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(picture alliance) Zwischen Ost und West: die Türkei

Außenpolitik der Türkei - Zerrissen zwischen Asien und Europa

Gründungsvater Kemal Mustafa Atatürk hatte seinem Land eine strikte Westausrichtung verordnet. Eine Mitgliedschaft in der EU sollte das garantieren. Doch mittlerweile wendet sich das Land mit seiner inoffiziellen Hauptstadt immer mehr dem Osten zu und findet Geschäftspartner in Asien und den arabischen Staaten

Die Tage, in denen die Türkei als Bittsteller an die Tore Europas klopft, sind vorbei. Stattdessen strotzt das Land vor Selbstbewusstsein. Premierminister Reccep Tayyip Erdogan gilt als einer der mächtigsten Politiker der Welt, das Wirtschaftswachstum des Landes ist seit Jahren zweistellig. „Die Türkei versteht sich selbst als bedeutende Macht“, sagt Yildirim Üctug, Rektor der Istanbul Kemerburgaz Universität.

Umso mehr war es für viele eine Überraschung, als Stefan Füle, Erweiterungskommissar der Europäischen Union, kürzlich bekannt gab, dass es Bewegung in den Beitrittsgesprächen mit der Türkei gibt. Viele hatten den Türkei-Beitritt schon ad-acta gelegt. Zwei Jahre lang hatte Stillstand geherrscht, nach dem Frankreich, Deutschland und Zypern alle Wege Vorwärts blockiert hatten. Für die EU waren es zwei Jahre der Dauerkrise. Die Türkei hingegen lässt sich als neue politische Macht und  Wachstumsmotor feiern.

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Dahinter steht ein politischer Paradigmenwechsel. Statt nach Berlin, Paris und Washington, schaut die Türkei zunehmend Richtung Osten. Das Ergebnis: Wachstumsraten im zweistelligen Bereich, einflussreiche Gespräche im Balkan, in Russland, den arabischen und asiatischen Staaten, eine Vielzahl von Militärkooperationen. „Anatolien war das Herz vieler großer Imperien“, sagt Yildirim Üctug, Rektor der Istanbul Kemerburgaz Universität. „Und seit die Türkei an wirtschaftlicher Stärke gewinnt, will sie wieder eine größere Rolle in der Region spielen.“

Aushängeschild dieses neuen Selbstbewusstseins ist Türkeis inoffizielle Hauptstadt Istanbul. Während Touristen und Kulturinteressierte die Stadt seit Jahrzehnten besuchen, bevölkert eine neue Gruppe die vielen neugebauten fünf Sterne Hotels der Stadt: Reiche arabische und asiatische Businessmänner, auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten. Und sie werden fündig. Zwischen 2001 und 2010 stieg die Summe asiatischer Direktinvestitionen in der Türkei von einer auf achtzehn Milliarden US-Dollar.

„Der Schwerpunkt der Weltwirtschaft verschiebt sich Richtung Osten“, sagte Stephan Walt, Harvard-Professor für internationale Politik, kürzlich am Rande einer Konferenz im Herzen der Stadt. „Und wenn ein Land wie die Türkei eine Menge Sachen produziert, die andere Leute kaufen wollen, im Gegenzug Geld hat um anderswo zu investieren und dazu große militärische Kapazitäten vorweisen kann, dann hören andere Länder zu und dein Einfluss wächst.“ Schon ein Blick in das Programm der Konferenz gab eine Vorstellung dieses neuen Selbstverständnisses. Mehr als zwei Drittel der Podiumsteilnehmer kam aus der Türkei, der arabischen Welt und Asien.

Ursprünglich hatte Türkeis Gründungsvater Kemal Mustafa Atatürk dem Land eine strikte Westausrichtung verordnet. Eine strikt säkulare Türkei sollte am Beispiel Europas lernen und seine politische, wirtschaftliche und militärische Rückständigkeit abschütteln. Dabei ging Atatürk soweit, das arabische durch das lateinische Alphabet zu ersetzen. NATO-Mitgliedschaft und EU-Beitrittsverhandlungen schienen die Verbindung zu zementieren. Doch der amtierende Premierminister Reccep Tayyip Erdogan und sein Außenminister Ahmet Davutoglu haben diese Strategie erweitert, viele sagen: umgekehrt.

