Seine Science-Fiction-Romane waren Welterfolge. Lange Jahre gab der polnische Schriftsteller und Philosoph Stanislaw Lem keine Interviews. Jetzt äußert er sich in Cicero über vergreisende Gesellschaften, die Zukunft der Raumfahrt und das Wesen der Menschheit.
Herr Lem, Sie philosophieren gern über die Zukunft.
Ja, das ist noch immer so.
Welche technologischen Entwicklungen werden unser 21. Jahrhundert prägen?
Auf jeden Fall die Biotechnologie. Das Human Genome Project gibt uns die Chance, die Evolution unserer eigenen Spezies zu steuern. Das birgt große Gefahren und das bedeutet eine enorme Verantwortung. Schon heute können wir theoretisch das Geschlecht eines noch nicht geborenen Kindes bestimmen. Das ist erst der Anfang.
Halten Sie es für falsch, die Forschungsmöglichkeiten der Biotechnologen einzuschränken?
Ja. Nehmen Sie die Stammzellenforschung. Früher oder später wird sie sowieso in Gang kommen. Es gibt eben eine enorme Kluft zwischen der technologischen Entwicklung und der Reife der menschlichen Natur.
Wie meinen Sie das?
Wir Menschen heute sind genauso beschaffen wie die Menschen vor 100000 Jahren, also im Äolithikum. Die Evolution hat uns so geformt, dass wir relativ einfache Aufgaben in unserer damaligen Umwelt lösen konnten, um zu überleben. Es ist schon merkwürdig, dass dieses Erbgut überhaupt ausreicht, um sich mit den komplizierten Fragen der Nanotechnologie oder der Weltraumforschung zu beschäftigen.
In unserer Wirtschaft wird Arbeit immer mehr mechanisiert. Was bedeutet das für die zukünftige Gesellschaft?
Sicher, immer mehr Maschinen oder gar Roboter werden die Arbeit der Menschen erledigen. Wer aber meint, der Roboter könne den Menschen ganz ersetzen, der erliegt einer Utopie. Überhaupt sollten wir lieber darüber reden, welche technologischen Entwicklungen es nie geben wird.
Und zwar?
Zeitreisen wird es auf jeden Fall nicht geben, das ist völlig unmöglich. Und jetzt schreiben wir alle über die Verlängerung des menschlichen Lebens. Das halte ich für maßlos übertrieben. Zehn oder zwanzig Jahre sind vielleicht noch drin, aber der Traum von der Unsterblichkeit wird sich nie erfüllen. Unsterblich sind im menschlichen Körper nur die Krebszellen. Ansonsten verhält es sich leider so: In dem Moment, in dem der Mensch auf der Welt ist, beginnt er zu altern. Übrigens bin ich schon einmal zu hundert Prozent gestorben. Ich lag im Koma, weil ich auf den Kopf gestürzt war und 1,5 Liter Blut verloren hatte. Der Unfall war nicht sehr angenehm, aber der Zustand danach war erstaunlich angenehm. Ich befand mich in einem absoluten Garnichts. „Das Nichts“, sagt Heidegger, „ist, dass nichts ist.“ Es gibt also dieses Nichts. Das habe ich festgestellt. Das All ist 14 oder 15 Milliarden Jahre alt. Plötzlich – für eine Zeit, die im Vergleich dazu wie der Bruchteil einer Sekunde anmutet – erlangen wir Bewusstsein. Und dann ist es wieder weg. Das war’s.
Sie sind überhaupt nicht religiös.
So ist es.
Die europäische Gesellschaft wird im Schnitt immer älter – es gibt immer mehr Alte und immer weniger junge Menschen.
Ja, das ist auf der ganzen Welt ein zunehmendes Phänomen.
Ist das bedrohlich?
Es ist vermutlich einfach so. Was soll man machen? Die Gefahr der Euthanasie besteht sicherlich. Es gibt bekanntlich Ärzte, die sagen, man solle alte Personen krepieren lassen. Andere Ärzte sagen, man solle sie leben lassen, solange sie leben können. Haben Sie schon mal einen neunzig Jahre alten Menschen gesehen? Ganz alte Leute sind meistens uninteressant, ja, langweilig sind sie. Hässlich sind sie auch, und ihre Kreativität ist gleich null. In ihrem zweiten und dritten Lebensjahrzehnt machen die Menschen ihre großen Erfindungen – Gedichte oder die Relativitätstheorie – später nicht. So ist das Hirn beschaffen.
Aber sind die Menschen ab vierzig damit auch weniger wert?
Meinen Sie?
Ich frage Sie.
Also ich persönlich habe noch mit fünfzig die eine oder andere brauchbare Sache geschrieben, danach habe ich auch noch dies und das fabriziert, aber mit siebzig habe ich endgültig aufgehört. Wenn man nichts mehr zu sagen hat, ist es besser zu schweigen.
Ihrer Ansicht nach ist also die große Mehrheit der Menschen im Jahre 2060 wertlos, weil sie zu alt ist.
Na ja, solche Urteile sind global schwierig. Trotzdem bleibe ich dabei: Im Durchschnitt taugen wir etwas bis zum fünfzigsten oder sechzigsten Lebensjahr, und dann ist es schon aus. Dann ist der Geist sehr welk. Natürlich könnte man überlegen, alle Leute über 70 im atlantischen Ozean zu versenken, aber das wäre wohl ein bisschen unappetitlich.
Sie verweisen auf den guten Geschmack, nicht auf die Moral.
Moral? Welche Moral? Die Ethik als Wissenschaft ist unbeweisbar. Ein polnischer Philosoph hat das in einem Essay über die „Ethik ohne Kodex“ an mehreren konkreten Beispielen bewiesen. Er zeigte auch, dass die Ethik, der wir im Allgemeinen gehorchen, zu erheblichen Teilen widersprüchlich ist. Denn es gibt verschiedene komplizierte und komplexe Situationen, von denen niemand eindeutig sagen kann, wie man handeln darf, muss oder soll.
Für Sie gibt es also kein moralisches Wissen.
Nein. Ich kenne einen Mann, der Vegetarier ist. Er sagte mir, er esse kein Fleisch von höheren Tieren. Was aber sind höhere Tiere? Ich wollte ihn nicht fragen, ob Kaninchen auch dazu gehören. Vor vielen Jahren mochte ich Spinnen nicht sonderlich, bis ich das Buch „The life of the Spider“ gelesen habe. Es hat mich so beeindruckt, dass ich seitdem versuche, keiner Spinne etwas zuleide zu tun. Anders verhalte ich mich aber gegenüber Fliegen, Stechmücken und Würmern. Es gibt viele Probleme, für die wir keine eindeutige moralische Lösung finden können. Wir können nur sehr unterschiedliche Meinungen haben.
Glauben Sie an beseeltes Leben an einem anderen Ort als auf der Erde?
Nennen wir es intelligentes Leben. Ja, daran glaube ich. Aber das muss nicht die menschliche Intelligenz sein. Die menschliche Intelligenz ist eine spezielle Abart jener Intelligenz, von der man sagen kann, dass sie etwa eine Millionen Jahre überlebt hat. Die Insekten allerdings haben fast 400 Millionen Jahre überdauert.
Das Interview führte Vanessa de l'Or
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