- Merkel torpediert die Europawahl
Jean-Claude Juncker und Martin Schulz kämpfen um den EU-Spitzenplatz, sogar im TV-Duell. Doch nach der Europawahl könnten beide auf der Strecke bleiben – und die Staats- und Regierungschefs wieder das Ruder übernehmen. Viele Indizien sprechen für ein abgekartetes Spiel, das Angela Merkel treibt
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Sigmar Gabriel poltert gern. Das ist bekannt, man muss es nicht so ernst nehmen. Doch was der SPD-Chef jetzt zur Europawahl von sich gab, klingt selbst aus seinem Mund radikal. Nach dem Wahlgang Ende Mai drohe eine massive „Volksverdummung“ und eine „Zerstörung der europäischen Demokratie“, wetterte Gabriel bei einer Veranstaltung mit dem SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz in Berlin. Was war passiert? Ist Sigmar Gabriel unter die EU-Skeptiker gegangen? Fürchtet er einen Wahlsieg der AfD?
Aber nicht doch, die Erklärung ist viel simpler. Gabriel ist stinksauer auf Kanzlerin Angela Merkel (CDU) - weil die sich einfach nicht festlegen will, wer der nächste EU-Kommissionspräsident wird. Dabei ist die Sache auf den ersten Blick ganz einfach: Der Gewinner der Europawahl soll – so will es jedenfalls das Europaparlament – die Brüsseler Behörde führen. Nach Stand der Dinge wäre dies also Martin Schulz oder sein konservativer Rivale Jean-Claude Juncker, der vom Merkel-Lager unterstützt wird.
Doch Merkel legt sich nicht fest. Sie verweist auf den EU-Vertrag, der den 28 Staats- und Regierungschefs der EU das Vorschlagsrecht einräumt. Die Chefs müssen, so ihre Interpretation, das Wahlergebnis nur „berücksichtigen“. Und dabei gelte es viele Fragen zu prüfen: Verfügt der Wahlsieger auch über eine Mehrheit im Europaparlament? Passt er ins Brüsseler Personalpaket, zu dem neben dem Kommissionschef auch ein neuer Ratspräsident und ein neuer Außenvertreter (oder eine Vertreterin) gehören?
Kann Cameron den Wahlsieg von Schulz oder Junker aufheben?
Vor allem aber – und hier wird es heikel – ist der Wahlsieger auch für alle 28 EU-Chefs akzeptabel? Zum Beispiel für den Briten David Cameron, der aus seiner Abneigung für Schulz und Juncker keinen Hehl macht. Merkel sagt es zwar nicht laut, doch hier deutet sich ein massiver Konflikt an. Ratspräsident Herman Van Rompuy, der Zeremonienmeister der EU-Gipfel, hat schon durchblicken lassen, dass die Chefs Bedenken gegen das Primat des Europaparlaments – und der Wähler – haben.
Und genau das ist der Grund für den Furor Gabriels. Der SPD-Boss fürchtet einen Hinterzimmer-Deal der EU-Chefs, bei dem sein Kandidat Schulz durchs Rost fallen könnte. „Ich kann nur jeden davor warnen, das überhaupt zu probieren. Dann können wir die nächste Europawahl absagen“, wetterte Gabriel. Denn die Bürger, die im guten Glauben zur Wahl gingen, endlich einmal den nächsten Kommissionschef wählen zu können, würden so getäuscht.
Leider spricht manches dafür, dass dieser Wahlbetrug längst beschlossene Sache ist. Jedenfalls häufen sich die Indizien dafür in Brüssel. Erst beraumte Van Rompuy einen EU-Sondergipfel ein – nur zwei Tage nach der Europawahl sollen die Chefs hinter verschlossenen Türen über die Ergebnisse und mögliche Konsequenzen diskutieren. Dann gab er der „Süddeutschen Zeitung“ ein verräterisches Interview, in dem er vom Konzept der Spitzenkandidaten abrückte.
