den Nerven der Menschen zerrt. „Noch halten hier die Deiche“, sagt sie, „warum sollen wir der Frau also nicht helfen.“ Als sie vor der Turnhalle in Tröbitz hält, bittet noch eine zweite Frau, mitfahren zu dürfen. Sie hat zuhause ihre Tabletten vergessen, ihren Namen möchte sie lieber nicht in der Zeitung lesen. Im Auto erzählt sie, dass sie schon einmal durch ein Elbehochwasser alles verloren hat – 2002, da wohnte sie in Gohlis bei Riesa. „Das Wasser schoss in die Wohnung, verbog die Heizungen, sprengte den Kamin – seitdem habe ich Depressionen, sobald es anfängt zu regnen.“
Vor Mühlberg muss Ines Filohn mit den beiden Frauen durch mehrere Polizeisperren. Die Beamten lassen weder Schaulustige noch Einwohner durch. Es sei denn, letztere haben einen Passierschein, beispielsweise um ihr Vieh zu füttern.
Die Einwohner Mühlbergs erleben nach den Hochwasserkatastrophen von 2002, 2006 und dem Tornado von 2010, wie Polizei, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk und Bundeswehr ihre Dörfer retten. „Vielen Dank an alle Helfer“, steht am Ortseingang des nahen Borschütz, rote Herzen schmücken das schlichte Plakat. In Herzberg an der Schwarzen Elster haben Einwohner dagegen ein ganz anderes Plakat gemalt: „Griechenland, Zypern, wo seid ihr“, steht darauf. Sie sind verbittert, denn sie bekommen keinen Pfennig von der Versicherung, weil ihre Häuser nicht direkt vom Hochwasser, sondern vom durch das Hochwasser gestiegenen Grundwasser überflutet wurden.
Angelika Kluge nimmt unterdessen im Sturmschritt die Treppen zu ihrer Wohnung in einem viergeschossigen Plattenbau. „Motte?“, ruft sie. Die Katze sitzt unversehrt auf dem Sofa. Angelika Kluge ist überglücklich. „Ich lass’ dich nicht im Stich“, sagt sie und drückt das Tier an sich. Auch die zweite Frau hat ihre Tabletten, Ines Filohn fährt beide zurück in die Turnhalle nach Tröbitz. Sie hat durch diesen Einsatz ihren ohnehin schon 14-stündigen Arbeitstag noch einmal um zwei Stunden verlängert. „Das ist doch in einer solchen Situation kein Thema, sagt sie, es tut ja auch gut, wenn man helfen kann.“
In der Tröbitzer Turnhalle sind jene, die keine Verwandten oder Freunde haben, bei denen sie unterkommen könnten, oder kein Geld, um sich irgendwo ein Zimmer leisten zu können. Von den Älteren wollen manche ihren Kindern nicht zur Last fallen oder die Kinder leben weit entfernt vom Süden Brandenburgs – in Baden-Württemberg oder Bayern, wo es gute Arbeit gibt und gute Löhne.
In Passau ist Aufräumen angesagt
Im Süden der Republik, dort wo das Gröbste überstanden scheint, haben derweil bei schönstem Sommerwetter die Aufräumarbeiten begonnen. Trotz des Schreckens der vergangenen Tage herrscht unter den tausenden freiwilligen Helfern ausgelassene Stimmung. Dass deren gute Laune den Betroffenen ein bisschen Mut macht, bleibt zu hoffen. Bei Regina Reeber jedenfalls hat das funktioniert. Die 52-Jährige ist sehr dankbar: „Ohne die Unterstützung von Freunden, von Helfern, von Studenten, die alle angepackt haben, wäre ich völlig versunken.“
Am Samstag ist Regina Reeber noch einmal zu dem kaputten Klavier gegangen, das noch in ihrem Kultur-Café am „Unteren Sand“ neben dem Passauer Theater steht. Wie oft haben sie und ihre Gäste darauf gespielt! „Hauptsächlich Jazz“, sagt die zierliche Frau mit dem blonden Haar. Doch seit der Flut in den ersten Juni-Tagen, die den Laden fast bis zur Decke unter Wasser setzte, ist nicht nur das Klavier hinüber, sondern auch das ganze Café, das ausgerechnet den Namen „Aquarium“ trägt. „Das Geschäft war mein Herz“, sagt Claudia Reeber.
Doch obwohl sie erst einmal alles verloren hat und nur leere, verdreckte Café-Räume bleiben, will sie weitermachen, sobald wie möglich. Und als erstes soll es an diesem Wochenende noch ein Dankeschön-Benefizkonzert geben – für all die Helfer.
An den Läden und Wohnhäusern um das „Aquarium“ herum, in den Altstadtgassen, überall in dem noch vor wenigen Tagen völlig versunkenen Gebiet der Passauer Altstadt wuseln Menschen herum – Helfer, Leute mit Gummistiefeln an den Füßen und Eimern und Spaten in den Händen. Passau, an Donau, Inn und Ilz gelegen, ist wieder im Ausnahmezustand. Aber jetzt geht es um den Aufbruch, den Neustart. 1700 Menschen aus nah und fern, die helfen wollen, werden an einem Tag offiziell registriert. Ein Vielfaches allein an ehrenamtlichen Helfern dürfte sich aber in der Stadt aufhalten.
Die professionellen Helfer von Rotem Kreuz, Feuerwehr und Technischem Hilfswerk sind dankbar für die hilfsbereiten Bürger. „Das ist toll, dass man gleich ein paar Leute holen kann, wenn ein Keller geräumt werden muss“, sagt Feuerwehrmann Dieter Zimmermann aus Aschaffenburg. Seine Truppe pumpt vollgelaufene Keller leer, drei Tage lang sollen die 180 Feuerwehrhelfer in Passau bleiben, sie übernachten in einer Schule.
Was auf den ersten Blick chaotisch und unkoordiniert erscheint, folgt doch einer mustergleichen Organisation. Studenten und viele andere vernetzen sich über das Internet, fragen bei der Stadt an oder sind einfach gleich da.
Mit einem Leiterwagen bringt ein Punk-Mädchen, sie ist noch Schülerin, jede Menge belegte Semmeln für die Helfer am Inn-Ufer. Dort werden viele Tonnen angeschwemmten Schlamms von Baggern und von Menschen mit Schaufeln weggebracht. Langsam werden die Uferwege, die Spielplätze, die Sitzbänke wieder frei. Die Schülerin reicht einem schwitzenden, bärtigen Mann in Arbeitskleidung und mit Baseballkappe eine Schnitzelsemmel. Der sagt etwas verschämt: „Ich bin hier der Uni-Präsident.“ Burkhard Freitag, Präsident der Universität Passau. Und neben ihm sein Vize Wolfgang Hau, in gleicher Montur.
Nein, es ist kein gestellter Termin, die beiden sind am Nachmittag einfach so zum Schlammschippen gekommen, unerkannt. Umgeben von einer Truppe von Sparkassen-Mitarbeitern. Am Abend wird hier gefeiert, damit ist zu rechnen.
Auch am Sonntag waren Politiker in den Flutgebieten unterwegs. Bundespräsident Joachim Gauck besuchte Menschen an Saale und Elbe. Er sprach den Hochwasser-Opfern sein Mitgefühl aus. „Man kann sich nicht vorstellen, was da alles zu bewältigen ist“, sagte er. In der Marktkirche in Halle gedachte er gemeinsam mit Hunderten Menschen derer, die ihr Leben und ihr Hab und Gut verloren haben. Zugleich machte er den Menschen Mut: „Dass wir es wieder packen, das haben wir auch bei der Flut 2002 bewiesen.“
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