Boris Johnson ist der neue Premierminister Großbritanniens
Boris Johnson wird in Deutschland kritisch beäugt / picture alliance

Boris Johnson - Biedermänner und Freigeister

Boris Johnson wird in Deutschland von den Biedermännern der Politik mit Argwohn betrachtet. Eine Fehleinschätzung. Denn Johnson ist ein gebildeter Freigeist, der mit der deutschen Kleinbürgerei nichts am Hut hat

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Kleines Gedankenexperiment: Ist es vorstellbar, dass sich Michael Müller, seines Zeichens Regierender Bürgermeister von Berlin und wackerer Sozialdemokrat, ein Rededuell mit einer angesehenen Historikerin liefert, Thema: Welche antike Kultur ist die überlegene, die griechische oder die römische?

Seien wir ehrlich: Nein, das ist natürlich nicht vorstellbar. Michael Müller ist gelernter Bürokaufmann, wie es in viele gibt in Deutschland. Doch man tritt ihm gewiss nicht zu nahe, wenn man davon ausgeht, dass das Zitieren von Homer-Versen im Original nicht zu seinen Kernkompetenzen gehört. Und zu den Eigenarten griechischer und römischer Kultur hätte Müller vermutlich auch nicht allzu viel zu sagen. Es wäre einfach nur grotesk.

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Christa Wallau | Sa., 27. Juli 2019 - 10:30

Ihr Plädoyer für eine klassische Bildung, die Boris Johnson in England genossen hat, lieber Herr Grau, dürfte im D des 21. Jhdts. nur bei wenigen Leuten auf Verständnis stoßen - zumeist bei älteren, die noch auf einem humanistischen Gymnasium Abitur gemacht o. deren Elternhäuser ihnen diese Bildung vermittelt haben.
Tempi passati!
Wie Sie richtig schreiben, herrscht bei uns konformistisches Mittelmaß, und dies diktatorisch.
Jeder wirklich freie Geist ist suspekt. Niemand aus der Pseudo-Elite, zu der u. a. Journalisten, Wirtschaftsbosse, Wissenschaftler und Politiker gehören, respektiert - öffentlich - einen freien Denker nur deshalb, weil er intelligent argumentiert u. neue Gedanken äußert, nein: Dieser "Typ" wird sofort abgelehnt, weil er nicht der "Linie" folgt, welche die Mittelmäßigen gezogen haben. Bestes Beispiel dafür bietet der Umgang mit Autoren wie R. P. Sieferle oder auch Thilo Sarrazin.
Die deutschen Biedermänner lieben eben die Brandstifter, nicht die Freigeister.

Helmut Bachmann | Sa., 27. Juli 2019 - 11:34

Ich bin immer wieder erfreut, nicht der einzige Selbstdenker zu sein ;-)

Wolfgang Tröbner | Sa., 27. Juli 2019 - 12:22

Ob man im Falle der deutschen Politiker überhaupt noch von Mittelmaß sprechen kann, wage ich zu bezweifeln. Viele Abgeordnete im Bundestag haben ja nicht mal einen normalen Berufsabschluß (gilt insbesondere für die hippen Grünen). Und dass unsere Politiker meist nicht gebildet sind (meist sind sie sogar sehr ungebildet), können sie auch nicht verbergen (Ebner-Eschenbach: "Man muss schon etwas wissen, um verbergen zu können, dass man nichts weiß"). Dass solche Menschen so ihre Probleme mit dem gebildeten Weltbürger Johnson haben, glaube ich gern. Er verkörpert so ziemlich alles, was sie nicht sind, aber gerne wären. Da bleibt ihnen unterm Strich nur, einen Johnson zu attackieren und verächtlich zu machen. Mehr können sie nicht und mehr haben sie auch nicht gelernt.

Wolf-Dieter Hohe | Sa., 27. Juli 2019 - 12:30

...nicht zu vergessen. Alle nicht weit auseinander. Eine Gesetzmäßigkeit. Und gezündelt wird derzeit eine Menge. Fehlt nur noch DER Windstoß. Brandbekämpfungs-König*in am Start, Kompetenz strahlende Montur übergestreift. Autoritätsurkunde in der Hand. Zum Schwur bereit.

Beate Weikmann | Sa., 27. Juli 2019 - 13:55

ist vermutlich noch schwer zu sagen. Aber brillant wie die deutsche Politik und ihre Lakaien beschrieben wurden. Wir schauen kaum mehr über den Tellerrand hinaus, Lehrer beklagen das sie Schulbücher die vor 15 Jahren verwendet wurden nicht mehr im Unterricht einsetzten können. Wir spotten und zeigen mit dem Finger. Wenn wir nicht aufpassen wird sich das Blatt ganz schnell drehen.

