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Marta Slawinska

Russen in Lettland - Die trotzige Minderheit

Unter der Eurokrise hat nicht Griechenland am stärksten gelitten, wie Tsipras' es auch bei seinem Moskau-Besuch suggeriert, sondern Lettland. Mit der Ukrainekrise ist auch die Angst vor dem russischen Nachbarn gewachsen. In Lettland lebt die größte russische Minderheit. Wie bedeutet das für den baltischen Staat?

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Sabine Adler ist Korrespondentin des Deutschlandfunks in Warschau.

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Putins Unterstützer in Riga residieren nobel. Das Parteibüro der radikal Moskau-freundlichen Russischen Union Lettlands liegt ausgerechnet im chic sanierten Jugendstilviertel. Dessen rund 800 Häuser waren zu kommunistischen Zeiten als dekadent verschrien. Heute ist das elegante Viertel eine der begehrten Gegenden der lettischen Hauptstadt. Wohin man schaut, sind die Fassaden mit Ornamenten geschmückt, mit Fabelwesen und Frauenbüsten, die Blumenkränze auf ihren Häuptern balancieren. Zeugnisse der wirtschaftlichen Blüte Ende des 19. Jahrhunderts. Unter der angegebenen Adresse der Russischen Union Lettlands weist kein Schild auf die Parteizentrale hin. Per Handy muss man um Einlass bitten und steigt hinunter in das Souterrain.

So finster wie die Räume ist auch der Blick von Tatjana Ždanoka, die Gäste aus dem Westen mit unverhohlenem Widerwillen empfängt. Mit einer müden Handbewegung weist sie in Richtung eines winzigen Kellerbüros. Hier scheint sich in den vergangenen 50 Jahren nicht viel verändert zu haben: An der Wand steht ein schwerer Schreibtisch, gegenüber ein durchgesessenes Sofa. Die Luft ist modrig-feucht, die Wand zur benachbarten Toilette dünn. Seit fünf Jahren ist die 64 Jahre alte Politikerin Europaabgeordnete, sie gehört in Brüssel zur Fraktion der Grünen/Europäische Freie Allianz. Im Frühjahr wäre Ždanoka fast aus der Fraktion geflogen, weil sie die russische Annexion der Krim begrüßt hatte.

Wer lettische Volkslieder sang, dem drohte die Deportation


Seit 1990 haben die Dinge für ihren Geschmack eine völlig falsche Richtung genommen. Sie war gegen die Auflösung der Sowjetunion und gegen die Unabhängigkeit Lettlands. Während der Singenden Revolution, der nationalen Bewegungen im Baltikum Ende der Achtziger, hielt sie sich die Ohren zu und stand weit abseits von ihren Landsleuten. Die lieben kaum etwas so sehr wie das Singen. Endlich konnten sie lauthals, nicht mehr nur heimlich, die Dainas schmettern. So heißen die lettischen Volkslieder, die zu Sowjetzeiten verboten waren: Wer sie sang, dem drohte die Deportation nach Sibirien.

Die Lieder erzählen von der Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit. Während die Letten in jenen Tagen ihre wiedergewonnene Eigenstaatlichkeit feierten, trauerte die Altkommunistin Tatjana Ždanoka. Für sie war die gute alte Zeit unwiderruflich vorbei.

So erklärt sich ihre Einschätzung des Ukrainekonflikts. Er sei „eine Folge des Zerfalls der UdSSR ohne Übergangsphase. Ohne die Selbstbestimmung der Völker.“ Sagt sie und meint damit die russischen Minderheiten in den unabhängig gewordenen Staaten, ignoriert dabei aber, dass sich Letten, Litauer, Esten, Ukrainer, Weißrussen und andere endlich nicht mehr nur als Sowjetbürger verstehen mussten, ihre Nationalität nicht mehr nur auf dem Papier bestand. Die Nationen erkämpften sich ihre eigenen Staaten.