Gespräche mit früheren Erzfeinden wie Iran und den Kurden des Nordiraks wurden aufgenommen, Grenzen geöffnet und Freihandelszonen ausgehandelt. Die Geschäfte der Region sind voll mit Waschmaschinen, Süßigkeiten und Dreifachsteckern „Made in Turkey“. Im vergangenen Jahrzehnt haben sich türkische Exporte in den Nahen und Mittleren Osten fast verzehnfacht. „Die Türkei hat das Glück einen ziemlich dynamischen Premier und einen ziemlich dynamischen Außenminister zu haben“, sagt Walt. „Ich glaube nicht, dass die beiden viel Schlaf bekommen.“

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Neben der Regierung gibt es eine weitere treibende Kraft hinter der Expansion: die „anatolischen Tiger“, eine Klasse aufsteigender Industrieller und Investoren im Osten der Türkei. Niedrige Lohnkosten und ein Arbeitsethos, der von Beobachtern „calvinistisch-islamisch“ getauft wurde, haben Städte wie Gaziantep zu Wachstumszentren gemacht. Der Großteil dieser Klasse bekennt sich ganz offen zu ihren muslimischen Wurzeln.

„Die anatolischen Businessleute blicken in den Nahen Osten und nach Afrika, um neue Märkte zu finden“, sagt Walt. Unterstützt werden sie dabei von der islamischen Ausrichtung ihres Premierministers. „Erdogan hat weniger Berührungsängste mit den muslimischen Nachbarn, als die früheren, strikt säkularen Militärherrscher des Landes“, so Walt.

Das sieht auch Robin Niblett, Direktor des einflussreichen, britischen Thinktanks Chatham House, so: „Die Menschen in der Türkei fühlen sich nicht so sehr dem Westen verbunden. Viele sehen ihre muslimischen Nachbarstaaten als nächste Verbündete, nicht den Westen.“

Die Revolutionen und Aufstände in der arabischen Welt haben die neue Außenpolitik jedoch durcheinander gebracht. Außenminister Davotglus Strategie „Keine Probleme mit den Nachbarn“ wird spätestens seit dem Bürgerkrieg in Syrien auf eine harte Probe gestellt. Nachdem es in den Neunzigern fast zu einem Krieg zwischen den Ländern gekommen war, wurden in den letzten Jahren Freihandelsabkommen ausgehandelt, Visabeschränkungen fielen weg. Die Beziehungen verbesserten sich stetig.

Diese Ostausrichtung, sagt Universitätsrektor Üctug, entspricht dem Gefühl vieler Türken. „Die Menschen in der Türkei sehen ihr Land als selbstverständliche Regionalmacht. Was wir jetzt sehen, ist eine Rückbesinnung in der türkischen Außenpolitik. Die Türkei erinnert sich, dass sie für 600 Jahre ein Imperium war.“

Doch seit Syriens Präsident Bashar al-Assad die Demonstrationen im eigenen Land gewaltsam unterdrückt herrscht wieder Eiszeit. Erdogan unterstützt offen die Aufständischen, hat die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet und Oppositionsgruppen Schutz versprochen. Das belastet auch die Beziehungen zum Iran, Syriens Hauptverbündetem.

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In anderen Ländern hingegen wurden die Umbrüche als Chance genutzt. Von Beginn an unterstützte Erdogan die Revolutionen in Tunesien und Ägypten und nach kurzem Zögern schlug er sich auch auf die Seite der libyschen Aufständischen. Im Oktober 2011 bereiste Erdogan die drei Länder dann mit einer Entourage von 200 türkischen Geschäftsleuten. Vielen Revolutionären gilt Erdogans Modell der „islamischen Demokratie“ darüber hinaus auch politisch als Vorbild.

„Die Stimmung der Menschen in der Türkei bezüglich Europa hat sich geändert“, sagt Üctug. „Wenn du jeden Tag in der Zeitung liest, dass Länder wie Deutschland und Frankreich dich nicht wollen, dann beginnst du woanders zu schauen.“

Trotz allem sehen Beobachter darin kein Ende der Beziehungen mit dem Westen, eher eine Ergänzung. „Die Türkei wird weiterhin versuchen, EU-Mitglied zu werden, auch wenn die Chancen gering sind. Es hat ein Jahrzehnt gedauert, bis Spanien vollwertiges Mitglied wurde“, sagt Niblett. Auch wirtschaftlich werden die Beziehungen von großer Bedeutung bleiben. Über fünfzig Prozent des Außenhandels findet mit Europa statt.

„Ein etabliertes Land wie die Türkei macht keine so extremen außenpolitischen Korrekturen“, sagt auch Üctug. „Die Türkei wird sich einfach nicht zwischen Ost und West entscheiden. Sie wird eine selbstständige Weltmacht.“

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