„Ich bin kein begeisterter Anhänger dieser Idee mit den Spitzenkandidaten“, so Van Rompuy. Denn die Wähler würden sich doch weiter vor allem von nationalen Interessen leiten lassen. Mit dieser Bemerkung löste Van Rompuy einen Aufschrei der beiden Frontrunner Schulz und Juncker aus. Doch völlig unrecht hat er nicht: In Deutschland plakatiert die CDU nicht etwa ihren europäischen Spitzenmann, sondern Frau Merkel. Ein Trick, um Juncker nach der Wahl leichter entsorgen zu können?
Es gibt sogar schon ein Szenario, wie sich die Chefs über den Wählerwillen hinwegsetzen könnten. Erster Akt: Am Wahlabend stellt sich heraus, dass der Wahlsieger keine Mehrheit im Europaparlament hat (nach den Umfragen ist dies sehr wahrscheinlich). Zweiter Akt: Juncker zieht seine Kandidatur für die Kommission zurück, Schulz steht nun allein im Regen, ohne Mehrheit. Dritter Akt: Bei ihrem Sondergipfel nach der Wahl nominieren die Chefs Juncker zum neuen Ratspräsidenten. Das liege dem ehemaligen Eurogruppenchef ohnehin mehr, heißt es.
Schulz ginge in diesem Szenario leer aus. Wenn es dumm läuft, würde der SPD-Spitzenkandidat nicht einmal einfacher EU-Kommissar werden (angeblich möchte Merkel erneut ihren Parteifreund Günther Oettinger für Brüssel nominieren). Kein Wunder also, dass Gabriel ausrastet. Er fürchtet nicht nur einen Betrug am Wähler, sondern auch an der SPD. Die Genossen haben es nämlich versäumt, ihren Kandidaten im Koalitionsvertrag abzusichern. Erst am Wahlabend, in einem Sonder-Koalitionsausschuss, wollen CDU/CSU und SPD die heikle Personalie regeln.
Es gibt allerdings auch noch ein anderes Szenario, das auf den ersten Blick viel netter aussieht. Es geht so: Die EU-Chefs nominieren einen Verhandlungsführer, der mit dem neu gewählten Parlament reden soll. Nach zähen Verhandlungen einigt man sich auf eine Art Regierungsprogramm. Der Wahlsieger, also Schulz oder Juncker, müsste sich dann verpflichten, dieses Programm in den nächsten fünf Jahren umzusetzen. Erst danach würde er von den EU-Chefs für das Amt des Kommissionspräsidenten vorgeschlagen und vom Parlament bestätigt.
Brüsseler Kopie der Großen Koalition in Berlin
Vor allem in deutschen Ohren klingt dies wie ein ganz normales demokratisches Verfahren. Das ist nicht erstaunlich, es ist ja auch dem deutschen Modell nachempfunden. Letztlich liefe es auf eine Brüsseler Kopie der Großen Koalition in Berlin hinaus, mit dem Unterschied, dass vermutlich auch die Liberalen mitmachen dürften. Grüne und Linke hingegen haben in diesem Modell keine Chance. Von den Rechtsradikalen, die in vielen EU-Ländern triumphieren könnten, ganz zu schweigen.
Doch auch dieses Szenario hat einen Schönheitsfehler. Niemand hat den Wählern gesagt, dass am Ende eine Große Koalition herauskommen könnte. Im Gegenteil: Die Spitzenkandidaten Schulz und Juncker, aber auch ihre Konkurrenten bei Liberalen, Grünen und Linken tun so, als gehe es diesmal endlich um eine Richtungsentscheidung. Schulz predigt sogar einen „Politikwechsel“ – weg von Merkels strenger Austeritätspolitik, hin zu „grünem Wachstum“ und einer digitalen Zukunftsökonomie.
In einer europäischen Koalitionsvereinbarung dürfte von diesem schönen Programm nicht viel übrig bleiben. Schließlich steht die Mehrheit der Chefs im Europäischen Rat hinter Merkel. Selbst wenn Schulz gewählt würde – er hätte noch weniger Spielraum als Noch-Amtsinhaber José Manuel Barroso. Er wäre doppelt gebunden – an die Große Koalition in Berlin und an die noch Größere Koalition in Brüssel. Vielleicht war Gabriel auch deshalb so wütend.
Dass er in der GroKo unter Merkel nicht viel durchsetzen kann, hat er ja schon lernen müssen. Doch eine doppelte GroKo in Berlin und Brüssel? Nicht auszudenken.
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