Russische Union Lettlands steht unter schärfster Beobachtung


In diesem Prozess seien die Autonomen Republiken der Sowjetunion nicht berücksichtigt worden, sagt hingegen Ždanoka. Während die 15 Sowjetrepubliken unabhängig werden durften  – für die EU-Abgeordnete eine der größten Fehlentscheidungen –, ist das den Autonomen Republiken verwehrt geblieben. Allein in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik gab es 16 solcher Autonomen Republiken, in denen sich meist ethnische Minderheiten konzentrierten. Tschetschenen zum Beispiel. Die Mathematikprofessorin zieht daraus eine erstaunlich unlogische Schlussfolgerung: „Es gab ein Referendum auf der Krim, eine Bewegung in Berg-Karabach in Armenien, es gab Südossetien und Abchasien in Georgien, Transnistrien in der Republik Moldau. Sie alle haben sich nicht mit ihrem Status innerhalb der jeweiligen Republiken abgefunden. Das russische Volk ist sehr geduldig.“

Das Misstrauen Russland gegenüber war berechtigt, lautet die Lehre der Letten. Längst wird die bange Frage gestellt: Wann sind wir die Nächsten? Sie sehen Parallelen zur Ukraine: Spannungen gibt es etwa wegen der Weigerung der Letten, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen. Drei Viertel der Wahlberechtigten hatten sich vor zwei Jahren in einem Referendum dagegen entschieden.

Lettland hat mit fast 30 Prozent die größte russischsprachige Minderheit außerhalb Russlands. Die von Tatjana Ždanoka geleitete Russische Union Lettlands ist ihr Sprachrohr. „In den vergangenen 20 Jahren habe ich mich gefragt, weshalb sich die russischstämmigen Letten die Diskriminierung gefallen lassen, weshalb sie nicht härter reagieren“, sagt sie. In der Hauptstadt Riga hat sogar jeder zweite Einwohner russische Wurzeln. Auf die Idee, ein autonomes Gebiet zu fordern, kam noch niemand. Nicht einmal die Russische Union Lettlands. Dennoch steht sie unter schärfster Beobachtung. Ob sie etwa die 300.000 russischstämmigen Letten aufwiegelt, die noch immer keinen Pass haben. Die allermeisten von ihnen weigern sich, den Lettisch-Sprachtest abzulegen, der Voraussetzung für die Einbürgerung ist. 300.000 Menschen sind eine Menge in einem Zwei-Millionen-Volk. Formal gelten sie als Staatenlose, ohne Wahlrecht, aber mit ungehinderter Reisefreiheit. Russischstämmigen Bürgern ohne lettische Staatsbürgerschaft bleibt eine Beamtenlaufbahn verwehrt, was sie als Diskriminierung verstehen.

„Es gibt keine Aggression Russlands gegen die Ukraine“, sagt sie


Tatjana Ždanokas Vater war Lette. Weil sie der Meinung war, dass sie damit automatisch auch die lettische Staatsbürgerschaft habe, widersetzte sie sich dem Naturalisierungsprozess, wie die Einbürgerung offiziell heißt. Die Behörden sahen es anders. Am Ende eines langen Weges durch die Gerichte bekam Tatjana Ždanoka recht. Ihre russische Mutter hingegen starb als Staatenlose. Dass sich die in Riga geborene Russin einbürgern lassen sollte, empfand sie als Zumutung.

Die Tochter trieb es Ende der achtziger Jahre in die Politik. Wegen der Perestroika. Die wollte sie aufhalten. Sie wurde eine der Gallionsfiguren der Internationalen Front, die sich gegen die Unabhängigkeit Lettlands stemmte, weswegen sie später zunächst nicht für das Parlament, die Saeima, kandidieren durfte.

Im Europäischen Parlament gibt sie sich als einzig wahre Verfechterin der europäischen Idee: „Ich sehe meine Aufgabe darin, die Europäische Union zu dem zu machen, wie sie sich viele große Persönlichkeiten, wie etwa der ehemalige französische Präsident Charles de Gaulle, gewünscht haben. Als einen Raum von Lissabon bis zum Ural. Die EU kann nur dann stark sein, wenn sie auch Russland einschließt.“

