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() Jeremy Rifkin
"Ihr seid die neue Supermacht"

Der amerikanische Traum ist ausgeträumt – die EU das Modell der Zukunft. Ein Gespräch mit dem Washingtoner Zukunftsforscher Jeremy Rifkin über veraltetes Denken in der Heimat, globale Zusammenarbeit und die Vision eines starken Europa.

Der Gedanke, dass wir in Europa dabei sind, der Supermacht USA den Rang abzulaufen, erstaunt uns doch etwas. Was bringt Sie auf die Idee? Sehen Sie sich doch den berühmten amerikanischen Traum einmal an. Er basiert auf der Idee, dass jedes Individuum auf sich allein gestellt ist. Freiheit bedeutet, sich selbst zu verteidigen und für sich selbst verantwortlich zu sein. Freiheit ist Autonomie und Mobilität, Unabhängigkeit und Eigenverantwortung. Und was macht uns Europäer überlegen? Die Europäer haben aus der Aufklärung heraus ein ganz anderes Weltbild entwickelt. Im 18. Jahrhundert war Europa ziemlich dicht besiedelt. Die Menschen waren gezwungen, eng beieinander zu leben. Freiheit bedeutete deshalb vor allem: in die Gemeinschaft eingebettet sein. Entsprechend spielen heute die zunehmende Vernetzung der Welt und der globale Gedanke in Europa eine viel größere Rolle als in den USA. Dort regiert der amerikanische Traum? Ja, mit der Wiederwahl von George W. Bush ist er bestätigt worden. Bush bezieht sich exakt auf dessen Moralvorstellungen: Auf das allein gestellte Individuum, das Gott auf seiner Seite weiß und gegen böse Kräfte kämpft. Gerade hat Bushs zweite Amtszeit begonnen. Nach Ihrer Logik hätte er keinen Grund für einen Kurswechsel? Nein, sicher nicht. Nehmen wir die Außenpolitik der Bush-Regierung. Sie ist eine Erweiterung des amerikanischen Traums. Sie geht davon aus, dass wir in einer konkurrierenden Welt leben, wo jeder Staat versucht, seinen Einfluss auszudehnen. In Europa hat man dagegen nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues politisches Experiment gestartet: die Europäische Union, das erste transnationale Netzwerk, das versucht, globale und lokale Interessen zu vermitteln. Ein europäischer Traum? Die EU wurde aus vielen Kriegen und Konflikten geboren, eine Gemeinschaft, die auf Vertrauen und Kooperation beruht. Ein europäischer Traum, der auf diesen Elementen basiert: Nachhaltigkeit, kulturelle Vielfalt, persönliche Entfaltung, universelle Menschenrechte, Frieden und globale Zusammenarbeit. Es ist der ehrgeizigste Traum der Geschichte. Er passt in die globale Welt, seine Stärke liegt in der kollektiven Verantwortlichkeit. Für Amerikaner bedeutet stark sein dagegen, mächtig zu sein und andere unter Kontrolle zu haben. Ist das Bild, das Sie von den Amerikanern zeichnen, nicht verallgemeinernd? Viele Amerikaner halten Prinzipien wie Lebensqualität, Menschenrechte, Vielfalt und Nachhaltigkeit für wichtig. Ihnen möchte ich deshalb auch Mut machen: Seht auf Europa! Das ist die neue Vision für Amerika! So wie der amerikanische Traum einst weltweit bewundert wurde, so könnte jetzt der neue europäische Traum zum Vorbild werden. Europäer denken ständig an Amerika. Doch Amerikaner denken nie an Europa… Nicht einmal als politischen und wirtschaftlichen Faktor? Wenn Sie Amerikanern erzählen, dass die EU die mächtigste Exportmacht der Welt ist, dass das Bruttoinlandsprodukt der EU mit den USA konkurriert – niemand würde Ihnen glauben. Amerikaner verbinden mit Europa veraltete Institutionen, aufgeblähte Bürokratien und eine alternde Bevölkerung. Wenn Sie Amerikanern erklären, dass Europa eine neue Supermacht mit 455 Millionen Menschen ist, halten sie Sie für einen Spinner. Wie sollte Europa unter diesen Umständen eine Chance haben, zum Vorbild für die Welt zu werden? Amerika leidet an einem Überlegenheitskomplex, Europa an einem Minderwertigkeitskomplex. Ihr seht in Amerika den großen Wirtschaftsgiganten und überseht, dass ihr die größere Exportmacht seid, dass ihr wichtige Schlüsselindustrien habt. Begreift doch, welche enorme Macht ihr habt! Nun hat die EU in einer Zwischenbilanz zu den Lissabon-Zielen festgestellt: In Produktivität und Beschäftigung hinken wir den USA deutlich hinterher. Die Euroskeptiker sollten eines wissen: Die amerikanische Wirtschaft ist in einem viel schlechteren Zustand, als man in Europa denkt. Der amerikanische Wohlstand basiert auf Schulden, nicht darauf, dass wir bessere Fähigkeiten haben. Wenn die EU bis 2010 stärkste Wirtschaftsmacht der Welt werden will, dann muss sie vor allem ihre Infrastruktur vernünftig bündeln. Ist die neue EU-Kommission denn geeignet, die künftigen Herausforderungen zu meistern? Ja, sie ist geeignet, auch wenn die Arbeit der Behörde oft frustrierend sein mag. Es gibt in der EU viele konkurrierende Interessen und kein zentrales Kommando. Dennoch: Es ist das erste Beispiel für eine funktionierende Netzwerk-Politik. Und zum ersten Mal ist jetzt ein unglaubliches Dokument unterschrieben worden: eine europäische Verfassung, die auf gemeinsamen Ideen und Wertvorstellungen der Staaten beruht. Eine Riesenchance. Die Europäer haben das nur noch nicht begriffen. Das Interview führte Astrid Frohloff

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