Demonstranten tragen die Nationalflagge Brasiliens bei einem Protest gegen Interimspräsident Michel Temer im Juni
Die wirtschaftliche Misere in Brasilien trifft mit politischen Unruhen zusammen / picture alliance

Brasilien - Wie ein Land seine Zukunft verspielt

Dass die Olympischen Spiele der brasilianischen Wirtschaft neuen Schwung verleihen, ist eher unwahrscheinlich. Der Boom ist längst vorbei, Arbeitslosigkeit, Korruption und politische Unruhen bremsen das Wachstum. Die Politik hat wichtige Reformen versäumt

Antony Mueller

Autoreninfo

Antony Peter Mueller lehrt Wirtschaftswissenschaften, insbesondere Makroökonomie, an der brasilianischen Bundesuniversität von Sergipe (UFS), wo er auch am Zentrum für Angewandte Wirtschaftsforschung tätig ist.

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Wurde Brasilien vor wenigen Jahren noch als Musterbeispiel einer aufstrebenden Volkswirtschaft betrachtet, so ist das Land nun dabei, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Brasilien erlebt derzeit einen scharfen Einbruch seiner Wirtschaftsaktivität und ist mit steigender Arbeitslosigkeit und hohen Inflationsraten konfrontiert. Diese Stagflation versetzte die Regierung, die bislang stets auf mehr Staatsausgaben und ein konsumorientiertes Wachstum setzte, zuerst in Panik und dann in Paralyse.

Kongress und Senat haben ein Amtsenthebungserfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) eingeleitet. Der 75-jährige Michel Temer von den Sozialdemokraten (PMDB) hat die Regierungsgeschäfte vorläufig übernommen, bis voraussichtlich im August endgültig über das Verfahren entschieden wird.

Brasilien zahlt nun den Preis für seine Wirtschaftspolitik

Die wirtschaftliche Misere trifft zeitlich mit politischen Unruhen zusammen. Seit Jahren wird Brasilien von einem schweren Korruptionsskandal erschüttert, der über die Regierungspartei hinaus die gesamte politische Klasse betrifft. Seit ihrer Wiederwahl 2014 war die Exekutive unter der Präsidentschaft von Rousseff gelähmt, während allenthalben in der Bevölkerung das Vertrauen schwand.

Brasilien zahlt nun den Preis für die Übertreibungen der Vergangenheit. Der Vorgänger von Präsidentin Rousseff war der ehemalige Gewerkschaftsführer Inácio Lula da Silva. Dieser versprach dem Volk eine rosige Zukunft. Zwischendurch schien es so, als sollte er Recht behalten. Kurze Zeit nach seinem Amtsantritt 2003 fing die Wirtschaft an zu boomen. Die Arbeitslosigkeit ging zurück, die Inflationsrate sank. Die brasilianische Währung erstarkte. Lula, wie da Silva allgemein genannt wird, erreichte während seiner Amtszeit Zustimmungsquoten, von denen seine von ihm selbst gekürte Nachfolgerin nur träumen kann.

Sozialprogramm von Präsident Lula

Präsident Lula verstand es, einen an Euphorie angrenzenden Optimismus im Volk hervorzurufen. Diese Aufbruchsstimmung erfasste alle Teile der Bevölkerung und war keineswegs auf die Arbeiterschaft und die Gewerkschaften beschränkt, sondern bezog große Teile der Unternehmerschaft mit ein. Vor allem konnte die von Lula da Silva gegründete Arbeiterpartei (PT) die Unterstützung der Intellektuellen und der Medien gewinnen. Brasilien ging es nicht nur wirtschaftlich sehr gut, sondern es stellte sich auch als Land dar, in dem ein hoher Grad an Konsens herrschte. Die traditionellen Konflikte zwischen Arbeit und Kapital schienen eingeebnet. Auch die notorisch extreme Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen schien sich zu mildern. Brasilien erlebte eine Phase der Vollbeschäftigung in Verbindung mit guten Unternehmensgewinnen, angetrieben durch ein starkes Wachstum der Rohstoffexporte und dem billigen Import von Konsumgütern.

