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Arabische Welt - Die Revolution beginnt im Bett

Um ein Volk zu verstehen, muss man einen Blick in seine Schlafzimmer werfen, meint Shereen El Feki. So erklärt sie auch die Entwicklungen in ihrer arabischen Heimat

Autoreninfo

Sarah Maria Deckert ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Sie schreibt u.a. für Cicero, Tagesspiegel und Emma.

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Sex ist eine Sünde. Eine süße, würde der Westen sagen, während sich die arabische Welt vor ihm fürchtet wie vor dem Teufel. Aber wovor genau ist die Frage: Seiner Macht? Dem drohenden moralischen Verfall? Völliger Anarchie? Aus heutiger Sicht erscheint das Liebesleben im fernen Orient wie ein Mythos, wie ein fremdes Märchen aus Tausendundeinernacht. Dabei fungiert Sexualität seit jeher wie eine Linse, durch die sich die Geschichte der Welt, auch die der arabischen Welt, nur allzu gut betrachten und analysieren lässt.

Sexuelle Verhaltensweisen sind eng mit Religion, Tradition, Kultur, Politik und Ökonomie verknüpft. Sexualität, der Akt an sich, die damit verbundenen Geschlechterrollen und Geschlechtsidentitäten, aber auch das Bewusstsein für den eigenen Körper und die Kontrolle darüber sind integrale Bestandteile einer jeden Gesellschaft und der Menschen in ihrem Verhältnis zueinander. In ihr spiegelt sich die Lebenswirklichkeit einer Gemeinschaft. An ihr lässt sich ablesen, wie sie sich entwickelt. Im Positiven wie im Negativen.

Der französische Philosoph Michel Foucault bezeichnete die Sexualität als einen „besonders dichten Durchgangspunkt von Machtbeziehungen: zwischen Männern und Frauen, Jungen und Alten, Eltern und Nachkommenschaft, Erziehern und Zöglingen, Priestern und Laien, Verwaltung und Bevölkerung.“ Die Journalistin Shereen El Feki hat nun ein Buch geschrieben, in welchem sie eben Foucaults Ansatz auf die arabische Welt überträgt, mit dem Schluss: „Wenn Sie ein Volk wirklich verstehen wollen, beginnen Sie damit, dass Sie einen Blick in ihre Schlafzimmer werfen.“

Der Blick in die Schlafzimmer der arabischen Welt ist nun wiederum etwas, wovor sich der Westen fürchtet. Denn eine liberale Sexualmoral ist nicht unbedingt das, was man dort erwartet. Dabei feierte noch das 19. Jahrhundert die sexuelle Ungezwungenheit des Orients. Die arabische Welt war berühmt für ihre Freizügigkeit, was nicht nur landsmännische Chronisten und Gelehrte in unzähligen Schriften belegen, sondern auch Reisende wie Gustave Flaubert, der sich quasi nilaufwärts durch sämtliche Bordelle schlief. Freie Liebe, schwule und lesbische Abenteuer, Pornographie, Prostitution: Der arabische Alltag war ein sexualisierter, offen gegenüber der facettenreichen Kunst des Liebens.

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Heute herrscht, so stellt es auch El Feki in ihrem Buch „Sex und die Zitadelle“ heraus (dessen deutscher Titel nicht dieselbe augenzwinkernde Wirkung entfaltet wie sein englischer: „Sex and the Citadel“), eine arabische Kultur der (Selbst)Zensur und des Schweigens, die von der Religion gepredigt und durch soziale Konventionen verstärkt wird. Das Bild der Zitadelle steht dabei symbolisch für das Dogma, das Sexualität nur in der staatlich registrierten, religiös sanktionierten Ehe gestattet.

Der Prophet Mohammed empfahl die Enthaltsamkeit bis zur Heirat, doch ob er dabei die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts im Blick hatte und die Entwicklung alternativer Lebensmodelle, bei denen man gerne auch erst mit 30 Jahren an Ehe und Familie denkt, ist fraglich. Erst durch die radikale Fundamentalisierung des Islam, so El Feki, hätten viele Muslime sich selbst und ihrer Religion – und damit auch ihrem Verhältnis zur eigenen Sexualität – Fesseln angelegt. Das Problem liege also weniger im Islam, als bei der muslimischen Gesellschaft selbst.

Diskriminierung, das Überprüfen der Unversehrtheit der Jungfräulichkeit, Vergewaltigungen innerhalb und außerhalb der Ehe, Gewalt gegen Homosexuelle, die offiziell jeder rechtlichen Grundlagen entbehren mögen, all das gehört in der arabischen Welt dennoch zur Tagesordnung. Bevölkerungsexperten der Vereinten Nationen schätzen, dass gut über 5000 Mädchen und Frauen jedes Jahr aufgrund ihrer Lebensführung von Mitgliedern der eigenen Familie verfolgt und bei Ehrenmorden umgebracht werden. Über 8000 sollen tagtäglich genital verstümmelt werden. Die Dunkelziffer ist vermutlich weitaus höher.

