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(Wikimedia Commons) Raub der Europa

Grundgesetz vs. EU - Geht Europa auch demokratisch?

Wolfgang Schäuble hat über ein Verfassungsreferendum in Deutschland nachgedacht und damit eine Debatte um mehr europäische Integration angeheizt. Mittlerweile kursieren mehrere Modelle. Ein Überblick

Das Grundgesetz war als Provisorium gedacht. Die Väter des Verfassungskonvents vom Herrenchiemsee waren sich im Jahre 1948 weitgehend einig, eine „richtige“ Verfassung erst zu verabschieden, wenn Deutschland wiedervereinigt sei. Diese Gelegenheit, eine neue Verfassung für Gesamtdeutschland zu erarbeiten, bot sich 1990 bei der Wiedervereinigung an.

Damals ist man in der Bundesrepublik Deutschland aber lieber den bequemen Weg gegangen und hat neue Bundesländer gründen lassen, die am 3. Oktober 1990 schlicht dem Grundgesetz beigetreten sind. Die Befürworter einer neuen Verfassung sind 1994 mit einer Mini-Reform des Grundgesetzes abgespeist worden. Nun währt das Provisorium Grundgesetz mehr als 63 Jahre und könnte ausgerechnet von der City of London und der New Yorker Wall Street zu Fall gebracht werden.

[gallery:Die Finanzkrise]

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die europäische Integration unfreiwillig beschleunigt. Wolfgang Schäuble ist vorgeprescht und hat ein Verfassungsreferendum über Artikel 146 des Grundgesetzes ins Spiel gebracht. Nun kursieren verschiedene Modelle, die das schwelende Demokratiedefizit überwinden können.

1. Modell: Verfassungskonvent ohne anschließende Volksabstimmung

Das Modell, ein Verfassungskonvent einzuberufen, würde ähnlich funktionieren wie die Wahl zum deutschen Bundestag. Es wären Wahlen zu einer so genannten verfassungsgebenden Versammlung, in der sich Parteien mit ihren Kandidaten – Politiker, Personen aus der Wissenschaft und Menschen aus der Bevölkerung – aufstellen ließen.

Genauso wie bei der Bundesversammlung müssten aus Bund und Ländern Repräsentanten entsendet werden. Sobald die Wahl durchgeführt wäre, könnte der Verfassungskonvent seine Arbeit aufnehmen und eine neue Verfassung erarbeiten, die letztlich den Weg frei macht, Deutschland mehr Kompetenzen nach Brüssel übertragen zu lassen.

Mittel- bis langfristig würde die Bundesrepublik als ein Gliedstaat unter mehreren EU-Ländern in einem europäischen Staatsgebilde aufgehen. Parallel müsste auch ein europäischer Verfassungskonvent einberufen werden, um die europäischen Institutionen wie Europäische Kommission und Europäisches Parlament voll demokratisch zu legitimieren und zu einer richtigen Regierung und Völkervertretung auszubauen.

Das Europäische Parlament hätte neben der Kommission gleichrangig die Gesetzesinitiative und der Rat der Europäischen Union, in der die Regierungen der Mitgliedsstaaten sitzen, könnte in eine Art Senat nach US-amerikanischen Vorbild umgewandelt werden.

Wahrscheinlichkeit: gering

Dieses Modell rückt allenfalls dann in den Mittelpunkt, wenn Karlsruhe im Zuge der ESM-Klage die rote Linie im Grundgesetz für mehr Integration erreicht sieht. Um die Kluft zwischen dem derzeitigen Staatenverbund Europäische Union und einem neuen Staatengebilde Europa zu überbrücken, könnte eine solche verfassungsgebende Versammlung von der Bevölkerung in Deutschland eingesetzt werden, die dann unter Hochdruck offeneres Grundgesetz erarbeiten müsste.

Eine Volksabstimmung über die neue Verfassung wäre nicht zwingend notwendig. Die verfassungsgebende Versammlung wäre durch die Wahleinsetzung prinzipiell hinreichend legitimiert.

Auf der nächsten Seite, wann eine anschließende Volksabstimmung unentbehrlich ist 

2. Modell: Verfassungskonvent mit anschließender Volksabstimmung

Dieses Modell unterscheidet sich von Modell 1 nur insoweit, dass im Anschluss an den Verfassungskonvent der Verfassungsentwurf der deutschen Bevölkerung in einem Referendum vorlegt wird, um ihn direkt zu legitimieren. Auch hier müsste Karlsruhe die rote Linie weiterer Integrationsschritte im Grundgesetz als überschritten ansehen.

Diese Variante könnte nur dann den Durchbruch erleben, wenn zeitgleich die Vereinigten Staaten von Europa aufgebaut würden. Eine anschließende Volksabstimmung wäre angesichts der fundamentalen Veränderungen für Deutschland und Europa angezeigt, da Deutschland seine umfassende Staatlichkeit aufgeben müsste.

Wahrscheinlichkeit: sehr gering

Die deutsche Bevölkerung könnte zwar theoretisch zwei Mal abstimmen. Zum einen über ein neues Grundgesetz, zum anderen über eine parallel zu erarbeitende Europäische Verfassung. Das ist jedoch noch Zukunftsmusik. Trotz der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise stehen die Zeichen in Europa vorerst nicht auf Vereinigung der Nationen.

Am 12. September möchten die Karlsruher Richter ihr Votum zum ESM und Fiskalpakt verkünden. Dass dieser Tag als Zäsur in die Geschichte eingehen wird, kann bezweifelt werden. Abgesehen von verfassungsrechtlichen Interpretationsspielräumen käme angesichts des Dauerausnahmezustands in der EU ein großer Verfassungsdiskurs in Deutschland und Europa zur absoluten Unzeit.