Steigende Gewinne und Löhne führten zu wachsenden Steuereinnahmen und erlaubten die Ausweitung des öffentlichen Sektors – eine sprudelnde Quelle an Pfründen für die gehobene Mittelschicht. Für die Ärmsten der Armen wurde ein Hilfsprogramm ins Leben gerufen, eine breit angelegte Familienunterstützung, die so genannte „bolsa família“. Wer über kein eigenes Einkommen verfügte, aber nachweisen konnte, dass die Kinder den gesetzlichen Regelungen entsprechend zur Schule gingen und geimpft wurden, erhielt ein spezielles Kindergeld, das für die Ärmsten der Armen zu einer wichtigen Einkommensquelle wurde. Das Leitmotiv der Regierung für dieses Programm war die Eliminierung von Hunger und Armut durch „soziale Integration“.

Rohstoffexporte allein reichen nicht

Es war allerdings weder der Regierung noch der Leistungsfähigkeit der Arbeiter und Unternehmer zu verdanken, dass Brasilien eine Hochkonjunktur erlebte. Die wesentlichen Faktoren für die gute Wirtschaftsentwicklung waren außenwirtschaftlicher Natur. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts erlebte die Welt den Höhepunkt eines langen Rohstoffzyklus. Hiervon konnte Brasilien aufgrund seiner natürlichen Ausstattung überaus gut profitieren. Der Rohstoffboom war wesentlich bedingt durch die wirtschaftliche Expansion in China. Brasilien und China gingen eine Symbiose ein, in der Brasilien Rohstoffe und Nahrungsmittel lieferte und im Gegenzug günstig Konsumartikel erhielt.

In dieser Konjunkturphase aber baute die brasilianische Volkswirtschaft nicht ihre Angebotsseite aus. Die geplanten Infrastrukturprojekte verliefen im Sand oder fielen der Korruption zum Opfer. Die brasilianische Hochkonjunktur ging vom Export aus und beflügelte den inländischen Konsum. Als die Nachfrage aus dem Ausland zurückging, versuchte Lula die inländische Nachfrage durch verstärkte Kreditausweitung anzutreiben. Diese Politik sicherte zwar der Arbeiterpartei und damit Rousseff den Wahlsieg, bereitete aber den derzeitigen scharfen Konjunktureinbruch vor.

Viele der überfälligen Reformen wurden indes versäumt. Als dann die Krise kam, tauchten die alten Schwächen der brasilianischen Volkswirtschaft in aller Deutlichkeit wieder auf. Die Misere reicht heute vom Bildungssystem bis zur Altersversorgung, von der Bürokratie bis zur Arbeitsgesetzgebung, von der extremen wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit bis zu den immensen Privilegien des öffentlichen Dienstes und besonders der Vorrechte, die die Justiz in Brasilien genießt. Zahlreiche unnötige Reglementierungen belasten die Wirtschaft. Unklare und widersprüchliche Gesetze führen laufend zu unkalkulierbaren Eingriffen in das Wirtschaftsleben.

Exorbitante Gehälter für Beamte

Immense Steuern und das Wirrwarr bei ihrer Erhebung belasten Unternehmen, Konsumenten und die arbeitende Bevölkerung. Der öffentliche Dienst ist teuer und ineffizient. Die Ruhestandsregelungen für Beamte sind paradiesisch. Der starke Einfluss des Staates auf die Wirtschaft und die zahlreichen staatlichen und halbstaatlichen Unternehmen öffneten der Korruption Tür und Tor. Selbst in der gegenwärtigen Krise erhöhte Rousseff die ohnehin schon exorbitanten Gehälter von Richtern und Parlamentariern noch einmal kräftig.

Die alte Ideologie des Staatsinterventionismus und der Nachfragestimulierung hat abgewirtschaftet. Das Land lechzt nach neuen Ideen. Die Vertreter der alten Elite haben ihre Legitimation verloren. Der Korruptionsskandal hat den Willen in der Bevölkerung geweckt, zu einer sauberen Demokratie zu finden. Die Wirtschaftskrise könnte nun dazu beitragen, das bislang dominierende interventionistische Wirtschaftsmodell mit seiner Nachfrageorientierung in Frage zu stellen und Privatsektor und die Marktkräfte zu stärken.

