- Ein deutscher Alleingang wird nicht funktionieren
Der EU-Gipfel in Brüssel hat noch immer keinen Kompromiss in der Flüchtlingskrise gefunden. Für Cornelius Adebahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gelingt ein Ausweg nur, wenn Deutschland einen Schritt auf die Mitgliedsstaaten zugeht
Mit den Flüchtlingsströmen ist die globale Realität in die deutsche Idylle eingebrochen. Gleichzeitig läuft der aktuelle Kurs der Bundesregierung Gefahr, die europäischen Nachbarn zu verlieren. Dabei kann sich Deutschland weder der Welt noch Europa verschließen. Die konfuse, teilweise sehr aufgeregt geführte Debatte seit Jahresbeginn zeigt gleichwohl, dass wir vor allem eines noch nicht verstanden haben: Was „die Welt da draußen“ für uns Deutsche bedeutet.
Die praktische Herausforderung durch die Flüchtlingsströme ist groß genug, doch tut sich die deutsche Politik momentan in zwei Punkten zusätzlich – und unnötig – schwer. Sie schafft es nicht, den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, dass sich Außenpolitik heutzutage nicht mehr von Innenpolitik trennen lässt. Anders als früher bedingen sich beide in weiten Teilen gegenseitig. Darüber hinaus hat sie es versäumt, für einen zwar grundsätzlich richtigen Kurs sich ausreichend europäische Unterstützer zu sichern. „Recht haben“ ist wenig wert, wenn man ohne Partner dasteht.
Mediale Debatte emotional statt rational
Seit Jahresbeginn redet sich das Land medial in eine Krise, die politisch und damit real zu werden droht. Statt darüber zu reden, die veritablen Belastungen auf lokaler Ebene zu bewältigen, werden alte Grabenkämpfe um Integration, kulturelle Unterschiede und Ausländerkriminalität gefochten. Die Stimmung „kippt“, die Kanzlerin „wackelt“, schreiben die Medien. Diese Debatte wird innenpolitisch geführt, und entsprechend wenig ist von der institutionalisierten Außenpolitik – den Thinktanks, Forschungsinstituten und Stiftungen der Republik – zu hören. Welche Folgen ein solches Ausblenden der außenpolitischen Konsequenzen hat, wird durch die freigesetzten Emotionen verdrängt.
Dabei hatte die Bundeskanzlerin doch bereits im Oktober 2015 bei Anne Will erklärt, Deutschland werde zukünftig ein Land sein, das „mehr Außenpolitik macht“. Keine Frage, Frau Merkel macht (noch) mehr Außenpolitik als je zuvor: sie bemüht sich um eine Lösung innerhalb der EU, sie konferiert einzeln mit den europäischen Nachbarn, sie ringt um einen Deal mit der Türkei. Als Teil der „Fluchtursachenbekämpfung“ schickt der Bundestag sogar Bundeswehr-Tornados nach Syrien.
Obergrenzen kommen außenpolitischer Kapitulation gleich
So weit, so viel Außenpolitik. Doch geben sowohl Befürworter als auch Gegner der aktuellen Politik in erster Linie nationale Antworten auf eine wahrhaft grenzüberschreitende Krise. Für die einen steht die scheinbare Unmöglichkeit, die Flüchtlingsströme zu steuern, im Vordergrund. Die Zauberformeln, die jene beschwören – von „Obergrenze“ über „Zäune hoch“ bis „Schießbefehl“ – kommen jedoch einer Kapitulation der Außenpolitik insgesamt gleich. Auch das Argument, Deutschland täte es damit nur seinen EU-Partnern gleich, macht diesen Kurs nicht „europäisch“. Denn auf einem „Jeder ist sich selbst der Nächste“ lässt sich keine Gemeinschaft aufbauen.
Doch auch diejenigen, welche die Notwendigkeit, den Flüchtlingen zu helfen, betonen, nehmen den deutschen Alleingang in Kauf. Denn sie argumentieren über die moralische Frage hinaus damit, dass eine Grenzschließung in Deutschland (anders als in Ungarn, Schweden oder nun Österreich) das Ende von Schengen und, mittelbar, der EU als Ganzes bedeute. Somit akzeptieren sie – ganz ohne Bezug zur Vergangenheit, sondern allein mit Blick auf die praktischen Konsequenzen einer politischen Entscheidung – eine deutsche Sonderrolle innerhalb der EU.
