- Gab es einen vierten Mann?
Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass die rechte Terrorgruppe NSU kein Trio war, sondern ein Quartett. Doch die Bundesanwaltschaft hält diese Hinweise nicht für belastbar. Dabei wurde sogar an einer der Waffen die DNA-Spur einer bislang unbekannten Person entdeckt
Kriminaloberkommissar L. vom Bundeskriminalamt hatte gründlich gearbeitet. Zwei Tage lang hatte er sich das sogenannte Bekennervideo der mutmaßlichen rechten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) immer und immer wieder angeschaut. Am 13. November 2011, drei Tage nach dem Fund des Videos im Schutt der ausgebrannten Zwickauer Wohnung in der Frühlingsstraße 26, legte er eine achtseitige Inhaltsanalyse des Films vor. Seine These: Möglicherweise gehörten nicht nur die inhaftierte Beate Zschäpe sowie die beiden, neun Tage zuvor ums Leben gekommenen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zum NSU, sondern auch noch eine vierte Person.
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Der BKA-Beamte macht seine Vermutung daran fest, dass an zwei Stellen des Videos jeweils vier Köpfe der Comicfigur Paulchen Panther auftauchen. In der einen Szene, in der die Köpfe in den vier Ecken des Bildes zu sehen sind, ließe sich das vielleicht noch mit Gründen der Bildsymmetrie erklären, so KOK L.. Am Ende des Films jedoch, nach 13:43 Minuten, würden die vier Köpfe ein zweites Mal auftauchen, diesmal nebeneinander im Zentrum des Bildes. „An dieser Stelle des Filmes würden auch weniger Köpfe eine symmetrische Darstellung ermöglichen, so dass die Wahl von vier Köpfen an zwei Stellen des Films auch als Hinweis auf die zahlenmäßige Zusammensetzung des NSU gemeint sein könnte“, heißt es im Bericht des Beamten.
War die Terrorgruppe NSU also gar kein Trio, sondern ein Quartett? Bei der Bundesanwaltschaft will man von dieser Theorie nichts wissen. Man habe bis heute keine belastbaren Hinweise darauf, dass noch weitere, bislang unbekannte Personen zum NSU gehört haben, heißt es dort immer wieder. Die Betonung jedoch liegt bei dieser Formulierung auf dem Wort „belastbar“ – denn Indizien dafür, dass es neben Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt noch eine vierte Person gegeben haben könnte, die zumindest phasenweise an den Taten des NSU mitwirkte, gibt es neben dem Video sehr wohl.
Das gilt insbesondere für die letzten Wochen vor jenem 4. November 2011 vergangenen Jahres, an dem die Terrorgruppe aufflog. An diesem Tag überfielen Mundlos und Böhnhardt kurz nach 9 Uhr morgens eine Sparkassenfiliale in Eisenach. Drei Stunden später nahmen sie sich in einem Wohnmobil das Leben. Kurz zuvor war eine Polizeistreife an ihrem in einem ruhigen Wohngebiet abgestellten Fahrzeug aufgetaucht.
Rückblende. Bereits am 21. Oktober 2011 betreten zwei Männer und eine Frau gegen 11 Uhr jene Eisenacher Sparkasse, die genau zwei Wochen später von Mundlos und Böhnhardt überfallen werden soll. Einer der Männer, den die Sparkassen-Mitarbeiter später als einen Täter wiederzuerkennen glauben, fragt auf Englisch, warum er mit seiner Kreditkarte am Automaten kein Geld abheben könne. Insgesamt dreimal kommt das Trio in den Kassenraum, immer wieder werden die Mitarbeiter in ein Gespräch verwickelt. Offenbar, so mutmaßen die Ermittlungsbehörden es später, sollte die Filiale bei dieser Gelegenheit für den Raub ausgekundschaftet werden.
Auf den Überwachungsbildern sind die drei merkwürdigen Kunden nur mit viel Fantasie als Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt zu erkennen. Wenn sie es aber doch gewesen sind – wer war dann der Mann, mit dem sie sich im Vorraum der Bank unterhalten, nachdem sie den Kassenraum verlassen haben? Das Gesicht dieses vierten mutmaßlichen NSU-Mitglieds ist auf den Kamerabildern nicht zu erkennen.
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Es spricht zudem vieles dafür, dass eine noch unbekannte vierte Person am 4. November 2011, dem Tag des Bankraubs, des doppelten Selbstmordes und des Feuers in der Zwickauer Frühlingsstraße, eine wichtige Rolle gespielt haben muss.
Da ist zunächst die Flucht von Mundlos und Böhnhardt: Obwohl sie ihr Wohnmobil auf einem Parkplatz direkt an einer Autobahnauffahrt abgestellt haben, fahren sie nicht davon, als sie nach dem Überfall ihre Beute und ihre Fahrräder in dem Fahrzeug verstauen. Sie fahren stattdessen in ein nahegelegenes Wohngebiet, in dem ein parkender Wohnwagen nur auffallen kann. Dass sie einer möglichen Ringfahndung entgehen wollen, wie die Bundesanwaltschaft vermutet, lässt sich kaum nachvollziehen: Aus dem Polizeifunk, den die beiden in ihrem Wagen abhören, wissen sie, dass nach einem Transporter gesucht wird. Erst um 10.34 Uhr, fast anderthalb Stunden nach dem Bankraub, werden die Polizeistreifen angewiesen, auf ein weißes Wohnmobil zu achten. Da hätten die beiden schon längst über alle Berge sein können. Und auch, als schon kurz nach 11 Uhr die Ringfahndung aufgehoben wird, bleiben sie mit ihrem Fahrzeug stehen.