Ein Satz, zu dem noch während Boris Jelzins Präsidentschaft viele im Westen genickt hätten. Ein Satz, der seit Wladimir Putins Abkehr von demokratischen Werten aber klingt, als hätte Ždanoka wesentliche Veränderungen verschlafen. Zusammen mit Deutschland sei eine EU, die Russland aufnimmt, immer noch möglich, behauptet sie. Und: „Es gibt keine Aggression Russlands gegen die Ukraine.“

Wenn Tatjana Ždanoka in Brüssel ist, hält ihr Stellvertreter Mirosław Mitrofanow in Riga die Stellung. Er lädt zu einem Kaffee mit Schuss in die Parteizentrale ein und erzählt, dass Moskau seine Partei neuerdings mit so viel Geld wie noch nie unterstütze. Vor Jahren hätten sie noch Kritik vom Kreml für ihre Kandidatur bei Wahlen einstecken müssen, weil sie das Lager der Russischstämmigen spalten und den Einzug zumindest einer russischen Partei ins lettische Parlament gefährden würden.

Mitrofanow erklärt, wie es sich seiner Meinung nach wirklich verhielt auf der Krim. Die Initiative für das Referendum sei von den Krimbewohnern ausgegangen, Putin habe keinen Annexionsplan gehabt. Dass russische Soldaten auf die ukrainische Halbinsel geschickt wurden – reine Spekulation.

Immer noch höherer Lebensstandard als in Russland


In der Parteizentrale stapeln sich Exemplare der Sonderausgabe der Parteizeitung zum Vertragsschluss zwischen der Russischen Union Lettlands und der Putin-Partei Einheitliches Russland auf der Krim. Das Foto auf dem Titelblatt zeigt den Letten Mitrofanow und den Anführer des Krimputschs, Sergei Aksjonow, bei der Unterzeichnung. Dieser Vertrag soll ein Zeichen der Solidarität mit der Krim sein und enthält eine an die EU adressierte Drohung, sagt Mitrofanow: „Wenn sie nicht die Entwicklung Lettlands vorantreibt und die Armut vermindert, dann könnte in Zukunft die Sympathie des lettischen Volkes auf Russland übergehen. Russland hat sich zum Besseren geändert. In den neunziger Jahren hat sich jeder nur um sich selbst gekümmert, aber jetzt herrscht Solidarität. Russland wird für das Wohlergehen der Letten Sorge tragen.“

Lettlands Außenminister Edgars Rinkevics lassen derartige Erpressungsversuche der russischen Radikalen kalt, nicht nur, weil sie wegen der Fünf-Prozent-Hürde den Einzug ins Parlament jüngst erneut verfehlten. „Es sind nicht mehr Russen als Letten arbeitslos, und es sind während der Krise auch nicht etwa zuerst Russen entlassen worden.“ Außerdem ist der Lebensstandard in Lettland, Estland, Litauen oder Polen höher als in Russland. „Auch aus diesem Grund kann es kein Hilfeersuchen der russischen Minderheit an Moskau geben, weil es ihr hier schlechter ginge als in Russland“, sagt der Minister. Mit den Ukrainern verhält sich das anders, sie sind deutlich ärmer als die Russen.

Lettland hat unter der Krise mehr als jedes andere europäische Land gelitten. Die Wirtschaft brach 2009 um fast 18 Prozent ein. Die Regierung legte ein Sparprogramm auf, das seinesgleichen suchte: Sie kürzte die Staatsausgaben um 17 Prozent, entließ ein Drittel der Staatsbediensteten, senkte die Gehälter um 40 Prozent. Das Ergebnis: Die Arbeitslosigkeit stieg von 6 auf 19 Prozent.

Letten fliehen vor der hohen Arbeitslosigkeit


Es gab zwar kaum Proteste auf der Straße, dafür eine Abstimmung mit den Füßen. Fast eine Viertelmillion Letten arbeiten im Ausland, meist in den Staaten der EU. Die Regierung hat ihre Zusage, die Gehälter zu erhöhen, sobald die Wirtschaft wieder wächst, nicht eingehalten. In dieser Situation beantragen immer mehr Letten einen Pass bei der russischen Botschaft in Riga. Es sind vor allem Bürger, die noch in der Sowjetunion gearbeitet haben und nun kurz vor der Rente stehen, auf die Frauen in Russland schon mit 55 Jahren, Männer mit 60 einen Anspruch haben. Wer die russische Staatsbürgerschaft hat, bekommt eine russische Rente. Die Bezüge sind zwar nicht höher als in Lettland, werden aber deutlich früher gezahlt. Die Letten sollen hingegen noch später als bisher in Rente gehen, statt mit 62 erst mit 65 Jahren.

