- Wie ein Mädchen die Kanzlerin aus ihrem Raumschiff lockte
Kolumne: Zwischen den Zeilen. Nichts konnte Angela Merkel bisher wirklich in Verlegenheit bringen. Kein Krisengipfel, kein politischer Streit. Bis ein kleines Mädchen kam
Die Sechstklässlerin Reem vollbrachte, was kein Journalist, keine Krisensituation, kein 14-stündiger Verhandlungsmarathon zu vollbringen vermochten. Angela Merkel musste improvisieren, reagieren. Die Kanzlerin wurde fassbar, kenntlich. Für den Moment zumindest. Sie musste aus ihrem Raumschiff aussteigen und auf einen Menschen zugehen. Es wurde ein steifes Gestolper in Wort und Tat.
Der letzte, der es versuchte, war Florian Mundt alias LeFloid, der Endzwanziger, der mit schiefer Mütze und luftigen Bewegungen einem jungen Publikum auf YouTube die Welt erklärt. Er, der immer stehend kommentiert, stets aus der Bewegung kommend, stieg ins Raumschiff, nahm Platz und ließ sich von Merkels Aura absorbieren, schleifen, wegdösen. Die Netzgemeinde schaute zu, wie ihr Mann bei Merkel wie unter Zeitraffer viel zu schnell erwachsen wurde. Aus dem Internetstar wurde innerhalb weniger Momente ein halbtrockenes Salzsternchen, mit dem sich Ihre Herrlichkeit die Krone schmückte. Ein Stichwortgeber mit zurechtgerückter Kappe, aufrecht sitzend.
Neben der Spur
Und dann kam Reem. Und der Bürgerdialog unter dem Titel: Gut leben in Deutschland. Es sollte ein PR-Coup des Kanzleramtes werden, die Kanzlerin mit echten Menschen zusammenbringen.
Reem ist eine Palästinenserin aus dem Libanon, die seit vier Jahren in Deutschland lebt. Ihre Familie besitzt nur ein vorläufiges Bleiberecht. Der Vater darf nicht arbeiten. Es ist ein Leben in ständiger Angst, abgeschoben zu werden. „Ich weiß nicht wie meine Zukunft aussieht. Ob ich bleiben kann“, erklärt die 14-Jährige der Kanzlerin.
"Ja, klar, deshalb muss das jetzt ja einer Entscheidung zugeführt werden“, kontert Merkel ganz lösungsorientiert.
Es folgen Sätze wie verkochte Spaghetti. Die ehrliche, offene Art, die Deutlichkeit des Mädchens wird mittels gruseliger Hauptsatzsprache der Kanzlerin konterkariert. Wie unter einem Brennglas legt Reem alle Defizite Merkels offen. Die dafür bekannt ist, rhetorisch immer ein bisschen neben dem tatsächlich Gemeinten zu liegen, neben der Spur. Und wir staunen und verlieben uns in eine Sechstklässlerin, die nach vier Jahren in Deutschland geschliffener spricht als die Kanzlerin.
Reem mit leicht zittriger Stimme, aber unmissverständlich formulierend: „Ich habe Ziele, ich möchte studieren. Es ist sehr unangenehm zu sehen, wie andere das Leben genießen können und man es selber nicht mitgenießen kann.“
Merkel bleibt auf Distanz, im Maschinenmodus: „Wenn wir jetzt sagen, ihr könnt alle kommen, und ihr könnt alle aus Afrika kommen, das können wir auch nicht schaffen…“
Pause. Reem weint. Und Merkel guckt. Dann geht Sie auf das Mädchen zu.
„Och komm, Du hast das doch prima gemacht“, wundert sich Merkel und interpretiert das Weinen des Mädchens zunächst als Reaktion auf den eigenen Auftritt. Also auf das Mädchen selbst. Der Bordcomputer meldet: Fehlfunktion bei kleinem Mädchen.
Der Moderator mischt sich ein, macht Merkel darauf aufmerksam, dass Reem eventuell nicht unter ihrem TV-Auftritt leidet, sondern unter der Situation.
Merkel ist gezwungen zu improvisieren, wirkt fahrig: „Das weiß ich, dass das eine belastende Situation ist, deshalb möchte ich sie jetzt trotzdem einmal streicheln…“
Allein auf unbekanntem Terrain
Und dann streichelt sie. Eine Geste wie ein Verwaltungsakt. Merkel legt die Hand auf, spricht aber brav weiter ins Mikro und macht das, was sie immer macht: Politik.
Nur diesmal ganz ohne Unterhändler. Niemand da, der für sie die unangenehmen Verhandlungen führt, kein Wolfgang Schäuble, den sie hätte vorschieben können, um die dunkle Seite der Macht zu repräsentieren. Merkel ist zum ersten Mal allein. Auf unbekanntem Terrain. Sie verlässt ihr Raumschiff in dem Moment, als sie auf das Mädchen zugeht und versucht dann, die Gesetzmäßigkeiten innerhalb ihres Schiffes hier draußen anzuwenden: Logik, Sachverstand. Sie scheitert. Und das Publikum staunt über die Hilflosigkeit der Kanzlerin in der Welt da draußen.
Es ist nur ein kurzer Moment. Dann gewinnt sie die Kontrolle zurück. Sie bezieht wieder Position in der Mitte der Arena und doziert abstrakt: „Wir können ja nicht alle aufnehmen. Alle in Deutschland willkommen heißen.“
Statt zu sagen, es ist schön, dass du da bist, wir brauchen solche Menschen wie dich, du bist ein Vorbild, gelebte Integration, kommt Merkels Satz von „allen“, die man ja wirklich nicht aufnehmen könne. Statt dieser 14-Jährigen, die hier in Deutschland lebt, die Hand zu reichen, malt Merkel das Schreckensbild der Millionen, die nur darauf warten, Deutschland zu kolonialisieren.
Ein Gutes aber hatte es. Der Bürgerdialog am Mittwoch war tatsächlich einer. Damit konnte nun wirklich niemand rechnen. Und dieser Moderator vom Kinderkanal, der der Kanzlerin permanent furchtlos in die Flanke grätschte, sollte Jauchs Nachfolge antreten.
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