Ein Sumpf des Staatsinterventionismus

Die Chancen für eine solche Umkehr stehen aber nicht gut. Schlechte Wirtschaftspolitik zeitigt meist noch mehr schlechte Wirtschaftspolitik, und falsche Ideologie noch mehr falsche Ideologie. Brasilien steckt nicht ohne Grund im Sumpf des Staatsinterventionismus fest. An Universitäten und Schulen dominiert sozialistisches und kommunistisches Gedankengut. In Reaktion auf die Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 herrschte, wurde von den demokratischen Kräften ein Verfassungswerk geschaffen, in dem es von sozialer Utopie nur so wimmelt. Gleichzeitig wurde der Justiz eine überbordende Machtfülle eingeräumt.

Dass der Lebensstandard in Brasilien überhaupt einigermaßen gehalten werden kann, liegt an den immensen Natur- und Agrarrohstoffen. Dieser Reichtum ist Segen und Fluch zugleich. Der leichte Zugang zu den Naturschätzen verführt dazu, der Produktivität wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Die Kapitalbildung ist schwach, das Sparaufkommen ist niedrig und die Innovationsversuche sind mangelhaft.

Auch wenn Brasilien in den kommenden Wochen die Olympischen Sommerspiele feiern wird: Die Prognose ist düster.

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Yvonne Walden | Fr., 29. Juli 2016 - 12:41

Auch wenn die Anhängerinnen und Anhänger der Arbeiterpartei des ehemaligen Präsidenten Lula da Silva und der (Noch-)Präsidentin Dilma Rousseff den Eindruck zu vermitteln suchten, jetzt gebe es auch in Brasilien eine Umkehr zum Guten und die Kapitalseite sei in die Ecke gedrängt worden, ist das genaue Gegenteil der Fall.
Das Kapital, sprich die Großgrundbesitzer, die Eigentümer an den Produktionsmittteln, also die Reichen und Superreichen, sind längst wieder zu alter Machtfülle zurückgekehrt.
Wer das Große Geld hat, hat alle Möglichkeiten zur Korruption.
Die extreme Ungleichheit, die den brasilianischen Staat kennzeichnet, wurde nicht eingedämmt, im Gegenteil.
Dies war ein Riesenfehler, den die Arbeiterpartei inzwischen nicht mehr aus der Welt schaffen kann.
Also gewinnt die Kapitalseite wieder die Oberhand - und alles bleibt beim Alten. Es war und ist eine Illusion, politische Systeme nur mit guten Worten zu verändern
Schlimme Zustände in Brasilien, aber leider nicht nur dort!

Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie jemand zu Kapital gekommen ist:

1) Er hat es aus der Monarchie- und Kolonialzeit herübergerettet. Somit war es zumindest nicht der Kapitalismus, der für diese finanzielle Ungleichheit verantwortlich ist, weswegen man heutige Kapitalisten nicht in gleichem Maße bestrafen sollte.

2) Er hat sich als Politiker bestechen lassen, was nichts mit dem freien Markt zu tunt hat.

3) Er hat es über staatliche Verträge durch bestochene Politiker erhalten. Dieses offensichtliche korrupte politische Klima hätte jedem seiner Konkurrenz Vorteile verschafft, womit er keine Wahl hatte, als so zu handeln (außer verhungern). Hier ist das Volk Schuld, korrupte Politiker gewählt bzw. ihnen zu viel Macht gegeben zu haben; nicht ein zu niedriger Steuersatz.

4) Er hat es auf dem freien Markt fair verdient, indem er Bedürfnisse seiner Kunden befriedigt hat. Eingriffe hiergegen schaden allen, weshalb auch hier keine Gesetze notwendig sind.

Brasilien braucht Markt!