Trotz allem will die lettische Regierung die russischstämmigen Bürger keinesfalls als Fünfte Kolonne Moskaus im Land abgestempelt wissen. Zu groß ist die Minderheit. Vor allem lässt allein die Nationalität nicht auf die politische Gesinnung schließen. Viele Russischstämmige sehen Putins imperiales Streben, sein Abstrafen von demokratischen Entwicklungen in Ländern der ehemaligen Sowjetunion sehr kritisch und unterscheiden sich darin nicht von der Mehrheit der Letten. Allerdings gebe es eine Polarisierung innerhalb der russischsprachigen Minderheit, sagt der Politologe Ainars Dimants. Auf der einen Seite stünden diejenigen, die sich nicht mit dem Putin-Regime identifizieren können. Sie verschafften sich stärker als früher Gehör. Auf der anderen Seite seien die Putin-Getreuen. „So ähnlich war es in unserem Unabhängigkeitskampf. In der ,Internationalen Front‘ traten Russen und Russischsprachige für die Beibehaltung der Sowjetunion ein. Und in der ,Volksfront‘ engagierten sich die anderen Russen zusammen mit den Letten für ein demokratisches und unabhängiges Land.“

Der Krieg in der Ostukraine wie auch die Krimeinverleibung wecken Erinnerungen daran, dass der übermächtige Nachbar bereits zweimal Lettland besetzt hat. Die Russische Union Lettlands hingegen bestreitet nicht nur die aktuelle Annexionspolitik Russlands, sondern auch die frühere. „Es gab keine sowjetische Okkupation“, sagt Mirosław Mitrofanow und greift die lettische Mehrheitsgesellschaft an. „Wir Russischsprachigen wurden zu Ausländern erklärt, man betrachtet uns ausschließlich negativ, unabhängig davon, welchen Beitrag wir für die Entwicklung Lettlands geleistet haben. Wir sind unerwünschte Elemente.“ Das sei die Rache für die Repressionen unter Stalin.

Baltische Staaten rüsten gegen Russland


Dass die politische Lage in Lettland vielschichtiger ist, als die Propaganda glauben machen will, zeigt der Erfolg der zweiten russischen Partei, Harmonie-Zentrum. Sie tritt deutlich moderater auf als die Russische Union Lettlands. Bei den jüngsten Parlamentswahlen im Oktober wurde Harmonie-Zentrum mit 21 Prozent erneut stärkste Partei, verlor aber im Vergleich zu 2009 fünf Prozent. Damit wurde die allzu große Nähe der Partei zu Moskau abgestraft. Um eine Regierung unter Führung der russischen Partei zu verhindern, wurde das Mitte-Rechts-Bündnis von Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma verbreitert.

In der Ukrainekrise sind die baltischen Staaten näher zusammengerückt. Auf die potenzielle russische Bedrohung reagierte Lettland so wie Estland und Litauen, indem es seinen Verteidigungsetat auf 2 Prozent des Bruttosozialprodukts erhöhte; Warschau will künftig 1,8 Prozent des Bruttosozialprodukts für Verteidigung ausgeben. Zudem will Lettland fast 15 Millionen Euro für die Sicherung der lettisch-russischen Grenze ausgeben. Alle baltischen Länder einschließlich Polen fordern eine deutlich sichtbarere Nato-Präsenz.

Dass sich in der Ukraine das Verhältnis zur Nato gerade dreht, es erstmals mehr Befürworter einer Mitgliedschaft als Gegner gibt, wundert den lettischen Politologen Ainars Dimants nicht. „Nur weil die Ukraine nicht in der Nato ist, konnte das passieren. Putin wäre heute in Lettland, wenn wir kein Nato-Mitglied wären.“

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