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Türkei-Demos - „Ein guter Schriftsteller arbeitet im Gefängnis“

Schriftsteller Moritz Rinke, derzeit Stipendiat an der deutschen Kunstakademie in Istanbul, ist mittendrin im „türkischen Frühling“. Mit Cicero Online spricht er über die Proteste auf dem Taksim-Platz, Gaseinsätze der türkischen Regierung und die Stimmung im Land

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Herr Rinke, alles begann mit einem Baum. Die Revolte startete mit Protesten gegen Abholzungen im Gezi Park und weitete sich schließlich auf Städte in der ganzen Türkei aus. Wie ist die Stimmung im Moment in Istanbul?
Die Polizei ist am Dienstagmorgen wieder gewaltsam auf den Taksim- Platz vorgedrungen, mit massivem Tränengas-Einsatz, gepanzerten Fahrzeugen und Wasserwerfen. Aus Ankara hört man ähnliches. Die Polizei hat in Istanbul die Barrikaden gestürmt, die sich die Demonstranten zum Schutz errichtet hatten, denn Tausende schlafen ja nachts in dem unmittelbar angrenzenden Gezi-Park. Außerdem haben sich Zivilpolizisten  bzw. Beauftragte des Geheimdiensts unter die Demonstranten gemischt und Molotow-Cocktails geworfen, einerseits um zu provozieren, andererseits um der Regierung die passenden Bilder zu schaffen. Die Nachrichtenagentur Reuters ist schon darauf reingefallen, wie ich gerade sehe, sie berichtet von gewalttätigen Demonstranten.

[[{"fid":"54271","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":1048,"width":750,"style":"width: 110px; height: 154px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Sie fanden sich in den ersten Tagen urplötzlich inmitten der Proteste wieder und mussten sich auch vor Wasserwerfern in Schutz nehmen. Welche Rolle spielt das von der türkischen Regierung eingesetzte Gas?
In den ersten zwei Tagen der Demonstrationen setzte die Polizei 670 Tonnen Tränengas ein und mischte es teilweise mit Wasser, was wohl zu schlimmeren Verbrennungen der Haut führt. In Besiktas, einem Stadtteil Istanbuls, tauchten bei Polizei-Einsätzen angeblich auch Orange-Gas-Granaten auf, die von den Amerikanern im Vietnam-Krieg eingesetzt wurden. Auf jeden Fall kenne ich keinen Aktivisten hier, der nicht seit zwölf Tagen mit einer Gasmaske lebt.  

Der türkische Ministerpräsident Erdogan sagt, die Demonstrationen hätten ihre demokratische Glaubwürdigkeit verloren und sich zum Vandalismus gewandelt. Haben wir es tatsächlich mit einer Minderheit zu tun, die dort protestiert?
Das kann ich nicht beurteilen. Die Türkei ist riesig und ich beobachte nur den Taksim-Platz bzw. den Gezi-Park in Istanbul, allerdings sind da jeden Abend so viele Menschen, dass man sich kaum vorstellen kann, wie es sich dabei um eine Minderheit handeln soll. Ich bin seit dem Beginn der Proteste hier und ich habe noch nie zuvor so viele Menschen gesehen. Und so unterschiedliche Gruppierungen: Umweltschützer, Nationalisten, Linke, Kurden, Akademiker, Arbeiter, Aleviten, Kommunisten, Kemalisten mit ihren Atatürk-Fahnen, Juristen, Anarchisten, Feministinnen, Geschäftsleute, Schwule und Lesben, Rentner, Kinder, sogar Frauen mit Kopftuch. Und all diese Menschen hat Erdogan als Capulcus bezeichnet, also „Plünderer“. Der Begriff ist nun zu einem geflügelten Wort der Protestbewegung geworden, alle „tschapulieren" wie man es mittlerweile sogar schon in Berlin oder Köln aus Solidarität tut. Überhaupt drücken sich die Proteste in wunderbaren, spielerischen Formen aus und damit kann Erdogan überhaupt nicht umgehen. Es stehen sich hier der Starrsinn der Regierung und eine völlig neue soziale Fantasie gegenüber.

