- Der Journalist als Hirte, der Rezipient als Schaf
Sie sind ein Schaf. Ja, Sie, lieber Leser. Glauben zumindest einige Medienmacher und -theoretiker. Dumm nur, dass das manchmal nicht zur Realität passt – wie man jetzt in Niedersachsen sehen konnte
Bitte nehmen Sie es jetzt nicht krumm, lieber Leser: Aber manchmal müsste man meinen, der Medienrezipient sei ein Schaf. Er trottet gemächlich hinter seinem Hirten – dem Meinungsmacher in Rundfunk und Presse – hinterher. Was ihm hingehalten wird, am besten in vorgerupften Portionen, futtert und verdaut er.
So war das etwa mit der Euro-Schuldenkrise im vergangenen Jahr: Sie war nicht nur das Top-Thema in den Medien, sondern auch der mit Abstand größte Angstmacher in der Bevölkerung. Fast drei Viertel aller Deutschen sorgten sich, dass sie für die Folgen der Krise haften müssen, wie die R+V-Versicherung in einer Studie herausfand.
Dass das, worüber die Menschen nachdenken, maßgeblich von den Medien beeinflusst wird, glauben zumindest die Anhänger der Agenda-Setting-Theorie. Die individuelle Themen-Agenda von Lesern, Zuschauern oder Zuhörern wird demnach maßgeblich von den Themen der Medien bestimmt. Nach dem Motto: Der Bürger denkt, „Bild“ lenkt.
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Dieser Effekt scheint in der Realität insbesondere dort zu funktionieren, wo es um die Bewertung des politischen Spitzenpersonals geht. Das musste Guido Westerwelle erleben, dem die Journalisten kurz nach der Wahl 2009 die Liebe entzogen. Der FDP-Außenminister stürzte in den Meinungsumfragen auf den letzten Platz ab, musste schließlich den Parteivorsitz räumen. Oder Renate Künast: Als Verbraucherministerin und Fraktionsvorsitzende wurde die Grüne erst medial umjubelt, im Berlin-Wahlkampf 2011 galt sie dann plötzlich als „verbissen“. Künast erlebte erst ihre mediale Wahlniederlage, dann ihre reale.
Folgt man der Einschätzung von Matthias Jung, Leiter der Forschungsgruppe Wahlen, war die Berliner Abgeordnetenhauswahl auch aus anderen Gründen ein Beispiel für die Macht der Medien. Denn plötzlich servierten die Leithirten ein neues, bisher unbekanntes Parteiengewächs: die Piraten, die kurz vor der Wahl „hochgeschrieben“ wurden, wie der Meinungsforscher beobachtete. „Für die Unzufriedenheit und Langeweile, die damals in der Hauptstadtbevölkerung herrschte, suchten die Journalisten ein Ventil. Und wenn das einer aufgreift, kommt der nächste und steigt auf.“ Positive Berichterstattung und gute Umfragewerte hätten sich in kurzer Zeit „von null auf hundert“ hochgeschaukelt, erklärt Jung. Bis zum Frühjahr stürmten die Piraten vier Landtage. „Dabei war diese Partei in dieser Größenordnung ein Medienphänomen.“
Der Journalist als Hirte, der Rezipient als Schaf: Nach dieser Logik hätte die FDP in Niedersachsen abgewatscht werden müssen. Wurde sie aber nicht. Sie erreichte 9,9 Prozent, und der allseits geschmähte Philipp Rösler sitzt wieder fest im Sattel. Die Landtagswahl zeigt, dass der Agenda-Ansatz Lücken hat. Offenbar gibt es also auch ein zu Viel an Berichterstattung, einen Moment des „Overkill“, ab dem die Schafe nicht mehr so artig hinterhertrotten.
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Die mediale Kritik an Rösler beschränkte sich erstens nicht nur auf dessen Führungsqualitäten; sie ging teilweise ins Persönliche. Erinnert sei an den rassistischen Kommentar des „Absolute-Mehrheit“-Moderators Stefan Raabs, der hoffte, Rösler würden beim Zugucken „nicht die Stäbchen aus der Hand“ fallen. Gut möglich, dass es einigen Niedersachsen nicht gefiel, wie ihr Landsmann öffentlich demontiert wurde.
Als zweiten Effekt des „Hochschreibens“ sieht Wahlforscher Jung, der weniger an einen „Mitleideffekt“ für Rösler glaubt, das Taktieren: „Die massive negative Wahrnehmung der FDP war die beste Voraussetzung für die starke Unterstützung aus dem Unionslager.“ CDU-Anhänger, die um die schwarz-gelbe Mehrheit fürchteten, machten ihr Kreuz daher bei den Liberalen.
Diesen Effekt beobachtete Jung bereits bei den ersten bundesdeutschen Wahlen 1990. „Die Euphorie über den Wiedervereinigungskanzler Kohl war so groß, dass er in den Medien schon als der alles überragende Sieger galt.“ CDU-Wähler konnten also gewiss sein, dass ihr Wunschkandidat eine sichere Mehrheit erlangen würde. Kohl sollte aber nicht übermütig werden. Viele haben dann der FDP ihre Stimme gegeben.
Wenn die Massenmedien in ihren Botschaften so uniform sind, dass kein Platz mehr für abweichende Positionen ist, können drittens aber auch Gegenöffentlichkeiten entstehen. Ein Beispiel dafür ist die Nominierung Joachim Gaucks zum Präsidenten im vergangenen Jahr. Damals überschlugen sich die Journalisten förmlich mit Jubelmeldungen. ARD-Mann Ulrich Deppendorf stellte seine Gauck-Sendung unter die Frage: „Messias oder einfach ‚nur‘ Bundespräsident?“ Noch in der Nacht, nachdem die Personalie bekannt wurde, versammelten sich die ersten Kritiker im Netz. Das Internet diente dabei als Seismograph einer Protestwelle, die nicht einmal die Mainstreammedien mehr ignorieren konnten. Man könnte auch sagen, hier fand ein umgekehrter Agenda-Setting-Prozess statt: die Medien griffen (verspätet) das auf, was in der Bevölkerung längst gärte.
Zum Glück ist es doch so, dass der ein oder andere Rezipient selbst entscheidet, ob er sich schären lässt. Das eigene Denken können die Medien den Menschen eben nicht abnehmen.
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