- Selbstbewusster Aufstieg in Europas erste Liga
Der Einfluss Polens in Europa wächst, nicht nur aufgrund der Ukraine-Krise. Das wird auch beim Besuch von Polens Ministerpräsident Donald Tusk an diesem Freitag im Kanzleramt deutlich
Es war ein strategischer Coup. Ein paar Stunden, nachdem der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski im Februar seine Amtskollegen aus Deutschland und Frankreich, Frank-Walter Steinmeier und Laurent Fabius, angerufen hatte, saßen die drei zusammen im Flugzeug. Sie besuchten den damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch in Kiew. Das Treffen hatte weitreichende Folgen. Die an diesem Tag unterschriebenen Vereinbarungen führten zum Ende der Janukowitsch-Ära in der Ukraine. Der Präsident hatte vorgezogenen Neuwahlen zugestimmt, die Opposition auch.
Auf dem Maidan versuchte Sikorski anschließend, die Protestanführer vom Sinn der Vereinbarung zu überzeugen. „Wenn ihr nicht einverstanden seid, werdet ihr alle sterben”, rief er ihnen zu. Auf den Fernsehbildern ist zu sehen, wie emotional der Pole in solchen Situationen auftritt.
Das diplomatische und politische Talent Sikorskis wird seit jenen Tagen im Februar intensiv diskutiert. Auf keinem wichtigen europäischen oder internationalen Gipfel zum Thema Ukraine fehlt Polen seitdem. Kein Land in der EU beeinflusst derzeit stärker den Wandel in den europäisch-russischen Beziehungen. Kein Land ruft lauter nach Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Kein Wunder, dass derzeit die amerikanische Militärpräsenz in Polen ausgebaut wird. Polen sei ein Land „mit einer neu entdeckten Kraft“ in Europa, lässt sich sogar in neuseeländischen Tageszeitungen nachlesen.
Sikorski fotografierte in Afghanistan
Die Basis für seine diplomatischen Fähigkeiten hat Radoslaw Sikorski in den 1980er Jahren als Student der Politikwissenschaften in Oxford gelegt. Dort hat der 51-Jährige zugleich viele später einflussreiche Politiker getroffen und viele internationale Kontakte geknüpft. Einer seiner Freunde war David Cameron. In Oxford hat er auch seine Frau, die amerikanische Journalistin und Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum, kennengelernt.
Sikorski machte bereits in den 1980er Jahren aus einem anderen Grund Schlagzeilen. Als Journalist und führendes Mitglied der anti-komunistischen Bewegung Solidarnosc flog er nach Afghanistan, um über die Sowjetinvasion berichten. Von 1986 bis 1989 arbeitete er dort als Reporter und Fotograf. Mit einem Foto von einer verletzten afghanischen Familie gewann er 1987 den World-Press-Photo-Award. Doch Bilder aus dieser Zeit zeigen ihn auch mit Kalaschnikows auf seiner Schulter. „Meistens habe ich nur mit dem Bleistift gekämpft,” sagte er dazu später.
In Russland erinnert man gerne an Sikorskis persönliche Geschichte. „Wie viele Russen hat der polnische Außenminister umgebracht?“ fragte schon 2011 der heutige stellvertretende Premierminister Dmitrij Rogozin. Inoffiziell stellen russische Diplomaten den polnischen Außenminister gerne als einen USA-Agenten dar.
In den vergangenen Wochen sahen sich russische Verschwörungstheoriker mal wieder bestätigt. Denn Sikorski bat die USA eindringlich um militärische Unterstützung. „Wir glauben, nach 15 Jahren NATO-Mitgliedschaft und angesichts der Ereignisse in der Ukraine hat diese Region einen Schutzschirm verdient,” erklärte Sikorski in der Washington Post und bat die Amerikaner um den Einsatz von zehntausend Soldaten auf einer polnischen Militärbasis. So weit wird es wahrscheinlich nicht kommen. Die USA haben allerdings Pläne bestätigt, die Militärpräsenz in Polen zu erhöhen. Schon seit März sind in Polen zwölf amerikanische F-16-Jets auf Übungsflügen unterwegs.