Zwar ist es reiner Zufall, dass eine Polizeistreife gegen 12 Uhr noch einmal das Wohngebiet abfährt. Als die Beamten das Wohnmobil entdecken, ihren Wagen parken und sich zu Fuß dorthin begeben, fallen plötzlich Schüsse in dem Fahrzeug. Aber es stellt sich die Frage, warum haben sich Mundlos und Böhnhardt nur ein, zwei Minuten nach dem Auftauchen der Polizei zum Selbstmord entschlossen? Hatten sie an ihrem Parkplatz in der Wohnsiedlung vielleicht einen Vertrauten erwartet, der sie abholen wollte, und glaubten die beiden nun wegen des Auftauchens der Polizei, sie seien verraten worden?
Es gibt ein weiteres bislang unbekanntes Ermittlungsdetail, aus dem sich schließen lässt, dass eine männliche Person vor oder am 4. November Kontakt zu Mundlos und Böhnhardt gehabt haben könnte. An einer der Waffen, die die Ermittler aus dem ausgebrannten Wohnmobil geborgen haben, wurde eine unbekannte männliche DNA-Spur festgestellt. Dies geht aus einem „Gesamtüberblick über die sichergestellten Waffen“ in Zwickau und Eisenach hervor, der Cicero Online vorliegt. Gefertigt wurde diese von der Ermittlungseinheit BAO „Trio“ des Bundeskriminalamtes am 23. Dezember 2011, demnach befand sich die DNA-Spur an einem Revolver vom Typ Melcher. Einem zuvor erstellten Behördengutachten des BKA zufolge ist dieser Revolver, der ursprünglich eine sogenannte Gas-Alarm-Waffe war, zu einer scharfen Waffe umgebaut worden, mit der 9-Millimeter-Munition verschossen werden konnte.
Laut der Ermittlungsakte befanden sich die auswertbaren DNA-Spuren an Trommel und Lauf des Revolvers. Von wem sie stammen, ist bis heute ein Rätsel – weder wurde in entsprechenden Datenbanken ein Treffer erzielt, noch konnten sie den beiden Bankräubern oder den Polizisten zugeordnet werden, die die Tatortarbeit erledigten. Entsprechende Untersuchungen hatte das BKA noch im November vergangenen Jahres veranlasst.
Wer aber hatte dann eine der Waffen in der Hand, die Mundlos und Böhnhardt wie ihre Augäpfel gehütet und regelmäßig gereinigt hatten? Tatsächlich fanden sich auf allen anderen Waffen, die die Polizei in Eisenach und Zwickau sicherstellte, entweder gar keine DNA-Spuren oder nur solche, die Mundlos und Böhnhardt zugeordnet werden konnten.
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Damit nicht genug. Ein weiteres Indiz weist darauf hin, dass es eine vierte Person gegeben haben muss, die zumindest in die Vorgänge von Eisenach verwickelt war. Woher soll Beate Zschäpe ansonsten an jenem 4. November davon erfahren haben, dass ihre beiden Freunde tot sind und sie nun umgehend dafür sorgen muss, alle Spuren in der gemeinsamen Wohnung in Zwickau zu vernichten?
Für Beate Zschäpe war dieser 4. November zunächst ein ganz normaler Tag. Dass ihre beiden Freunde unterwegs sind, kam häufig vor. Sie schien aber dennoch beunruhigt zu sein, weil sie offenbar seit dem Vortag keine Nachricht von ihnen erhalten hatte. Für diese Annahme spricht, dass sie am 4. November um 10.34 Uhr ihren Laptop anschaltete und im Internet surfte.
Die spätere Auswertung des Internetverlaufs ergab, dass Zschäpe bis 12.43 Uhr mehrere Nachrichtenseiten von Zeitungen und Radiostationen aufrief und gezielt nach Meldungen über Autounfälle am Vortag suchte. Wusste sie also gar nichts von dem geplanten Bankraub in Eisenach? Zschäpes ergebnislose Internetrecherche schien sie beruhigt zu haben, denn sie begann schließlich damit, auf anderen Seiten zu surfen. Um 13.05 Uhr gab sie „Natürliche Mittel gegen Übelkeit“ als Suchbegriff ein, dann „Greenpeace“ und „Gegen Pelze“. Ihr letzter Seitenaufruf erfolgte um 13.26 Uhr, da suchte sie nach „Biobauern in Zwickau“. 54 Minuten später, um 14.20 Uhr, schaltete sie den Laptop laut Verlaufsprotokoll aus.
In diesen 54 Minuten muss sie von den Vorgängen in dem Eisenacher Wohngebiet und dem Tod ihrer Freunde erfahren haben – nur wie? Im Internet gab es bis dahin keine Meldung darüber. Zschäpe muss aber eine verlässliche Information erhalten haben, sonst hätte sie die Wohnung sicherlich nicht in Brand gesteckt.
Wurde Beate Zschäpe also von einer vierten Person angerufen? Wurde sie von einer bislang unbekannten Vertrauensperson informiert, die von den Geschehnissen aus erster Hand wusste, möglicherweise dabei war und alles beobachtet hatte? Es bleibt bis jetzt die einzige schlüssige Erklärung.
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