Klaus Decker | Sa., 27. Juli 2019 - 14:12

Ja, das widert natürlich die Klasse der "Tugendmenschen" an - dazu noch ein "Lügenbold",
wo doch in Deutschland Geradlinigkeit und Ehrlich-
keit zur Grundausstattung eines "anständigen" Politikers gehören. Duo "Infernale" gegen die Duos der
"Weltretter": Trump und Boris gegen Obama und Habeck. Ich persönlich bin absolut kein Freund des
Hedonismus, aber Heuchelei ist mir noch mehr verhasst. Darf man die rhetorische Frage stellen,
welche Spezies in der Weltgeschichte größeres Un-heil angestiftet hat?

Henning Magirius | Sa., 27. Juli 2019 - 14:17

dass Sie die Verhältnisse so zurechtrücken. Johnson tut Europa gut und wird die Rest-EU zwingen, sich ehrlich zu machen und sich endlich mit ihrem desaströsen inneren Zustand auseinander zusetzen. Die nächsten 3 Monate bis zum 31. Oktober werden politisch super spannend und erfordern gesundheitlich top-fitte, aufgeweckte (wache!) EU-Regierungschefs.

Ernst-Günther Konrad | Sa., 27. Juli 2019 - 14:59

Erst zeichnet Herr Wilk einen Artikel weiter unten ein Bild eines dummen, clownhaften, unintelligenten Betrügers und Lügners, der alle um sich herum blendet, eigentlich nicht in die Politik gehört und auf wundersame Weise dann doch Premier geworden ist und nun das krasse Gegenteil Herr Grau, ein Johnson mit Bildung und Können.
Herrlich wie Sie beide einen Kontrast hergestellt haben, der jedes Meinungsbild bedienen kann.
Es bleibt dem geneigten Leser jetzt überlassen, anhand der Informationen in beiden Artikeln und eigener Wahrnehmung für oder gegen Boris zu sein. Ich für meinen Teil schaue mir das aus der Ferne an, akzeptiere die Wahl des Volkes dort und werde Boris danach beurteilen, was er u.a. gegen die EU durchsetzen kann und ob er das Brexitdatum, egal ob mit Deal oder ohne zum 31.10.2019 endlich beendet. Ich schrieb schon einmal, Aussehen, persönliche Eigenarten mögen zwar zur Beurteilung von Symphatie entscheidend sein. Ich werte seine Handlungen im Sinne des britischen Volkes.

Kirsch | Mo., 29. Juli 2019 - 12:03

Antwort auf von Ernst-Günther Konrad

Lieber Herr Konrad,

danke für Ihr Lob. Wir versuchen immer verschiedene Sichtweisen darzustellen. Deshalb ist der Cicero auch ein Debattenmagazin für politische Kultur.

Der Artikel von Herrn Wilk allerdings spricht keineswegs von Boris Johnson als dumm oder unintelligent. Herr Wilk stellt klar, dass Johnson hochintelligent und gerissen ist. Das muss man für den Werdegang Johnsons auch sein. 

Beste Grüße
Ihre Cicero-Redaktion

Bernd Muhlack | Sa., 27. Juli 2019 - 15:25

Die überwiegenden Medien u natürlich die ö-r-TVs sehen in diesen beiden Zeitgenossen ja die Protagonisten des Weltuntergangs, also in Verbrüderung u Ausnutzung des Leugnens des offensichtlich, jedem sekündlich klar erkennbaren Klimawandels.
Also eine Art Bildung einer kriminellen, gar terroristischen Vereinigung!
Okay, Trump ist nicht wirklich die hellste Kerze auf der Torte und Johnson ist auch eher eine Person sui generis. Das besagt jedoch nicht, dass sie "den Job" nicht gut machen, also für ihr Land, die "Leute". Sie stehen schlicht für eine andere Politik, nicht Junckers-EU-Küsschen-Gedöns.
Und wer nicht für den "Mainstream" ist, der ist logischerweise BAH! "Du darfst nicht mehr mitspielen, sonst schlag ich dich mit meiner Schaufel!"
US-WAHL 2016/17: Frau Dr. Merkel mahnt den neuen POTUS zur Einhaltung der Demokratie etc.
Welch eine Anmaßung sonders gleichen! Für wen hält sich diese Frau?
BJ hat just eine GIGA-Chance! The winner takes it all, the looser is standing small

