- Karlsruhe und die Grenzen des Grundgesetzes
Deutschlands oberstes Gericht in Karlsruhe hat die Verfassungsbeschwerden der Eurokritiker zurückgewiesen und gleichzeitig dem Bundestag den Rücken gestärkt. Die Märkte reagierten erfreut und auch sonst können alle Beteiligten vorerst mit der Entscheidung leben – außer den notorischen Beschwerdeführern. Ein Kommentar
So richtig überraschend ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Eurorettungsschirm nicht - nicht einmal für die Beschwerdeführer selbst. Im Interview mit sueddeutsche.de hatte einer von ihnen, der Ökonom Joachim Starbatty, kurz vor der Entscheidungsverkündung leicht konsterniert festgestellt, dass Deutschlands oberste Richter „nun mal keine Helden“ seien. Warum es heldenhaft sein sollte, Griechenland per erfolgreicher Verfassungsbeschwerde in eine unkontrollierte Insolvenz und Europa in eine wirtschaftliche Katastrophe zu schicken, erklärte Starbatty nicht.
Insofern sollte man dankbar sein, dass in Karlsruhe keine „Helden“ im II. Senat des Bundesverfassungsgerichts sitzen. Die Richter sind stattdessen ihrer Rechtsprechung aus dem Lissabon-Urteil treu geblieben und haben erneut die Bedeutung der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Organe betont und gleichzeitig festgestellt, dass die vom Bundestag verabschiedeten Gesetze zur Rettung Griechenlands verfassungskonform sind, weil sie die Haushaltsautonomie des Parlaments zumindest nicht „evident“ überschreiten. Das war eines der Hauptargumente der Beschwerdeführer gewesen, dass mit der Einrichtung des Rettungsschirms und der damit verbundenen Haushaltsrisiken, der Bundestag sein wichtigstes Recht, das Budgetrecht, nach Brüssel transferiere.
Damit genau das nicht passiert, hat das Bundesverfassungsgericht eine Reihe von Voraussetzungen aufgestellt, die auch für die kommenden Rettungsaktionen gelten, wie den europäischen Rettungsschirm EFSF, über den das Parlament Ende September abstimmen wird: Der ist nur dann verfassungskonform, wenn zumindest der Haushaltsausschuss jeder einzelnen Tranche, die an ein Land ausbezahlt wird, zustimmt. Also auch in Zukunft können die Abgeordneten nicht quasi gezwungen werden, einmal der Einrichtung des EFSF zuzustimmen und 211 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, ohne die Verwendung der Mittel des Fonds weiter kontrollieren zu können. Mit der Einbindung des Haushaltsausschusses wird auch Finanzminister Wolfgang Schäuble leben können, der vorher gewarnt hatte, eine Zustimmungserfordernis des Bundestages könne wichtige Entscheidungen zur Eurorettung verzögern oder blockieren und langwierige, öffentliche Parlamentsdiskussionen könnten die Spekulation an den Märkten befördern. Durch das Delegieren der Kontrolle an den Haushaltsausschuss lassen sich diese unerwünschten Konsequenzen wohl vermeiden.
Dass das Bundesverfassungsgericht aber langsam an die Grenzen des Grundgesetzes stößt bei seinen Entscheidungen zu Europa, sieht man nicht zuletzt an der von ihm auch in diesem Urteil aufrecht erhaltenen Voraussetzung, solch weit reichende Entscheidungen wie die Einrichtung der Rettungsschirme müssten auch in Zukunft einvernehmlich von allen Mitgliedstaaten beschlossen werden. Indem sich die Richter erneut gegen Mehrheitsentscheidungen innerhalb der EU aussprachen, die Deutschland dazu zwingen könnten, gegen seinen Willen zu handeln, erschweren sie zum Beispiel die notwendige Verschärfung des Stabilitätspaktes, denn die Defizitsünder werden auch in Zukunft in der Regel gegen ihre Bestrafung stimmen.
Ähnlich wie das Maastricht- und das Lissabon-Urteil ist auch diese Entscheidung Wasser auf die Mühlen der Kritiker, die schon seit Jahren fordern, dass das Bundesverfassungsgericht vor seiner Urteilsverkündung bei europarechtlichen Problemen den Europäischen Gerichtshof einschalten muss. Das widerspricht allerdings völlig dem Selbstverständnis der Richter in Karlsruhe, was am eindrücklichsten der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhoff beschrieben hat: Wie über eine Brücke ströme von Brüssel her EU-Recht ins deutsche Hoheitsgebiet. Das Verfassungsgericht sitze "im Kontrollhäuschen" an der deutschen Brückenseite und habe darauf zu achten, dass nichts Falsches herüberkomme. Es bleibt fraglich, wie lange das Gericht diese Linie noch durchhalten kann. Bei einer weiter gehenden europäischen Integration, wie sie dieser Tage wieder lauter gefordert wird, bedürfte es wohl einer neuen Verfassung, über die dann auch das Volk abstimmen müsste, wie Heribert Prantl auf sueddeutsche.de richtig vermerkt.
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