Stimmzettel liegem während der Auszählung von Briefwahlstimmen auf einem Tisch / dpa

Das Verfassungsgericht und das Wahlrecht - Ein ängstliches Urteil

Das Wahlrecht ist die Grundlage der Demokratie. Wenn es der Bundestag ändert, ist deshalb höchste Sorgfalt und allerhöchste Vorsicht angebracht. Das jüngste Urteil aus Karlsruhe ist ein ängstliches Urteil – kein kluges und weitsichtiges.

Volker Boehme-Neßler

Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

So erreichen Sie Volker Boehme-Neßler:

„Mit Blick auf die Größe des nächsten Bundestags wird mir bange.“ Dieser Stoßseufzer des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble aus dem September 2021 gab den Bemühungen um eine Reform des Wahlrechts neue Impulse. Alle waren sich einig, dass der Bundestag dringend verkleinert werden müsste. Die schiere Größe bedrohte allmählich die Arbeitsfähigkeit des Parlaments. 

Trotzdem war eine Reform schwierig. Dafür gab es Gründe. Der wichtigste von ihnen: die Angst vor dem Machtverlust. Jeder Reformvorschlag wird von Parteipolitikern vor allem nach einem Kriterium beurteilt: Wie wirkt sich der Vorschlag auf die künftige Machtverteilung aus? Die große Kunst wäre, ein Wahlrecht zu schaffen, das den Bundestag effektiv verkleinert und gleichzeitig die notwendigen Verluste fair unter den Parteien verteilt.  

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Gerhard Lenz | Mi., 31. Juli 2024 - 11:51

Ist es vertretbar, dass eine Partei, die 50% der Stimmen erhält, weniger als 50% der Sitze erhält? Weil eine andere Partei, die insgesamt schwach abgeschnitten hat, irgendwo ein paar Direktkandidaten durchgebracht hat?

Es gibt Länder, in denen es eine reine Verhältniswahl gibt. Sind die weniger demokratisch?
Ist ein Land wie GB, in dem dank des Mehrheitswahlrechts 35% der Stimmen zur absoluten Mehrheit reichen, andere Parteien, die fast 20% der Stimmen erhalten, aber nur eine Hand voll Abgeordnete haben, etwa demokratischer?

Zitat: "Wer direkt gewählt wird, kommt ins Parlament. Das ist eine demokratische Selbstverständlichkeit." Bezieht sich das nur auf Kandidaten, oder auch auf Listen?
Tatsächlich dürfte der von Vertretern des Mehrheitswahlrechts so gern gepriesene Direktkandidat weniger wichtig sein: In bayrischen Wahlkreisen, in denen die CSU regelmässig 70% erhält, dürfte es egal sein, ob der Kandidat Mickey Mouse oder Donald Duck heisst. Er bleibt eh' den meisten unbekannt.

Ja Herr Lenz, was ist demokratisch?
Aber um die Nachteile von Mehrheits- und Verhältnisswahlrecht auszugleichen haben die, die das erste Wahlrecht der BRD geschrieben haben, je zur Hälfte die Mandate vergeben mit ein wenig Ausgleich auf Länderebene.
Aber die Parteien haben aus Eigeninteresse und "Gerechtigkeit" das Gesetz abgeändert und das BVerfG hat mitgemauschelt.
Ich bin für: Zurück zu den Wurzeln. Direktmandat muss Mandat ohne Einschränkung bleiben und Absenkung der Hürde auf 3 % im Verhältniswahlteil könnte nicht schaden.

von Listenplatz 1 abwärts, sind die besser bekannt ?
Die Politikverdrossenheit gegenüber den etablierten Parteien resultiert doch nicht aus dem Wahlrecht od. einem übergroßem Parlament noch nicht einmal die Beförderungswelle für verdienstvolle Parteifunktionäre zum Ende der Legislatur ….. neee es liegt an der grottenschlechten Politik

Hans Jürgen Wienroth | Mi., 31. Juli 2024 - 12:01

Der Vertrauensverlust der Bürger liegt nicht am Wahlrecht, sondern an dem, wie mit den Wünschen der Menschen umgegangen wird.

