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Ein Franzose erinnert sich - „Charlie Hebdo, das waren unsere Freunde“

Noch vor einem Monat aß er mit Charb, dem Chefredakteur von Charlie Hebdo, zu Abend. Dann geschah das Massaker. Der deutsch-französische Journalist Pierre-Olivier François erinnert sich an fünf erschütternde Tage, die sein Leben veränderten

Autoreninfo

Pierre-Olivier François ist ein deutsch-französischer Journalist und Dokumentarfilmemacher, unter anderem für den Sender Arte

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Die erste Januarwoche sollte eine ruhige sein. Und dann, am Mittwoch, rattern die Kalaschnikows. Ein Massaker bei Charlie Hebdo. Seitdem ist es das einzige, alles beherrschende Gesprächsthema – in der U-Bahn, im Café, auf dem Schulhof meiner Söhne. Überall. Ich bin sprachlos, wie vom Schlag getroffen. Charlie Hebdo, das war eine bestimmte französische Einstellung. Und das waren vor allem meine Freunde.

Anfang Dezember hatte ich Charb – Stéphane Charbonnier –, den Chefredakteur von Charlie Hebdo, zum letzten Mal getroffen. Er war ohne seine beiden polizeilichen Leibwächter gekommen. „Manchmal lassen sie mich alleine ausgehen“, erzählte er mir. „Anscheinend sind die Risiken zurzeit geringer geworden“.

Charb hatte das leicht zu erkennende Gesicht eines netten Studenten mit viereckiger Brille. Sein Foto zirkulierte seit Jahren im Internet – auf der Al-Qaida-Liste der zwölf „Most Wanted“, der meist gesuchten. Ein paar Monate zuvor hatte ihn ein islamistischer Taxifahrer mitten in einem Vorort von Paris aus dem Taxi geworfen und angefangen, wild herumzutelefonieren. Das war für Charb die größte Gefahr: mitten im Nirgendwo allein zu sein. Seitdem zog er es vor, mit dem Rad zu fahren: „Da bin ich autonom. Ich kann verschwinden, wo und wie ich will“.

Charb erzählte von Israel


Wir sprachen über seine letzte Reise nach Israel und Palästina. Charb war kein Freund der Hamas, aber auch nicht der Siedlungspolitik. Sein Herz schlug eher für die palästinensischen Underdogs als für die militärische Besatzungsmacht. Das habe zu spannenden Gesprächen mit seinen Leibwächtern geführt, erzählte er mit einem breiten Grinsen. „Eines Tages würde ich gerne ein Buch schreiben mit all den Anekdoten, die ich mit ihnen erlebt habe. Es sind meist echt nette Jungs, aber politisch sind wir selten auf der gleichen Wellenlänge. Eines Tages, später, wenn das Ganze hier lang vorbei ist.“

Das Abendessen hatte bei einem anderen Karikaturisten stattgefunden, der Charlie Hebdo nach dem Molotowcocktail-Angriff 2012 verlassen hatte. Damals hatte es nur Sachschaden gegeben. Aber mehrere Mitarbeiter fürchteten, es könnte beim nächsten Mal böse ausgehen, und waren auf Distanz gegangen. Sie galten als etwas paranoid. Charb hatte den ganzen Abend Witze gemacht. Er schien nie Angst zu haben. Was ihm aber Sorgen machte, war, dass es bei sinkender Auflagenzahl immer schwieriger war, Charlie Hebdo über Wasser zu halten.

Klar, viele von uns respektierten diese Einstellung und den Mut derer, die weitermachten – wenn uns das Satireblatt auch manchmal etwas zwanghaft anti-islamisch vorkam. Aber die Zeitschrift kauften nur noch Wenige. Und wenn man von Salman Rushdie absah, wer setzte sich noch für diese Form der Meinungsfreiheit ein?