Heidemarie Heim | Sa., 27. Juli 2019 - 15:42

Großartig Herr Dr.Grau! Besser kann man unsere dem moralischen Spießbürgertum anheimgefallene Elite nicht beschreiben! Das gemeine Wahlvolk mag sich aus Bequemlichkeitsgründen zwar mit einem Mittelmaß von Politik lange Zeit zufrieden geben, ist aber dennoch offen für derart schillernde Gestalten in der Politik, zu denen Boris Johnson unzweifelhaft gehört.Seine britischen Fans zumindest schätzen, obwohl sie ihre Monarchie samt Titeln pflegen, gerade seinen lockeren Umgang mit dem Protokoll. Im Gegensatz zu uns mögen sie das Obskure genauso wie das Wetten und scheuen das Risiko viel weniger als hierzulande üblich. Mal schauen was B.J. seines Zeichens Vorsitzender des Commonwealth of Nations, immerhin 53 Mitgliedsstaaten auf allen Kontinenten, sich einfallen lässt um eventuell wegfallende Vertragswerke mit der EU zu kompensieren. Auch die Rolle GBs in der Nato bietet da wohl den ein oder anderen Verhandlungsspielraum wenn`s ernst wird im Rosenkrieg. "Just wait and see." MfG

Ekkehard Windrich | Sa., 27. Juli 2019 - 17:42

Lieber Alexander Grau,

Ihr Text war in seiner Polemik äußerst erfrischend zu lesen, gerade weil ich mich mit der Person Boris Johnson nie ernsthaft befaßt hatte und die übliche, abfällig-oberflächliche Berichterstattung über ihn mir höchstens ein Überfliegen wert war.

Schön und ein Kompliment an den Cicero wert ist auch, daß Ihre Kolumne gleich neben Jannik Wilks harschem Verdikt "Mogelpackung" steht. Beides zusammen ergibt ein interessantes Bild und ich bin gespannt, ob die Briten sich am Ende griechischer verhalten als die Griechen vor ein paar Jahren.

Lieber Herr Windrich,

danke für Ihr Lob an die Redaktion. Der Cicero ist ein Debattenmagazin für politische Kultur. Daher kommen bei uns nach Möglichkeit auch konträre Sichtweisen zu Wort. 

Eine schöne Woche wünschen wir Ihnen,

Ihre Cicero-Redaktion

Dieter Erkelenz | So., 28. Juli 2019 - 08:01

"Deutschland, dem Land der nivellierten Mittelstandsgesellschaft","Moralvorstellungen des deutschen Neuspießertums" "deutschen Provinzialismus".
Herr Grau, ich verwahre mich eindeutig gegen diese Verallgemeinerungen! Ich bin von Ihnen besseres gewöhnt als diese Pamphlet und diese unerträgliche Eloge!! Bin ich deshalb ein 'Spießbürger'?

Maria Fischer | So., 28. Juli 2019 - 09:06

Großen Dank, Herr Grau.
Diese unfassbare deutsche Provinzialität begleitet von Größenwahn ist bitter, zutiefst schmerzlich und manchmal unerträglich und wie so häufig in der deutschen Geschichte werden diese Eigenschaften „gespeist“ aus Hochmut gepaart mit Minderwertigkeitskomplexe.

Jürgen Keil | So., 28. Juli 2019 - 09:32

Hier muss ich nichts kommentieren. Wie würde man im Berliner Politbetrieb sagen: Da bin ich ganz bei Ihnen.

Gisela Fimiani | So., 28. Juli 2019 - 12:37

Für derart „elitäre“ Gedanken, Herr Grau, bezieht man hier zu Lande Prügel. In diesem Land bevorzugt man das geistig anstrengungslose Dasein in der romantischen Horde. Man bewundert den intellektuellen Freigeist nicht; man prügelt ihn hinab in die Horde, mit der moralischen Rechtfertigung der sozialen Gerechtigkeit. Freiheit zur geistigen Unabhängigkei ist nicht erstrebenswert, Romantik der Aufklärung vorzuziehen. Wir haben unsere unbeleckten „Eliten“ selbst geschaffen. Ich erlaube mir ein Zitat von Oskar Wilde: „Es ist tragisch, wie viele Menschen niemals >>ihre Seele besitzen<<, bevor sie sterben. >>Nichts kommt unter Menschen seltener vor<<, sagt Emerson, >>als eine eigene Handlung.<< Das ist völlig richtig. Die meisten Leute sind nicht sie selbst. Ihre Gedanken sind die Ansichten anderer, ihr Leben ist Mimikry.“ Der Freigeist wird zum Schutz deutscher „Eliten“ ausgemerzt. Er würde diese in die Rechtfertigungs-& Existenzkrise stürzen, indem er sie des Sendungsbewusstseins beraubt.