Man hört auch von großer Rücksichtnahme unter den Protestlern. Anhänger von Vereinen kämpfen plötzlich Seite an Seite: In Istanbul liefen die Fans der drei tief verfeindeten Clubs Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray gemeinsam zum Taksim-Platz. Das klingt geradezu revolutionär.
Ja, normalerweise fließt Blut, wenn die aufeinandertreffen. „Carsi“, die berühmte Fangruppe von Besiktas Istanbul, spielt hier wieder eine große Rolle, die haben die größten Erfahrungen im Straßenkampf, helfen überall, wo Demonstranten eingekesselt werden, das sind die Robin Hoods der Türkei. „Carsi“ fährt sogar nach Ankara, um den Demonstranten dort zu helfen.

Weitet sich der Protest zu einer handfesten Revolution aus?
Das kommt darauf an, wie wir „Revolutionen“ definieren. Lenin spricht ja im Zusammenhang mit der Revolution  von „Elektrifizierung“ und das vermögen diese Menschen hier gerade, sie elektrifizieren: Hunderttausende, die gleichzeitig rhythmisch in die Hände klatschen, nachts über Brücken ziehen oder den Gezi-Park in ein urbanes, wunderbares Dorf verwandeln. Wenn wir aber sagen, eine Revolution, das ist die Umwälzung der politischen Staatsform, dann ist das hier keine Revolution, weil es die Demokratie ja rein äußerlich schon gibt. Aber Erdogans AKP-Regierung hat das Wort Demokratie nur benutzt, um auf einen Zug aufzuspringen, der ganz woanders hingefahren ist.

Inwiefern richtet sich der Protest auch gegen die voranschreitende Politisierung des Islams? Die Regierung Erdogan hat sich ja immer weiter von der Idee einer laizistischen Türkei im Sinne Atatürks verabschiedet.
Die Islamisierung oder Erdoganisierung nimmt immer schlimmere Züge an: Inhaftierungen von kritischen Journalisten und Schriftstellern wie in China oder Russland. Ein guter Schriftsteller, sagen hier türkische Autorenkollegen, arbeitet im Gefängnis. Dann die Gleichschaltung der Presse durch extreme Steuerauflagen für regierungskritische Medien. Zum Beispiel hat CNN Türk in den ersten Tagen der Ausschreitungen über Pinguine und die Strahlung auf dem Mars berichtet. Ferner werden auch Theater und Kinos geschlossen und wenn dagegen protestiert wird, rücken die Polizisten sogar mit Schutzschilden gegen 2000 Schauspieler an. Gestern hat der Präsident ein Gesetz zum verschärften Alkoholbann unterschrieben. Auch werden die Frauenrechte missachtet, das Küssen in der Metro in Ankara verboten und gleichzeitig verlangt Erdogan von jeder türkischen Frau drei Kinder.

Ähnliches hat man vor langer Zeit in Deutschland auch schon einmal gehört.
Ja, man kann schon historische Vergleiche bemühen, das soll hier wohl so eine Art Iran werden im Dubai-Style, denn die ganze Stadt wird in Shopping und Business-Parks verwandelt, Bewohner enteignet und im architektonischen Blindflug das historische Istanbul verschandelt. Mein Gott, so eine schöne Stadt, so ein schönes Land – und so eine Regierung. Eine Investmentdiktatur, die aber das vitale Leben zwischen den Businessblocks austrocknen will. Und gegen diese neoliberale, technokratische Islamisierung richten sich die Proteste im Gezi-Park, die bevorstehende Abholzung des letzten Parks war nur die letzte Zumutung, die diese soziale Freiheitsrevolte so groß hat anwachsen lassen.
Und jetzt sieht das Ganze hier aus wie 1968. Ich war damals nicht dabei, aber so stelle ich mir das vor, so muss es gewesen sein. In Deutschland war es die Nazizeit, die noch in der neuen Republik fortlebte, über der Türkei liegt immer noch der September 1980: Da begann die schlimme Militärdiktatur und seitdem hat es keine demokratische Entwicklung mehr gegeben, nur eine formale. Und 68 hat bei uns die Gesellschaft dann auch erst nach und nach verändert. Ich hoffe, dass es hier auch so sein wird.  