Im Dezember 2011, am Rande der Arabellion, geschah es, dass ein Liebespaar fast unbemerkt Hand in Hand über den Tahrir-Platz in Kairo spazierte. Eine kleine Geste der Hoffnung. Denn die Stürmer und Dränger des Arabischen Frühlings hofften durch die Revolte gegen das Regime nicht nur politische Freiheiten zu erringen, sondern auch oder vor allem persönliche: Der politischen Revolution sollte eine gesellschaftliche folgen. Und schon vor dem Sturz Hosni Mubaraks schien das Aufbrechen dieser alten verkrusteten Strukturen möglich.

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Doch heute, drei Jahre später, scheint vor allem die Lockerung der strengen Sexualmoral erheblich schwerer durchsetzbar zu sein als eine sukzessive Demokratisierung der arabischen Welt. Glühende Demokratieaktivisten prallen nach wie vor auf militante Muslimbrüder und Salafisten. Sie fühlen sich immer mehr um ihre Hoffnung auf Veränderung betrogen. Ethnische und religiöse Minderheiten, säkulare Organisationen, vor allem aber Frauen haben immer noch keine Stimme, die gehört wird. Unter den 500 Abgeordneten im ägyptischen Parlament finden sich gerade einmal zwölf weibliche. Und wie schon Mubarak, so nutzt heute Mursi den Unterdrückungsapparat, um Regimegegner mundtot zu machen.

Es stellt sich die Frage, inwiefern die Revolution tatsächlich von Frauen angeführt wird. An ihnen sollte sich der soziale Wandel immerhin zu einem Bruchteil vollziehen. Man sieht sie aber immer seltener auf dem Tahrir-Platz für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen demonstrieren. Schon gar nicht Hand in Hand mit ihrem Partner.

Für Shereen El Feki ist die Lage offensichtlich: Sie fordert die Ausübung des „sexuellen Bürgerrechts“. Denn für sie ist gerade das sexuelle Recht nicht nachrangig, sondern ein unveräußerliches Menschenrecht und einer, wenn nicht der wesentliche Schlüssel zur Demokratie.

Die Revolution beginnt also im Bett. Zwischen den Laken mit einem oder zwei oder gerne auch mehreren Körpern, die sich im sexuellen Akt gleichberechtigt und kontrolliert begegnen. Dieses Moment ist für El Feki ganz wesentlich mit allem anderen verbunden, was außerhalb der Schlafzimmerwände geschieht, im politischen und ökonomischen Leben. Auch hier geht es letztendlich um die kontrollierte Gleichberechtigung einzelner Parteien. Konservative Moralisten werden weiterhin versuchen, ihr rigides Weltbild in Zement zu gießen, obwohl die arabische Bevölkerung mehr und mehr nach Aufklärung giert.

Heba Kotb ist Ägyptens prominenteste Sexualberaterin. In einer eignen Fernsehsendung spricht sie Themen wie die zunehmende sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen an. Die Journalistin Joumada Haddad schockiert derweil mit ihrem Erotikmagazin Jasdad, in dem sie als „Carrie Bradshaw von Beirut“ Sexualität, Körperkult, Voyeurismus und Masturbation behandelt. Der Weltaktionstag „One Billion Rising“ animierte Frauen auf der ganzen Welt, sich am vergangenen Valentinstag sprichwörtlich „zu erheben“, ihre kollektive Stärke zu demonstrieren und für ein Leben einzutreten, in dem sie ihre Sexualität, aber auch ihren Intellekt, ihre Gefühle und Spiritualität frei entfalten können, ohne bedroht und eingeschüchtert zu werden. Eine Milliarde als Schätzung dafür, dass wohl ein Drittel aller Frauen dieser Erde bereits einmal in ihrem Leben Opfer (sexueller) Gewalt wurden.

Gesellschaftliche Aufklärung durch sexuelle Aufklärung, das ist das Ziel. Noch viel zu verhalten, aber immerhin spürbar beginnen moderne arabische Frauen dynamisch nach Selbstverwirklichung und persönlicher Freiheit zu streben, nach ihrer Stellung in der Gesellschaft zu suchen und die patriarchale Dominanz der Männer ins Wanken zu bringen. Shereen El Feki beschreibt in ihrem Buch sehr klug, dass Freiheit, auch sexuelle Freiheit, nicht Anarchie bedeutet. Sondern Fortschritt.

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