Und plötzlich wachten wir mit zwölf Toten auf: Cabu, mit 76 Jahren ewiger Pazifist und Teenager, der netteste Mensch auf Erden, ein lebendes Denkmal an den Geist von 1968. Wolinski, Erotomane und Zigarrenraucher. Tignous, Honoré, Charb, die unverschämtesten aller Karikaturisten. Sie waren bewusst dumm, provokativ und gemein, linksradikal und anarchistisch, anti-rassistisch und manchmal neokonservativ, ungezogen und gebildet – und vor allem sehr, sehr lustig. Mit einem gallischen Humor, der Ausländern kaum zu vermitteln war, und gleichzeitig etwas, worauf wir als Franzosen stolz sind.

Ein Grafiker erfand den Slogan: „Je suis Charlie“


Charlie Hebdo war die perfekte Zielscheibe für Terroristen, die weh tun wollten. „Bitte, bitte, sagt mir, es war alles nur ein Albtraum“, so beschrieb treffend eine junge Zeichnerin die Stimmung kurz nach dem Massaker.

Am Abend ist die Place de la République in Paris voll mit Menschen, die sich spontan zum Gedenken versammelt hatten. Worte findet kaum jemand. Ein Grafiker hat einen Slogan erfunden, um seinen Schock auszudrücken: „Je suis Charlie.“ Er spielt damit an auf das Bilderbuch „Wo ist Charlie?“, das seine Kinder lesen.

Alle haben den Spruch irgendwie übernommen, sei es, weil sie gerührt waren, sei es, um sich vom schlechten Gewissen zu befreien. Als einige Stunden danach Obama, Putin, Merkel und eine ganze Schar von konservativen Politikern und Institutionen beginnen, den Slogan für sich zu beanspruchen, denke ich, die Lausebengel von Charlie Hebdo sind doch eigentlich keine schlechten Helden für 2015. Sicher lachen sie sich alle im Himmel tot über den ganzen Polit-Trubel (auch wenn sie alle Atheisten waren), denn ihr erstes Ziel war stets gewesen, die Mächtigen zu verspotten.

Am Abend suchen wir Trost zu Hause und trinken und lachen über deren schmutzige Witze. Morgen, Donnerstag, wird alles besser sein.

Donnerstagmorgen: ein Komplize der Terroristen ermordet eine Polizistin in Montrouge, südlich von Paris, und verletzt einen zweiten Beamten. Der Albtraum geht weiter. Im Taxiradio höre ich die Liste der ersten Kollateralschäden: Marine Le Pen verlangt die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Sicherheitsdienste fordern mehr Ressourcen, Aggressionen gegen Moscheen und Frauen mit Schleier nehmen seit gestern drastisch zu. Der Front National jubelt. Nach der menschlichen Katastrophe folgt nun das politische Desaster. Die unterschiedlichen Gemeinschaften werden aufgehetzt, es wird mit der Angst gespielt: Terroristen und Extremisten schaukeln sich gegenseitig hoch.

Die Schüler wollen nicht „Charlie“ sein


Wir überqueren eine Seine-Brücke. Die Radioredakteurin ist entrüstet, weil die letzte Charlie-Hebdo-Ausgabe zum Sammelobjekt geworden sei: Bei E-Bay ist sie schon mehrere Tausend Euro wert. „Ich bin reich“, lacht der Taxifahrer mit seinem algerischen Akzent: „Ich habe sie gekauft!“. Die Imame seien an allem schuld, erzählt er. „Sie erklären den Gläubigen nicht, wie es in Frankreich läuft. Bei mir in der Banlieue spreche ich mit den Leuten. Manche denken wirklich, die Juden und die Christen hätten nur halbwertige Religionen, und nur wir Muslime hätten die einzige hundertprozentige Religion. Und deshalb würden wir über den Gesetzen stehen.“ Die Imame müssten erklären, dass Frankreich ein laizistisches Land sei, dass es hier Gesetze gibt, erregt sich der Fahrer. „Ich sage dann immer: wenn ihr unbedingt als hundertprozentige Muslime leben wollt, dann geht doch nach Saudi-Arabien.“ Am Ende wolle das aber niemand, „weil es dort weder Sozial- noch Arbeitslosenversicherung gibt“.

