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Julian Graeber

Flüchtlingscamp - Hunger und Isolation mitten in der Hauptstadt

Seit mehr als einem halben Jahr wohnen und protestieren Flüchtlinge in einer Zeltstadt mitten in Berlin-Kreuzberg gegen ihre unmenschlichen Lebensbedingungen und die deutsche Asylpolitik. Dass ihre Forderungen erfüllt werden, ist nahezu ausgeschlossen. Ein Besuch im „Refugee Protest Camp“

Autoreninfo

Julian Graeber hat Sportwissenschaft und Italienisch in Berlin und Perugia studiert.

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Es ist ein regnerischer Mittwochnachmittag in Berlin-Kreuzberg. Am Oranienplatz herrscht reger Betrieb. Die Autos stehen im Stau, der Bus kämpft sich an Falschparkern vorbei zur Haltestelle, drei Frauen mit Kopftuch gehen über die Straße. Auf den ersten Blick sieht es aus wie immer hier im Herzen Kreuzbergs.

Wäre da nicht die kleine Zeltstadt, die sich auf der Grünfläche abseits des Bürgersteiges befindet.

Mehr als ein Dutzend Zelte stehen dort seit Oktober, seit eine Gruppe Asylsuchender aus Würzburg nach Berlin marschierte. Das „Refugee Protest Camp“. Zwischen den Zelten liegen kleine Haufen Sperrmüll, alte Gasflaschen stehen vor der provisorischen Küche, auf einer Leine trocknet die Wäsche. Einige Afrikaner laufen zwischen den Zelten herum, ein Mann in einem orange-rot-gestreiften Pullover putzt sich die Zähne. Das Camp wirkt isoliert. Die Grünfläche, auf der es steht, ist durch einen hüfthohen Metallzaun und eine ebenso hohe Hecke vom Bürgersteig getrennt. Die Isolation ist aber nicht nur physisch. Die Menschen gehen vorbei, schauen kaum hin, führen ihre Hunde aus, als wäre das Camp nicht da.

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Als die Flüchtlinge im vergangenen Herbst vor dem Brandenburger Tor saßen, in einen Hungerstreik traten und die Polizei ihnen ihre Schlafsäcke und Regenschirme wegnahm, war das Interesse an den Protesten gegen ihre Lebensbedingungen groß. Die Medien berichteten, Politiker beschwichtigten – und es änderte sich nichts. Nun ist mehr als ein halbes Jahr vergangen und die Flüchtlinge sind immer noch da. Nicht mehr vor der Augen von Touristen, Medien und Politikern, sondern mitten in Kreuzberg. Hier gehört das Camp mittlerweile dazu, es ist zum Alltag geworden und seine Bewohner beinahe unsichtbar.

Einer dieser Unsichtbaren ist Issa Touré. Issa, 27, kommt aus Mali und ist erst seit zwei Monaten in Berlin. Er sitzt mit zwei Landsmännern im Infozelt, das von den Flüchtlingen ständig besetzt ist. Viel zu tun haben die drei Malier nicht, Passanten bleiben nur selten stehen. In einem alten Zeitungsständer liegen zahlreiche Flyer. Auf einem kleinen Blatt Papier, das vor Issa liegt, steht „Lampedusa in Berlin“. Über die kleine Insel Lampedusa, auf halbem Weg zwischen Afrika und Sizilien gelegen, kamen die meisten der Flüchtlinge, die sich momentan im Camp befinden, nach Europa. Sie wechseln von einem Auffanglager ins nächste.

Issa wirkt frustriert und hat allen Grund dazu. In gebrochenem Italienisch erzählt er, wie der Alltag im campo, dem Lager, am Oranienplatz aussieht. „Wir sitzen viel rum, reden miteinander. Wir können hier nichts tun“, sagt er. Auch sonst sind die Bedingungen schlecht. Gegessen wird nur einmal am Tag. Er sei oft hungrig, sagt Issa, der an diesem ungemütlichen Maitag mit der Kälte zu kämpfen hat.

Der Malier hat einen Asylantrag gestellt, der sich noch in Bearbeitung befindet. Bei 77.651 Anträgen im Jahr 2012, dem höchsten Wert seit zehn Jahren, müssen die Flüchtlinge oft lange auf eine Entscheidung warten. Sie leben in einem rechtlichen Hohlraum. Sie dürfen nicht arbeiten, haben kaum Geld, dürfen sich nicht frei bewegen. Issa hat schon nach zwei Monaten genug davon. „Ich will nicht lange hier im Lager bleiben. Ich möchte arbeiten, legal, egal was“, erzählt der 27-Jährige.  Für die politischen Forderungen der Protestler scheint er sich nur am Rande zu interessieren. Ihm geht es um sein persönliches Schicksal. Er will vor allem eine Arbeit, ein Dach über dem Kopf und ein normales Leben. Ob er und seine afrikanischen Mitstreiter das in näherer Zukunft erleben werden, ist eher unwahrscheinlich.