[gallery:Eine kleine Geschichte des Euro]

Hinzu kommt, dass der deutsch-französische Motor Merkel/Hollande gegenwärtig mehr stottert denn schnurrt und so kein Katalysator für Aufbruchstimmung in Europa ist. Ohne eine tadellos funktionierende Achse Berlin-Paris ist eine europäische Einigung nahezu ausgeschlossen.

Auf der folgenden Seite, wenn der große Wurf ausbleibt gibt es immer noch eine kleine Lösung 

3. Modell: Volksabstimmung zu Europafragen

In diesem Modell geht es um mehr Bürgerbeteiligung zur Euro-Rettung. Volksabstimmungen sind bundesweit theoretisch bisher nur über Artikel 29 des Grundgesetzes vorgesehen. Und zwar für den Fall, dass der Bund die Bundesländer neu gliedern möchte.

Nun könnten der Bundestag und der Bundesrat als Verfassungsgesetzgeber mit jeweils Zweidrittelmehrheit eine Änderung des Grundgesetzes beschließen und Volksabstimmungen zu Europafragen einführen. Danach müsste Angela Merkel nicht mehr nur die eigenen schwarz-gelben Koalitionäre auf Linie bringen, sondern auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Eine derzeit heikle Angelegenheit.

Wahrscheinlichkeit: nicht ganz ausgeschlossen

Es wäre die kleinere Lösung, dem schwelenden Demokratiedefizit und der Politikverdrossenheit etwas entgegenzusetzen. Diese Änderung wäre auf Bundesebene ein Paradigmenwechsel der bisherigen repräsentativen Demokratie. Es könnte sein, dass es ähnlich wie bei der Bundespräsidentenkür von Joachim Gauck zu einer chaotischen Allparteienkoalition kommt und sich alle auf einmal für mehr Bürgerbeteiligung aussprechen und ein Änderungsverfahren des Grundgesetzes beschließen.

[gallery:Europäische Einigung]

Dann käme es zwar zu Volksabstimmungen in Europafragen, die Sorgen aus Karlsruhe jedoch hinsichtlich der roten Linien im Grundgesetz wären damit nicht vertrieben. Denn die Verfassungsrichter vertreten die Ansicht, dass sich der deutsche Staat entleeren könnte, wenn er zu viel Kompetenzen nach Brüssel abgäbe. Das Instrument der Volksabstimmung würde an diesem strukturellen Problem nicht rütteln.

Dennoch wäre die Bürgerbeteiligung über Volksabstimmungen zu Europafragen ein wichtiges Signal für die Bundesregierung, ihre Politik besser zu erklären und die Menschen von der Wichtigkeit der einzelnen Rettungsmaßnahmen zu überzeugen. Nur eine Person wäre über diese Änderung wie in der Personalie um Joachim Gauck eher unglücklich: Angela Merkel.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, warum wohl alles so bleibt, wie es ist  

4. Modell: „Es geht weiter wie bisher“

Wenn das Bundesverfassungsgericht ESM und Fiskalpakt mit erhobenen Zeigefinger und neuen Grenzmarkierungen durchwinkt, wird aller Voraussicht nach die Diskussion um die Vereinigung der EU-Mitgliedsstaaten verebben. Die Einführung von Volksabstimmungen zu Europafragen wäre dann schon eine kleine Sensation. Letztlich bleibt erst einmal alles, wie es ist. Die europäischen Regierungen sind damit bisher exzellent gefahren.

Wahrscheinlichkeit: eher hoch

Denn erstens mehren sich die Stimmen, dass das Grundgesetz noch viel Spielraum für Integrationsschritte lasse. Zweitens würde Karlsruhe mit einem möglichen Integrationsstopp seine eigene Marginalisierung einleiten. Daran haben die Verfassungsrichter naturgemäß kein großes Interesse.

Im Moment ist das Bundesverfassungsgericht das bedeutendste Verfassungsgericht der EU-Mitgliedsstaaten und auf Augenhöhe mit dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Solange Deutschland und die übrigen Mitgliedstaaten in einer permanenten wirtschaftlichen Ausnahmesituation agieren müssen, ist die Grundlage nicht gegeben, mit Bedacht und Ruhe die europäische Integration staatsorganisatorisch neu auszurichten.

[gallery:Prominenter Protest: Köpfe gegen den ESM]

Überdies bleibt Europa bisweilen ein Elitenprojekt. Die Bevölkerungen in der Europäischen Union, die letztlich alle gemeinsam grünes Licht für etwaige Vereinigte Staaten von Europa geben müssten, sind bisher nicht oder kaum eingebunden. Europäische Identität ist nirgends in Sicht und erschöpft sich im Anstimmen der Europa-Hymne durch gutbürgerliche Europa-Liebhaber.

Fraglich bleibt, ob eine europäische Identität je geschaffen werden kann, ob sie überhaupt erstrebenswert ist. Ohne der Bevölkerung die europäische Idee näherzubringen, ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass sich die EU-Staaten renationalisieren, wenn die Euro-Zone zerfallen sollte.

Die europäischen Regierungen von Nord nach Süd, von West nach Ost sind aufgerufen, Europa zu erklären, nicht nur ökonomisch, sondern vor allem gesellschaftspolitisch. Neben der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise erscheint dies gegenwärtig als eine schier unlösbare Aufgabe.

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