Walter Wust | Fr., 29. Juli 2016 - 17:33

Egal ob Brasilien, Ecuador oder Kuba, es sind nicht die Märkte, es ist die Politik, die vor lauter Wald die Bäume nicht sieht. Linke Träumereien sind kein Nährboden für Gewinnmaximierung und Kapitalertrag. Auch ist die Nomenklatura wenig hilfreich für die Elite im Staatswesen. Leider wird es auch in Europa seinen Obulus fordern, dieser "Linkstrend" in Denken und Handeln und Großbrittanien wird den Tag des "Brexits" noch als Feiertag proklamieren. Es wird Brasilien nichts Anderes übrigbleiben, als nach einem Staatsbankrott noch einmal neu durchzustarten. Dabei sollten alle sozialen Experimente und alle staatliche Eingriffe ins Marktgeschehen strikt unterbleiben, auch sollte der Einfluss Chinas nicht überbewertet werden. Ich wünsche von ganzem Herzen ein gutes Gelingen.

Yvonne Walden | Sa., 30. Juli 2016 - 18:37

Antwort auf von Walter Wust

"Linke Träumereien sind kein Nährboden für Gewinnmaximierung und Kapitalertrag".
Wer zieht den Nutzen aus einer permanenten Gewinnmaximierung? Wem kommen Kapitalerträge zugute?
Es führt weltweit kein Weg daran vorbei, diese Welt menschenfreundlicher und gerechter zu gestalten, koste es, was es wolle.
Die Protagonistinnen und Protagonisten der Arbeiterpartei in Brasilien haben diesen Weg eingeschlagen und dadurch die Reichen und Mächtigen im Lande ziemlich überrascht.
Diese Überraschung währte nicht lange, denn die Herrschende Klasse wollte sich das Heft des Handelns nicht dauerhaft aus der Hand nehmen lassen.
Und wer das Geld hat, hat bekanntlich auch die (Staats-)Macht. Man kann sich auf diese Weise Unterstützung " erkaufen, nicht nur in Brasilien.
Tragisch an derartigen Entwicklungen ist und bleibt, daß vielen Menschen die Selbsteinschätzung fehlt, um ihre wirtschaftliche Situation zutreffend einzuschätzen bzw. einzuordnen.
Daran scheiterte letztendlich auch Brasilien.

Renate Aldag | Fr., 29. Juli 2016 - 18:17

Danke, für den Artikel, Herr Müller. Ich habe viele Lebensjahre in Brasilien verbracht und kann Ihren Bericht nur bestätigen: die grosse Schere von Arm und Reich, dadurch auch bedingt die hohe Kriminalität, die Korruption, die auch die alte Herrenriege um Michel Temer betreibt usw. Was die Misere betrifft z.B. von Privilegien für Staats-bedienstete, auch die Misere des Bildungssystems, der Altersrente und der Bürokratie stimmt, aber wieso erinnern mich Ihre Worte auch an die Zustände der heutigen BRD?

Ernst Laub | Fr., 29. Juli 2016 - 21:53

Ich habe das ungute Gefühl, dass das Klima eines Landes und vor allem die ethnische Zusammensetzung einer Bevölkerung einen grossen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung eines Staates haben. Nehmen wir beispielsweise China: Nix von multikulti dafür viel Leistungswille..... allerdings ist vielleicht ein homogenes Volk weniger kreativ? Doch darüber zu diskutieren wird wohl erst in 50 Jahren erlaubt sein (wenn überhaupt?).

Dr.Ingo Ossendorff | Mi., 31. August 2016 - 13:30

Nach großen Festen und Prosperität folgt meist
eine Saure-Gurken-Zeit, die man durchstehen
muss, wenn man nicht vorgesorgt hat. Das Leben in den Tag hinein und der Spruch "nach
mir die Sintflut" ist sicher nicht die Antwort,
die eine schwäbische Hausfrau parat hätte.
Kredite verschieben nur das Problem in die
Zukunft bis ans Ende der Kreditfähigkeit. Dann
wird es umso schwerer. Viele Staaten der Welt
haben die Bodenhaftung verloren und müssen
sie schmerzhaft wiedererlangen. Auch in Europa
gibt es solche Staaten, die mit Scheuklappen
durch die Welt laufen und meinen nur auf Pump
leben zu dürfen.Die Bewohner dieser Länder tra-
gen die Hauptverantwortung dafür, wenn diese
Haltung schief geht, denn sie geben sich ihre
Regierung selbst.Die Verantwortung auf andere
abzuschieben wird gern gemacht, ist aber un-
redlich. Man schadet sich nur selbst.