Nicole ist eine Freundin meiner Frau. Sie leitet die Schulbibliothek in einem anderen Vorort von Paris. Am Donnerstagabend erzählt sie uns, dass sich bei ihr 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht als „Charlie“ bezeichnen. „Im Lehrerzimmer haben alle Kollegen geweint.“ In den Klassenräumen höre man dagegen: „Die Karikaturisten haben andere Menschen und Religionen beleidigt. Sie haben geerntet, was sie säten“.

Die Lehrer sind alle tief bestürzt, weil man gerade ihre Jugend ermordet hat. „Sie schaffen es nicht, kühl und analytisch zu reagieren, geschweige denn, den Schülern zu helfen, eine kritische Distanz zu finden“. Nicole hilft seit langem ausländischen Schülern, denen die Abschiebung droht. Einige leben sogar auf der Straße.

Charlie Hebdo, klar anti-rassistisch eingestellt, war eine der letzten Zeitungen, die regelmäßig über solche Vorfälle berichtete. Für diese Jugendlichen aber gehörte das Blatt zum „Frankreich von da oben“, zur Machtsphäre, in dem Redakteure Minister heiraten und umgekehrt. Sie trauten ihnen nicht.

Freitagmittag. Die Brüder Kaouchi haben sich in einer Druckerei verschanzt, nicht weit entfernt vom Flughafen. Alle warten darauf, dass die Polizei das Gebäude stürmt. Ich lese bei Twitter von einer Geiselnahme bei „Hyper Kacher“, einem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes. Der Krieg ist jetzt bei mir angekommen. Ich wohne nur wenige hundert Meter entfernt.

 

 

Am Vormittag war die Hauptstraße, der Cours de Vincennes, noch wie immer verstopft. Jetzt, um 15.30 Uhr stehen hier Krankenwagen und Einsatzfahrzeuge der Interventionstruppen. Das ganze Viertel ist abgeriegelt. Die Polizisten tragen Helme und Maschinengewehre, die TV-Kameras sind auf sie gerichtet. Al Jazeera, BBC, die Japaner, die Serben – die ganze Welt hat ihre Kriegsreporter in unser Arrondissement geschickt.

35 Sekunden, um das bunteste Stadtviertel von Paris zu erklären


Im Café an der Straßenecke stapeln sich kugelsichere Westen mit der Aufschrift „Presse“. Hier, 600 Meter entfernt vom Tatort, sind sie überflüssig. „Ich kann dir eine Live-Aufnahme mit ganz vielen Polizeiwagen im Hintergrund vorschlagen“, erklärt der Reporter von RTL News seiner Redaktion am Telefon. „Wie lange soll es werden? 35 Sekunden?“. 35 Sekunden, um das bevölkerungsreichste und bunteste Stadtviertel von Paris zu erklären? Diesen regelrechten Schmelztiegel? Den Ort der Pariser Kommune?

In der Schule meiner Kinder, gleich um die Ecke, zählt man 26 Nationalitäten. Hier gibt es weiße, schwarze, gelbe, christliche, jüdische, muslimische, arabische und atheistische Franzosen. Später heiraten sie auch noch untereinander. Nirgendwo in Paris schneidet der rechtsextreme Front National so schlecht ab.

Vor der Polizeisperre diskutiert ein jüdischer Nachbar heftig mit einem anderen, arabischer Herkunft. „Versteht ihr denn nicht? Wir haben Angst. Ihr, die Muslime, müsst hart verurteilen, was da passiert“, sagt der grauhaarige, aufgeregte Mann. „Warum sagen Sie ‚ihr‘?“ antwortet der andere. „Ich kann doch nichts dafür. Ich bin ein Einwohner wie Sie, kein Terrorist. Nennen Sie eine Katze eine Katze und einen Mörder einen Mörder“.