Man hört, ein Gefühl von Woodstock liege über dem Gezi-Park?
Noch. Während wir sprechen, laufen die gewaltsamen Räumungen am Taksim wieder, ich sehe es gerade im „Halk-TV“, das ist der einzige Sender, der wirklich dokumentiert, was passiert. Die Übergriffe auf den Park können also nun auch jederzeit stattfinden und gerade bildet sich eine Menschenkette um den Park. Dieser Park ist ja mittlerweile ein richtiges Dorf geworden. Es gibt einfach alles. Theater und Buchläden, Schlafstätten und Kochgelegenheiten, Unterkünfte, aber auch einen Tangosalon auf der Straße vor dem Gezi-Hotel, auch einen Friseur habe ich gesehen und ein eigenes Fernsehstudio mitten im Park, das sich „Capulcu-TV“ nennt.

Was bekommen Sie von den Protesten außerhalb Istanbuls mit?
Evren, die Schwester meiner Freundin, lebt in Ankara und berichtet fast jeden Abend von schlimmen Polizeieinsätzen. Ihre Schwägerin ist verletzt worden. In Izmir wurden Demonstranten in ein Parkhaus getrieben und misshandelt. Ich könnte jetzt viele Beispiele aus über 60 Städten aufzählen. Am bedenklichsten fand ich aber, wie Polizisten in Istanbul mit Gas in eine Moschee eingedrungen sind und auf Ärzte, Medizinstudenten und die Verletzten einprügelten, die dort versorgt wurden. Und nun stellt sich Erdogan hin und behauptet, die Menschen hätten in der Moschee Bier getrunken.

Wieder einmal spielen, ähnlich wie während der Arabellion, soziale Netzwerke eine gewichtige Rolle. Wie ist Ihre Einschätzung und was unternimmt die Regierung über ihr Kommunikationsministerium, um diese Kanäle zu beeinflussen?
Sie versuchen teilweise die Websites zu blockieren, Störsender am Taksim-Platz zu installieren oder eine Gegenöffentlichkeit zu mobilisieren. Zum Beispiel hat Erdogan am Wochenende nach seiner Rückkehr aus Marokko mitten in der Nacht Tausende AKP-Anhänger per Twitter an den Flughafen bestellt. Dafür fuhr plötzlich sogar die Metro in der Nacht. Und manche der Anhänger wurden auch wieder persönlich nach Hause gebracht. Zu den sozialen Netzwerken: Ohne sie würde es hier gar nicht gehen. In Deutschland nervt mich Facebook, jeder Mist wird gepostet und ge-likt usw., aber hier macht es wirklich Sinn.

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Ich kann das nicht beantworten. Aus Ägypten und wahrscheinlich ebenso aus Syrien wissen wir, dass die Revolution ihre eigenen Kinder frisst. So heißt es zumindest in Büchners Revolutionsdrama. Hier in der Türkei ringen natürlich auch schon jetzt die Kräfte und fragen: Wem gehört die Revolution? Die Kemalisten wollen etwas, die Linke will etwas anderes, und oberdrein rufen ausgerechnet die Kurden zu einer Versöhnung mit Erdogan auf. Sie fürchten um den begonnenen Friedensprozess, den Erdogan braucht, um sich weitere Stimmen zu sichern. Denn bald sind ja Wahlen und er sieht sich schon jetzt als Großführer eines wiedererwachten osmanischen Reiches. 

In Ihrem Istanbuler Tagebuch notieren Sie den wunderbaren  Satz Ihrer Freundin: „Wenn du mich heiraten willst, musst du die Revolution mitmachen!“ Ihnen bleibt also keine Wahl.
Es scheint so. Sie heißt Eylem, das bedeutet im Türkischen „Aktion, Handlung, Tat.“ Ich kam nach Istanbul, um in Ruhe zu schreiben, aber jetzt ist das gerade ein völlig anderes Konzept.

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