Es wird immer von einer Herabwürdigung der Direktmandate geschrieben, so als wäre der Direktkandidat allen Bürgern persönlich bekannt. Als berufstätiger habe ich zu keinem Kandidaten persönlich Kontakt. Aufgestellt werden alle von der Partei, ob Direktkandidat oder „Landesliste“.

Direktkandidaten hatten einen Wert, als diese noch 50% und mehr holten. Heute genügen dafür aufgrund der Parteienvielfalt ggf. 20%. Nach neuem Wahlrecht kommen zunächst die Direktkandidaten ins Parlament, es sei denn das Zweitstimmenergebnis gibt weniger Plätze her. Dann kommen nicht alle hinein, aber es kommt auch keiner der Landesliste rein! Das ist für mich eine Abwertung der Listenkandidaten, wenn dem so ist.

Die Grundmandatsklausel halte ich grundsätzlich für richtig.

Ich würde mir eine Einigung ALLER Parteien wüschen, dass dann nach GG nur mit 2/3 Mehrheit geändert werden kann.

<<Der Vertrauensverlust der Bürger liegt nicht am Wahlrecht, sondern an dem, wie mit den Wünschen der Menschen umgegangen wird.>>

Der Vertrauensverlust liegt daran, dass Listenabgeordnete KEINE Vertreter des Souveräns sind sondern Parteieanbgeordnete sind. Um auf einen Listenplatrz zu kommen, der den Einzug in den BT garantiert ist man auf das Wohlwollen der Partei angewiesen. Das Gewissen -Art 38 GG- bleibt da schon mal außen vor.
Listenabgeordnete sind erpressbar. Beispiele:
Kauder an einen Listenabgeordneten, der sich auf Art 38 berufen wollte, dann lass Dich zukünftig von der Deinen Gewissen auf die Liste setzen.

Oder Profalla, an Bosbach der sich dem Fraktrionszwang widersetzen wollte:
Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen!
Gesagt vor der Kamera in einer "öffentl BT-Sitzung"

Angeblich haben wir doch schlaue Mathematiker. Die sollten doch in der Lage sein Wahlrecht zu erarbeiten, dass dem WÄHLERWILLEn und Art 21 GG gerecht wird, unter gesetzl Festlegung der größe des BT.

Lesen hilft, Herr Schäfer. Die Direktmandate werden, wie von mir beschrieben und von Frau König betont, nach ihrer Prozentzahl oben auf der Parteiliste eingefügt. Erst wenn alle Direktmandate den Einzug in den BT sicher haben, kommt die eigentliche Liste zum Zuge. Es kann also geschehen, wenn der „Spitzenkandidat eines Bundeslandes (da gilt die Länderliste, genauso, wie bei den Direktmandaten!) kein Direktmandat erobert, dass er nicht in den Bundestag einzieht. Das hätte z. B. in der letzten Wahl in Bayern der Fall sein können.

Zur „Fraktionsdisziplin“ habe ich bereits an anderer Stelle geschrieben, halte ich eine Klage vor dem BVerfG. für sinnvoll. Die Ampel war immerhin so clever (im Gegensatz zu den GroKos, soweit ich weiß) dass sogar in den Koalitionsvertrag zu schreiben und ist der nicht öffentlich? Also, Juristen vor, dafür würde sich sicher ein „Crowd-Funding“ viele Unterstützer finden.

Wilhelm Keyser | Mi., 31. Juli 2024 - 12:06

Das BVerfG hat sich nicht mehr, wie zu seinen Glanzzeiten, als starker Hüter der Verfassung gezeigt, vielmehr halte ich es für politisiert und damit befangen. Ich darf zunächst auf meinen Kommentar zu Müller-Voggs gestrigen Beitrag verweisen. Das BVerfG billigte das BT-Verkleinerungsziel der Ampel-Wahlrechtsreform, was als solches sicher i.O. ist, und zog sich deshalb und auch wg. zuvor schwieriger Lösungssuche auf eine Grobprüfung, eine Willkürkontrolle zurück. Das kann man machen kurz vor einer BT-Wahl (nun ja), aber den Parteien über ihre bloße MITwirkungsfunktion hinaus quasi einen Freibrief auszustellen, die Erststimme zu entwerten, den freien Abgeordneten zu schwächen, das halte ich für verfassungswidrig. Wenn man meint, die Zeit drängt, dann hätte die weitere Vorgabe nicht Überprüfung der 5-%-Hürde sondern - stringenter - z.B. Reduzierung der Wahlkreise oder umgekehrt Entwertung der 2.-Stimme sein müssen. Denn die Parteien sind nicht die Demokratie, sie wirken daran nur mit!

