Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

G7-Gipfelbeschluss - Kann sich diese Gruppe noch Wertegemeinschaft nennen?

Viele Jahre klang es ziemlich hohl und irgendwie abgenutzt: Der Westen ist eine Wertegemeinschaft. Nun hat die G7 diesen Begriff neu belebt. Zu Recht?

Autoreninfo

Werner Sonne, langjähriger ARD-Korrespondent in Washington, ist der Autor mehrerer Bücher zu diesem Thema, u.a.  „Leben mit der Bombe“, sowie des jüngst erschienenen Romans „Die Rache des Falken“. 

So erreichen Sie Werner Sonne:

Eingeräumt: Das hohe  Ross war immer schon die falsche Position. Vor allem dann, wenn man selbst nicht ohne Makel ist. Ersparen wir uns also nicht den kritischen Blick. Schauen wir auf das Land, das vor allem uns Deutsche doch diese Werte mit Umerziehung und Entnazifizierung geradezu aufgedrängt hat, nachdem wir uns mit Holocaust und Weltkrieg außerhalb eines humanistisch geprägten Wertesystems gestellt hatten.

Schauen wir also auf das Land, das 1787 noch vor der französischen Revolution mit seiner Verfassung die Maßstäbe gesetzt hat, an denen sich unsere Werte heute noch orientieren: The Bill of Rights, jene Bürgerrechte, die unveränderlich ihre Berechtigung haben – Meinungs-, Versammlungs-, Religions-, Pressefreiheit, die Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Justiz und einem frei gewählten Parlament, das die Regierung kontrolliert – die grundsätzliche Idee, dass die Macht von uns, dem Volk („We, the people“) ausgeht. Ja, diese Väter der amerikanischen Verfassung haben gute Arbeit geleistet (und lassen wir mal außen vor, dass sie sich damals nicht auf die Abschaffung der Sklaverei einigen konnten und Sklaven u.a. aus steuerlichen Bemessungsgründen für ihre Besitzer als „Vier-Fünftel-Person“ gezählt wurden).

Kriege, Gewalt und US-Geheimdienste
 

Benjamin Franklin, einer der Verfasser, sagte damals einsichtig, es sei ihm bewusst, dass diese Verfassung nicht perfekt sei. Und auch mehr als 200 Jahre später ist die Verfassungswirklichkeit weit davon entfernt. Ja, die Gründerväter haben den Bürgern das Recht eingeräumt, Waffen zu tragen. Und was für ein Wahnsinn ist daraus geworden! Ja, die Todesstrafe ist immer noch nicht abgeschafft.  Ja, Rassismus ist immer noch tief verankert. Gegenüber Afroamerikanern sitzt bei Polizisten die Dienstwaffe besonders locker, und machen wir uns nichts vor: der an Hass grenzende Widerstand gegen Barack Obama bei den Republikanern hat nicht zuletzt auch mit seiner Hautfarbe zu tun.

Und außenpolitisch glaubt man in Washington, die Verbreitung dieser Werte rund um die Welt – auch mit militärischer Gewalt durchsetzen zu dürfen: Kuba, Vietnam und Irak sind nur einige Bespiele. Auch Mittel aus dem Schattenreich der Geheimdienste werden angewandt, obwohl sie im Ergebnis kaum weniger gewalttätig sind: siehe Chile, Iran vor dem Schah oder Nicaragua.

Nein, da hat Benjamin Franklin recht: Perfekt ist der Große Bruder in unserem Wertesystem gewiss nicht.

Und dennoch ist eben auch wahr, dass dieses System mit all seinen offensichtlichen Schwachstellen und Irrtümern nach wie vor einen wichtigen Vorteil hat: die Fähigkeit zur Korrektur, zur immer neuen Justierung seines Wertesystems, das nach innen wie nach außen. Auf die Unterdrückung der Afroamerikaner folgte die Bürgerrechtsbewegung mit vielen tiefgreifenden Verbesserungen und am Ende die Wahl eines Farbigen ins Weiße Haus. Auf die ungeheuerliche Anmaßung des Watergate-Skandals folgte der erzwungene Rücktritt des US-Präsidenten Richard Nixon, auf das Eindringen der NSA-Krake in die Privatsphäre auch der US-Bürger ist der Kongress dabei, dem zumindest zu Hause einen Riegel vorzuschieben.

Außenpolitisch hat Präsident Obama nach dem Irak-Desaster einen neuen Kurs eingeschlagen, nämlich Amerika möglichst aus Kriegseinsätzen herauszuhalten. Das gelingt ihm auch nur deshalb bedingt, weil viele Staaten von ihm ausdrücklich die Weltpolizistenrolle einfordern, nicht zuletzt die jetzigen Regierungen in Irak und Afghanistan.

Die amerikanische Justiz schlägt immer wieder mit großer Härte zu, und lässt viele andere Staaten dabei wie Papiertiger aussehen. Ob gegen das Schweizer Steuersystem, gegen die Deutsche Bank, oder gegen die FIFA – auch hier werden Werte durchgesetzt, und zwar nicht nur nach außen, sondern auch im eigenen Land.

Zum Wertesystem gehört das Recht auf Selbstbestimmung
 

Blinde Gefolgschaft kann der Große Bruder mit dieser Bilanz nicht einfordern. Aber im Vergleich zu Putin-Russland haben Werte doch eine andere Bedeutung. Wer regelmäßig etwa die Münchener Sicherheitskonferenz besucht, wird dort auf hochrangige russische Regierungsvertreter treffen, die  all die Defizite im eigenen Land beklagen, deren Beseitigung  der Westen so oft einfordert: die Abwesenheit eines Rechtsstaates, die grassierende Korruption, die Rückständigkeit, die sich daraus ergibt.

Zum Wertesystem gehört das Recht auf Selbstbestimmung. Wenn Bevölkerungen sich entscheiden, sich einem anderen System anzuschließen, wird man es ihnen nicht verwehren dürfen – auch wenn sie Europäische Union oder Nato heißen.

Wenn sich Putin dagegen stemmt und in der Ukraine den Tod von über bisher 6000 Toten in Kauf nimmt, bleibt er in der Tat außerhalb dieses Wertesystems. 

In Elmau durfte er deshalb nicht dabei sein. Auch wenn uns die Berufung auf gemeinsame Werte lange Zeit als beinahe lästige, ziemlich hohle Propaganda  erschienen haben mag, als sinnentleertes Mantra geradezu,  so zeigt sich bei genauerer Betrachtung eben doch:  Ja, es gibt sie, ja, es ist richtig, dass sie kritisch diskutiert und bewertet werden.

Dieses Wertesystem ist und bleibt ein tragfähiges Gerüst. Auf die Einhaltung kommt es an, und das nicht nur in Russland. Auch vor der eigenen Tür werden wir immer wieder kehren müssen, wenn wir sie glaubwürdig vertreten wollen.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.