Denn dass die Bundesregierung die drei Hauptziele der Initiative aufgreift, ist momentan ausgeschlossen, mit Asylpolitik gewinnt man keine Stimmen. Ein Abschiebestopp und das Ende von Lager- und Residenzpflicht scheinen mindestens so weit entfernt zu sein, wie Issa von seiner malischen Heimat. Die Residenzpflicht, die Asylsuchende zwingt, in einem ihnen zugewiesenen Landkreis zu bleiben, ist zwar in vielen Bundesländern gelockert worden, weitere Zugeständnisse sind jedoch nicht in Sicht. Besonders die Unterbringung in meist weit abgelegenen Lagern stellt für die Flüchtlinge eine große psychische Belastung dar. Etwa 40.000 Menschen müssen in Deutschland in solchen Lagern wohnen, oft unter miserablen Umständen in alten Kasernen oder Industriegebieten fernab der restlichen Bevölkerung.

Deutschland braucht zwar Zuwanderer, für Menschen wie Issa scheint es jedoch keine Verwendung zu geben. In Mali war er Landwirt, er hat keine Berufsausbildung, spricht weder Deutsch noch Englisch. Angesichts der Zuwanderung hunderttausender hochqualifizierter Arbeiter aus dem EU-Ausland, haben es Flüchtlinge aus den ärmsten Regionen der Welt schwer, selbst wenn sie eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung erhalten. Ob Issa diese Genehmigungen erhält, ist keineswegs klar. Da er aus Italien, einem sicheren Drittstaat, eingereist ist, hat sein Asylantrag eigentlich keine Erfolgsaussichten. Von Januar bis April dieses Jahres wurden nur 1,2 Prozent der Antragssteller als Asylberechtigte anerkannt, die Einreise aus einem sicheren Drittstaat ist ein klares Ausschlusskriterium. Mit etwas Glück wird er als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt (14,4 Prozent), vielleicht aber auch nur befristet geduldet oder abgeschoben, wie 7651 Menschen im Jahr 2012.

Armut oder ein Bürgerkrieg reichen nur selten aus, um die Behörden zu überzeugen, seit das Grundrecht auf Asyl im Grundgesetz 1993 eingeschränkt wurde. So hat der große Traum von Europa für viele Afrikaner längst seinen Glanz verloren. „Ich will hier bleiben und Geld verdienen“, sagt Issa trotzdem. Zurück nach Afrika möchte er nicht, in Mali sei es nicht mehr sicher.

2011 verließ Issa mit seiner Familie die Heimat. Die politische Lage in Mali spitzte sich immer weiter zu und mündete in einen blutigen Bürgerkrieg. Die Tourés durchquerten zu Fuß die Wüste. Von Timbuktu in Mali in den Nachbarstaat Niger, wo die Familie seitdem lebt. Issa marschierte weiter bis nach Libyen ans Mittelmeer. Insgesamt mehr als 3000 Kilometer durch die Sahara. Auf einem Boot ging es weiter. Drei Tage bis nach Lampedusa. Issa hatte Glück. Er kam heil an und wurde nur einen Tag später auf das italienische Festland gebracht. Viele müssen deutlich länger auf der Mittelmeerinsel bleiben. Abgeschottet von den Einheimischen, eingesperrt wie in einem Gefängnis.

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Bis vor wenigen Monaten lebte Issa in Turin. Arbeit fand er auch dort nicht. Aber zumindest eine Unterbringung für Flüchtlinge. Doch Ende Februar lief das Programm „Emergenza Nord Africa“ des italienischen Innenministeriums aus. Den Flüchtlingen wurde nahe gelegt, das Land zu verlassen, weil Italien sie nicht mehr versorgen könne. 500 Euro erhielt Issa und nahm den Zug nach Deutschland. Angesichts solcher Schicksale, die keinesfalls traurige Ausnahmen sind, wundert es nicht, dass Amnesty International die restriktive Asylpolitik der EU als eines Nobelpreisträgers „unwürdig“ bezeichnet.

Die Flüchtlinge im Kreuzberger Protestcamp geben sich zwar optimistisch, spurlos gehen die Bedingungen aber auch an ihnen und ihren Helfern nicht vorbei. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen für Issa und seine Leidensgenossen. „We are here and we will fight“, lautet einer der Slogans, den sie bei ihren Demonstrationen skandieren. Fragt sich nur wie lange noch, denn auch Menschen, die zu Fuß die Wüste durchquert haben, kommen irgendwann an ihre Grenzen.

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