Innen- und Außenpolitik sind miteinander verwoben
Internationale Politik ist jedoch kein Ethikseminar: Spätestens wenn es „alle gegen einen“ steht, ist es Zeit, den eigenen Kurs zu überdenken. Denn so richtig der Satz von Frau Merkel zur Bedeutung der Außenpolitik für unser Land ist, so sehr wohnt ihm ein altes – überkommenes – Verständnis von zwei getrennten Sphären der Politik zugrunde: dem Inneren und dem Äußeren. Dabei haben doch die zweieinhalb Jahrzehnte seit dem Mauerfall samt Europäisierung und Globalisierung gezeigt, dass diese beiden Politikbereiche immer mehr miteinander verwoben sind.
„Mehr Außenpolitik“ kann angesichts dieser Verflechtung also nicht heißen, wahlweise mehr Diplomaten einzustellen, mehr Entwicklungshilfe zu zahlen oder mehr Soldaten ins Ausland zu schicken. Es muss darum gehen, sich als Politik mehr um internationale Belange kümmert – ob im Verkehrs-, Justiz- oder (ja!) Innenministerium zu kümmern, ob auf Bundes-, Länder- oder kommunaler Ebene.
Ein Krieg vier Flugstunden entfernt darf uns nicht kalt lassen
Letztlich geht es um ein – wenn auch spätes – Anerkennen der Realitäten: Deutschland, in der Mitte Europas gelegen, ist von Freunden umgeben und mit der Welt vielfach verbunden. Die Flüchtlingskrise selbst steht symbolhaft für die wechselseitigen Abhängigkeiten, denen Deutschland ausgesetzt ist: Es kann uns auf Dauer nicht gut gehen, wenn die Menschen in unserer direkten Nachbarschaft – Aleppo ist nur vier Flugstunden entfernt, so viel wie die Kanaren – unter einem grausamen Krieg leiden. Gleichzeitig können wir nicht eigenständig die Grenzen offenhalten, wenn keiner unserer europäischen Partner mehr mitzieht. Zwischen der moralisch gebotenen Aufnahme von Flüchtlingen und den objektiven – wie subjektiv gefühlten – Grenzen der Belastbarkeit bestehen genauso Spannungen wie zwischen nationalen Alleingängen und europäischer Zusammenarbeit.
Ohne Zweifel ist es ehrenwert – und darüber hinaus im ureigenen deutschen Interesse – Europa vor dem Scheitern bewahren zu wollen. Doch stellt sich tatsächlich die Frage, welches Europa die deutsche Regierung retten will, wenn keine der 27 anderen Regierungen bereit ist, diese Rettung mitzutragen. Das heißt, dass wir in der Flüchtlingsfrage einen Mittelweg finden müssen, den unsere direkten Nachbarn und wichtigsten Verbündeten wie Frankreich, die Niederlande, Dänemark, Polen und Österreich mittragen können. Ein Kompromiss, auf den sich diese Länder einigen können – gemeinsame Grenzkontrollen, Kontingentierung und Verteilung von Flüchtlingen etc. – wird wiederum andere EU-Staaten vom Mittun überzeugen. Die europäische Lösung, welche die Bundesregierung richtigerweise anstrebt, schließt also ein, dass auch Berlin seine bisherige Position aufweichen muss.
Wir müssen die Welt um uns herum besser verstehen lernen
Darüber hinaus sollte Frau Merkel ihr „mehr Außenpolitik“ im Kleinen wie im Großen umsetzen: die Regierung so umbauen, dass sie grenzüberschreitende Einflüsse und Konsequenzen auch bei vermeintlich nationalen Politiken mitdenkt, und die Bürgerinnen und Bürger über Deutschlands Verflechtung mit der Welt besser aufklären. Zu einem ernst gemeinten Austausch über die Anforderungen der internationalen Politik gehören das Aufnehmen von deren Erwartungen und Sorgen ebenso wie Auskunft über außenpolitische Notwendigkeiten sowie Konsequenzen des (Nicht-)Handelns.
Gut leben in Deutschland – das Motto des Wohlfühl-Bürgerdialogs der Bundesregierung im vergangenen Jahr, das offensichtlich auch die Menschen im Nahen Osten vernommen haben – funktioniert eben nicht losgelöst von unserer nahen und ferneren Nachbarschaft. Nur wenn wir Deutschen die Welt um uns herum besser verstehen und berücksichtigen, können wir unseren inneren und äußeren Frieden und Wohlstand erhalten.
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