Dominik Roth | So., 28. Juli 2019 - 13:19

Ein klasse Kommentar, auch unterhaltsam und mit einigen traurigen Wahrheiten! Echt gut geschrieben.

RHe | So., 28. Juli 2019 - 20:39

Danke für diesen, meiner Meinung nach sehr differenzierten, einordnenden Beitrag..., ist auch einfach mal nur wohltuend, Qualität zu geniesen.
Es gibt in deutschen Blättern zu diesem Thema leider oft nur unsägliche cut & past Versatzstücke von den üblichen Staats- Schalmeienorchestern, oder den gerne im Chor (aaber bezahlt) mitsingen Wollenden.

Christoph Kuhlmann | Mo., 29. Juli 2019 - 10:02

Nach dem Trauerspiel mit May vielleicht eine ganz lustige Abwechslung. Was hat er in London erreicht, glaubt man den Kommentaren in der deutschen Presse nur wenig. Wie hat er seinen Brexitwahlkampf geführt, mit einer Lüge in großen Lettern auf dem Wahlkampfbus. Deswegen hat ihn ja damals auch die Times gefeuert. Er würzte seine Artikel mit erfundenen Zitaten. Dem Zitat "Fuck the business" hat er übrigens nie widersprochen. Der Skandal als Außenminister, Gedichte von Rudyard Kipling in einer ehemaligen Kolonie des Empire zu zitieren, lässt sich auch mit ein par Versen von Homer nicht aus der Welt schaffen. Das nennt sich dann wohl Elefant im Porzellanladen. Der Mann hat sicherlich Unterhaltungswert, aber er ist ein politischer Hasardeur und Scharlatan. Wir werden ja sehen, wie es der britischen Volkswirtschaft ergeht, aber wahrscheinlich wird ihm ihr Niedergang niemand übelnehmen (außer Labour natürlich). Er hat ja so viel Charme ... sind eigentlich Nero's Verse überliefert?

Andreas Diedenhofen | Mo., 29. Juli 2019 - 11:26

Es ist sicherlich korrekt auf die "Reibungsfläche" zwischen gebildetem Philhellenen und den teutonischen Polit-Biedermeiern hinzuweisen.
Vielleicht sollte man aber auch nicht ganz vergessen dass Johnsons einzige "Religion" sein grenzenloser Narzissismus ist. Vielleicht liegt ihm deshalb die biedere römische Idee der "res publica" fern?
Johnson lügt leidenschaftlich und gehorcht der Maxime: "Was stört mich mein dummes Geschwätz von Gestern..."
Die Klasse der Empire nostalgischen Eton-Oxbridge Absolventen hat das Vereinigte Königreich und sein Parlament immer noch fest im Griff. Wenn man durch den deindustrialisierten Norden von England oder durch Wales fährt kann man sich anschauen was die Freigeister der Torys wie Johnson so alles geschafft haben: Armut und Suppenküchen wie zu Zeiten des Feudalismus.
Das werden einem die spießigen Bundestagsabgeordneten der Moralin verspritzenden Fraktionen fast wieder sympathisch... aber ist dieser Kommentar noch "politically correct" ?...

Heinrich Dompfaff | Mo., 29. Juli 2019 - 11:33

ceterum: seien wir ehrlich: nicht nur unseren Piefkes ist Boris J. eine Anlaß des Anstosses, sondern auch den durchaus (bestenfalls) mittelmäßig gebildeten Durchschnitts-Briten. Die geistige Kluft zwischen Eliteschülern und der plebejischen Masse ist in UK mindestens so breit wie im Land der ideologisch durchtränkten Mainstream-Denker. Dennoch schade, dass wir keine vergleichbaren Eliteschmieden mehr haben.

Henning Magirius | Mo., 29. Juli 2019 - 13:17

Angela Merkel hat Boris Johnson in einem ersten Telefonat nach seiner Wahl zum PM u.a. nach Deutschland eingeladen. Sollte er kommen und Merkel ist dann noch Kanzler, dann ist doch die entscheidende Frage: Unterwirft auch er sich (so wie bereits die dänische und die moldawische Regierungschefinnen) dem „neuen“ Protokoll beim deutschen Staatsempfang für ausländische Staatsgäste im Ehrenhof des Kanzleramtes und setzt sich zum Anhören - auch seiner eigenen, der britischen Nationalhymne - neben Angela Merkel auf einen der beiden, bequemen weißen Stühle.