Plötzlich höre ich vier Explosionen. Die Polizei greift zu. Kolonnen an Rettungswagen fahren an uns vorbei. Vier Menschen sterben bei dem Schusswechsel. Es sind Juden aus dem Stadtviertel. Vier weitere Personen werden verletzt. Es ist tragisch.

„Man sollte sie kaltstellen“

Auf dem Heimweg gehe ich bei meinem Zeitungsverkäufer vorbei. „Ja, das alles ist traurig“, sagt er, selbst wenn seit drei Tagen seine Zeitungen wie warme Semmeln weggehen. „Man wird im Land fest durchgreifen müssen.“ Er schlägt vor, den „Verrückten, die nach Syrien oder in den Irak gehen“, die französische Staatsangehörigkeit abzuerkennen. „Man sollte ihnen verbieten, nach Frankreich zurück zu kehren, selbst wenn sie es wollen. Oder sie an abgelegenen Orten kaltstellen.“

Dieser Kommentar klingt nicht sehr „Charlie“, denke ich mir beim Rausgehen. Charlie Hebdo war seit dem ersten Golfkrieg antimilitaristisch. Das Prinzip: „Make love not war.“ Die Redaktion misstraute vor allem Waffenträgern und -verkäufern. So waren sie auch viel origineller als all die austauschbaren Dschihad- und Sicherheitsexperten, die jetzt wieder nach einer Verschärfung der Sicherheitsgesetze rufen.

Am Samstag besuche ich den zerschossenen Supermarkt „Hyper Cacher“. Jemand hat einen kleinen, handgeschriebenen Zettel an den Polizeizaun gehängt. „Die Trauer ist leichter, wenn man sie teilen kann“, steht da geschrieben. Hunderte Rosen liegen am Ort des Dramas. Jeder, der eine neue dazulegt, wird von den Dutzenden Kameras gefilmt. Die Stimmung ist schlecht.

„Trotz der antisemitischen Attentate der letzte Jahre bin ich immer hier geblieben“, sagt Stéphanie, eine kleine, ältere Dame mit Hut und Hund. „Aber jetzt reicht es. Jetzt müssen wir uns wirklich fragen, ob es nicht Zeit ist, nach Israel auszuwandern“. Um 19 Uhr kommt Premierminister Manuel Valls hier vorbei. Sein Besuch ändert nichts am Verdruss der jüdischen Gemeinde.

Die gemeinsame Katharsis wirkt


Doch am Sonntag scheint die Sonne. Einer meiner Söhne möchte ein „Je suis Charlie“-Schild, um wie alle anderen zu sein. Der jüngere trägt die Inschrift „Liebe“ auf Arabisch. Drei Stadtviertel sind komplett von der Gendarmerie abgeriegelt – bei dem Auflauf ist es sowieso unmöglich, bis zur Place de la République zu gelangen. Lust, hinter den 46 Staats- und Regierungschef zu laufen, die nicht alle lupenreine Demokraten sind, haben wir nicht. Doch in den Parallelstraßen schiebt sich die dichte Menschenmenge sanft und würdig von der République bis zur Nation.

Alle 200 Meter klatschen die Leute. Es ist eine Hommage. Ein Symbol. Die gemeinsame Katharsis wirkt. Ich fühle mich wohl. Eine Frau hält ein Schild hoch, darauf steht: „Ich war nicht Jude oder Moslem – jetzt bin ich es. Ich war nicht Charlie – jetzt bin ich es. Ich war nicht Polizist – jetzt bin ich es.“ Man sieht Sikhs, die Charlie sind, Kubaner, Kurden, und Jugendliche aller Couleur.

Der alte Historiker Ernest Renan definierte einst die französische Nation als „den Willen, zusammen zuleben“. Er wäre stolz gewesen. 

Die Polizeipräfektur hat inzwischen aufgegeben, die Demonstranten zu zählen. Regelmäßig werden die Polizisten am Straßenrand beklatscht. „Das passiert uns ganz ganz selten“, sagt ein Gendarm. Er hat feuchte Augen.

Foto und Vine-Videos: Pierre-Olivier François

 

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