Sikorski ist nicht der einzige polnische Politiker, der im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise in Europa gehört wird. Die Polen verstärken ihre Einfluss in Europa schon seit 2007, als die pro-europäische Donald-Tusk-Regierung Jaroslaw Kaczinski aus dem Präsidentenamt verdrängte. Kaczinski hatte noch versucht, seine Rolle als Puffer zwischen den beiden aus seiner Sicht bedrohlichen Ländern Deutschland und Russland zu definieren.
Tusk und Sikorski schauen ganz anders auf ihr westliches Nachbarland. „Ich fürchte die deutsche Macht nicht, aber ich beginne, die deutsche Inaktivität zu fürchten," sagte Sikorski im Jahr 2011. Schon zuvor hatte die polnische Regierung eine spezielle Abteilung für engere Beziehungen mit Deutschland eingerichtet. Zugleich hatte Polen damit begonnen, sich intensiver und konstruktiver in die EU-Strukturen zu integrieren. Doch der Pole Jerzy Buzek war bis 2013 drei Jahre lang Präsident des Europäischen Parlaments und damit Vorgänger des deutschen Sozialdemokraten Martin Schulz. Zudem hofft Polen auf eine baldige Einführung des Euro.
Das neu entdeckte Selbstbewusstsein Polens hat auch ökonomische Gründe. Seit Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 ist das Wachstum des polnischen Bruttoinlandsprodukts nur einmal leicht zurückgegangen, ansonsten gehört es seitdem zu den höchsten Europas. Der Verbrauch der privaten Haushalte hat nicht abgenommen, im Gegenteil, er steigt ständig. Meinungsumfragen zeigen, dass die Polen äußerst zuversichtlich in die Zukunft blicken. Während in der benachbarten Tschechischen Republik wegen der vielen Korruptionsskandale das Vertrauen in die Regierung drastisch sank, ist in Polen fast die Hälfte der Bevölkerung mit der Politik der Regierung zufrieden.
Polen hat seine osteuropäischen Nachbarländer wirtschaftlich längst überflügelt. Inzwischen planen polnische Industriekonzerne wie PKN Orlen riesige Investitionen. Gleichzeitig wird Polen für westliche Unternehmen immer attraktiver. Volkswagen zum Beispiel hat angekündigt, mehrere Milliarden Euro in eine neue Fabrik zu investieren.
Polen träumt von einer europäischen Energieunion
Die engere ökonomische und politische Zusammenarbeit laufen Hand in Hand. Und sie werden durch die Krim-Krise zusätzlich belebt. Dazu dient auch die umgebaute Gas-Pipeline Jamal, die seit 2001 sibirisches Gas über Polen nach Deutschland liefert. Mit Jamal könnten sich Deutschland und Polen seit ein paar Wochen gegenseitig mit Lieferungen aushelfen, falls die Russen ihre Gashähne zudrehen.
Der jüngste polnische Vorstoß, die gesamte europäische Politik zu verändern, steht damit im Zusammenhang. Mit dem Vorschlag einer europäischen Energieunion hat sich die Tusk-Regierung allerdings eine noch größere Aufgabe als die Bankenunion vorgenommen. Denn eine Energieunion soll nach den Vorstellungen Polens nicht nur zu einer engeren Kooperation beim Aufbau einer neuen europäischen Infrastruktur beitragen. Ein wichtiger Bestandteil soll darüber hinaus vor allem ein zentrales europäisches Amt für Energieimport werden. Doch aussichtslos ist der Vorstoß nicht angesichts der Ukraine-Krise und Putins Drohung, die Gaslieferungen zu drosseln. Polen findet für die Idee in der EU zunehmend Unterstützer.
Der Konflikt im östlichen Nachbarland spielt Polen in die Hände. „Die Ukrainer kämpfen für die gleichen Dinge, für die wir im Jahr 1989 gekämpft haben - für ein Land, das demokratischer, weniger korrupt und europäischer ist” erklärte Sikorski dem Spiegel.
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