Karl | Mi., 31. Juli 2024 - 12:39

" Die grosse Kunst wäre, ein Wahlrecht zu schaffen, das den Bundestag verkleinert und gleichzeitig die notwendigen Verluste fair unter den Parteien verteilt.". Fair ist für die überbezahlten Ampelschwurbeler, ein Fremdwort. Es geht darum die Opposition und alle unliebsamen Parteien auszugrenzen und rauszuwerfen, denn am Fresstrog ist nicht mehr so viel Platz. Der andere Grund ist der Machterhalt, dieser schlimmsten und gefährlichsten Regierung, die Germoney je hatte. Bin mal gespannt, wenn so ca. 100 Labertköpfe, keine 12000€ schwer erarbeitetes Steuergeld und sonstige finanziellen Zusatzschmatzriegel mehr nach Hause schleppen können. Von Gerechtigkeit ganz zu schweigen, das ist das zweite unbekannte Fremdwort der Ampel. Alles vor der Wahl im Osten eingefädelt und bis zum Höhepunkt der Bundestagswahl durchgedrückt. Der Bürger wird schon lange nicht mehr gefragt. Der zugewachsene Verfassungsschützer von Thüringen, hat ein "Geheimbericht", um die AfD noch vor der Wahl zu verbieten !?!? Macht mal schön so weiter, ihr Ampel Männer, dann gibt es bald unschöne Bilder, die die knechtende Bevölkerung beunruhigen wird. So wie in England, nach drei Kinder Morden und 8 Schwerverletzten. Auch bei der Nicht Wahl von Trump werden wir brutale Unruhen in den USA sehen. Bloss hier schläft der Deutsche Michel immer noch wohlig auf dem schon lange versüfften rotgrünen Kopfkissen.

Tomas Poth | Mi., 31. Juli 2024 - 12:39

Möglicherweise, vielleicht aber auch nur ein kurzer Zwischenhalt, auf dem Weg zum totalitären Öko-Sozialismus.
Das rotgrüne Pack dreht ja an allen Schrauben, um sich eine lebenslange Machtbasis zu schaffen.
Für Demokratie soll ja keine Zeit mehr sein, da können zu viele mitreden, die stören nur.

Wolfgang Borchardt | Mi., 31. Juli 2024 - 13:13

yind um Populismus auch nicht verlegen. Ob KKW-Abschaltung oder "Bürgergeld" oder das Versprechen der Thüringer SPD und Linken, "Kleinrentnern" mehrere Hundert € Weihnachtsgeld zu zahlen. Natürlich nur, wenn die SPD erfolgreich aus der Landtagswahl hervorgeht. Auch wenn das Wort "Linkspopulismus" in den "rechtlichen" Medien nicht vorkommt (andere sind demnach unrechtlich), es gibt ihn trotzdem. Zudem muss man nicht Experte sein, um dem Bundesverfassungsgericht keine einfache Zukunft vorauszusagen. Es stört einfach bei der Umsetzung hehrer ideologischer Ziele. Der Fels in der Brandung inmitten enterbereiter Wasserfahrzeuge.

Ernst-Günther Konrad | Mi., 31. Juli 2024 - 15:17

Es ist nicht Aufgabe des BVerfG eine missglückte und nicht von allen getragene Wahlrechtsreform durch ein Urteil zu ersetzen. Das Gericht hat für mich richtigerweise der Abschaffung der Grundmandatsklausel einen Riegel vorgeschoben, so lange nicht alle Parteien gemeinsam einen Weg finden und dann ohne BVerfG, eine neue Lösung zu finden. Die Ampel hat nur mit diesem Gesetz versucht, sich unliebsamer Konkurrenz zu entledigen, damit ist aber gescheitert. Das der BT kleiner wird, ist schon mal ein Fortschritt, obgleich ich der Überzeugung bin, das selbst 630 Sitze noch viel zu viel sind. Aber ein Anfang ist gemacht. Für mich würde die Anzahl der Wahlkreise identisch mit der Anzahl der Abgeordneten völlig ausreichen. Jedenfalls wäre es an der Zeit parteiübergreifend, wenn man wirklich mehr Gerechtigkeit will und einen übersichtlichen BT, sich in aller Ruhe neue Änderungsinhalte zu diskutieren. Solange aber die Parteien nur die eigenen Pfründe sichern wollen, wird das nichts.

Jens Wolterink | Mi., 31. Juli 2024 - 15:36

Die Wahlrechtsreform ist doch ein gutes Beispiel für das Wirken der Ampel: Nicht alles erreicht, was man sich als Wähler wünschen würde, aber immerhin sind Sie nach über 10 Jahren Verschleppung auch dieses von Mutti und der Groko geerbte Problem mal an gegangen. Besser eine suboptimale Lösung als weiter den aufgeblähten Status Quo.

S. Kaiser | Mi., 31. Juli 2024 - 16:04

…. bemisst sich nicht daran, ob es einem selbst gefällt. Wenn die Schlussfolgerung lautet, „die Entscheidung der Verfassungsrichter ist juristisch vertretbar“ hat es seine Kontrollfunktion erfüllt.
Und wenn der Gestaltungsspielraum des Parlaments noch dazu betont wird, umso besser, da es dessen Aufgabe ist.
Würde man hingegen „eine mutige und kluge Entscheidung“ erwarten, dann hat das die Anrüchigkeit der Übergriffigkeit. Es reicht, dass man die Exekutive in die Schranken weisen muss, wenn jetzt hingegen auch noch die Judikative meint, mit Urteilen gestalten zu müssen, dann wird die Gewaltenteilung noch weiter geschleift ...

Brigitte Simon | Do., 1. August 2024 - 07:11

Die unfähige Ampelkoalition nahm Rücksicht auf das Fußvolk. Bei der Gestaltung des neuen Wahlrechts für den Deutschen Bundestag doch nicht gegangen. Sie bemühte sich, den gefährlichen Konkurrenten des Parlaments fernzuhalten. Insbesondere die Sitze der CSU.

Genau da setzt die neue von der Ampelkoalition beschlossene Bundestragswahlrecht an. Wer künftig nicht mindestens 5 Prozent der gültigen Wählerstimmen erzielte, hat jedes Recht auf das Direktmandat verwirkt. In diesem Fall wäre die CSU in 43 Wahlkreisen als Sieger hervorgegangen, aber die gewählten Direktkanditaten hätten eine Urkunde über ihren vermeintlichen als Sieger ausstellen lassen und den Bundestag als Abgeordnete besuchen. Ihre erzielten Erststimmen hätten bei der Besetzung des Bundestages keine Rolle gespielt.
Wahrlich ein königliches Gesetz.

Gerhard Hellriegel | Do., 1. August 2024 - 09:47

nach meiner Kenntnis bedeutet das neue Zweitstimmendeckungsverfahren, dass Überhangmandate wegfallen. Das BVerfG hat das als verfassungsgemäß akzeptiert.
Dagegen ist die neue UNEINGESCHRÄNKTE 5%-Sperrklausel (Grundmandatsklausel) verfassungswidrig. Das Gericht setzt daher die alte 5%-Regelung wieder ein, bis der Bundestag eine neue verfassungsgemäße Regelung schafft.
Was hat sich also geändert?
Die Überhangmandate fallen weg.
Kritik ist okay, aber ein Vorschlag, wie alternativ der Bundestag verkleinert werden kann, wäre hilfreicher.
Man lese bitte noch einmal den Abschnitt "Eine demokratische Selbstverständlichkeit".
Schlicht falsch.