- Der Krieg als Raster aller Dinge
Herodot, Thukydides und die anderen: Was die Griechen noch heute über den Zusammenhang von Krieg und Geschichtsschreibung zu sagen haben
Die Geschichtsschreibung ist eine der Formen, in denen das Politische bei den Griechen reflexiv geworden ist. Die beiden anderen Formen sind die Philosophie und die Dichtung, insbesondere die Tragödie. Reflexiv-Werden des Politischen heißt: die Rahmenbedingungen menschlichen Zusammenhandelns, also die Verfassung des Gemeinwesens, werden als etwas begriffen, worüber die Menschen selbst befinden und entscheiden können – sie sind in ihre Verfügung gestellt. Die Verfassungsdebatte in Herodots «Historien», in der es um die Vorzüge und Nachteile von Monarchie, Aristokratie und Demokratie geht, ist ein erstes Beispiel dafür. Aber das Reflexiv-Werden des Politischen bleibt nicht auf die Fragen der Verfassung beschränkt. Es bezieht vielmehr die großen Konflikte mit ein, die Frage, ob sie zwangsläufig oder vermeidbar waren. Nicht nur die Verfassungs-, sondern auch die Kriegsgeschichte wirft das Problem auf, inwiefern die politischen Akteure für die Geschichte des Gemeinwesens verantwortlich sind.
Solange sich die
Geschichtsschreibung als vorwiegend politisch definierte, stand für
sie außer Frage, dass neben der politeia auch dem
polemos eine entscheidende Bedeutung für das Verständnis
der Geschichte und die Verständigung über Herkunft und Zukunft
zukam. Die Anfänge der Historiografie bei den Griechen, bei
Herodot, Thukydides und Xenophon, drehen sich um diese Verbindung
von Verfassungs- und Kriegsgeschichte. Aber sie haben sich nie
darauf beschränkt, sondern um sie
herum eine Fülle sozial- und kulturgeschichtlicher Beobachtungen
gruppiert, die für Verfassungsentwicklung wie Kriegsverlauf von
Bedeutung waren. Das konnte ein beträchtliches Ausmaß annehmen, und
häufig war über einzelne Kriegshandlungen sehr viel weniger zu
erfahren als über die Sitten und Gewohnheiten der am Krieg
beteiligten Völkerschaften.
Großer Bogen um den Waffengang
Und doch bildete der Krieg das Grundmuster, das den Gang der Erzählung strukturierte: Für Herodot war dies der Gegensatz von Despotie und Freiheit, für Thukydides der Kontinuitätsbruch, den die große Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta im Fortgang der griechischen Geschichte darstellte, und für Xenophon schließlich die Gewissheit, dass es keine auf Dauer gewonnene Hegemonie unter den griechischen Stadtstaaten geben, sondern die Vorherrschaft durch eine antihegemoniale Koalition schon bald wieder gestürzt würde. Stärker noch als durch den Wandel der Verfassungen haben Abfolge und Verlauf der Kriege die Interpunktionen im Zeitverlauf vorgegeben.
Davon hat die wissenschaftliche Betrachtung der Historiografie zuletzt kein rechtes Bewusstsein mehr gehabt – oder haben wollen. Über weite Strecken war dies natürlich eine Reaktion auf das Übermaß des Krieges in der neueren europäischen Geschichte wie Geschichtsschreibung. Mit der Wendung zunächst zur Sozial- und dann zur Kulturgeschichte war zuerst auch eine Abwendung von der Kriegsgeschichte verbunden: Man interessierte sich nicht länger für den detailreichen Verlauf von Kriegen und hatte vehemente Zweifel daran, dass in der Geschichte von Kriegen tatsächlich die relevanten Einschnitte der Zeit zu finden seien. Sozio-ökonomische Daten und kulturell-politische Entwicklungen übernahmen die Funktionen, die bis dato Kriege und Schlachten innegehabt hatten. Diese Entwicklung hat in der deutschen Geschichtswissenschaft schließlich auch vor dem Blick auf die antike Historiografie nicht Halt gemacht. Das gilt zwar nicht für den vor mehr als dreißig Jahren verstorbenen Wolfgang Schadewaldt, aber doch für die nachfolgenden Generationen von Althistorikern, die um alles, was mit Krieg zusammenhing, in der Regel einen großen Bogen gemacht haben.
Zehn, zwanzig, dreißig Jahre Krieg
Ironie der Geschichte: Es sind die neueren kulturgeschichtlichen Fragestellungen, die nahe legen, wenn nicht sogar erzwungen haben, den Krieg als Quellgrund historischen Bewusstseins abermals in Augenschein zu nehmen. Nimmt man dabei die Selbstabgrenzungen der griechischen Historiker gegenüber ihren Vorläufern, durch die sie sich jeweils als Anfang der Geschichtsschreibung stilisiert haben, nicht wörtlich, sondern fragt nach der Bedeutung von Kriegserzählung als Ursprungs- und Herkunftsbewusstsein, so ergibt sich eine bemerkenswerte Abfolge: Homer hat einen zehnjährigen, Herodot einen zwanzigjährigen und Thukydides schließlich einen dreißigjährigen Krieg beschrieben.
Die Dauer des Krieges steht dabei nur für die Tiefe der Zäsur, die sie im Gang der Zeit darstellt. Aber sie zeigt zugleich doch auch einen kulturinternen Überbietungswettbewerb: je länger ein Krieg, desto schwerwiegender seine Folgen. Das wirft ein ganz eigenes Licht darauf, dass Thukydides den Archidamischen und den Dekeleischen Krieg, die durch den Nikias-Frieden voneinander getrennt waren, nicht als zwei voneinander getrennte Kriege behandelt, sondern zu einem großen, untrennbaren Konflikt «zusammengeschrieben» hat. Hier ging es nicht darum, irgendeinen Krieg zu beschreiben, sondern den «Krieg aller Kriege». Das gilt auch für Homer und Herodot. Erst Xenophon vollzieht eine «Normalisierung» der Kriegsbetrachtung, die auf der Annahme beruht, dass es immer wieder zu Kriegen wie dem beschriebenen kommen wird.
Homer hat in der «Ilias» den Untergang einer heroischen Adelskultur dargestellt, und zwar keineswegs nur den des schließlich unterliegenden Troja, sondern auch den der vor Troja siegreichen Achaier. Beides ist zwar nicht ausdrücklich Thema des Epos (das im Wesentlichen von den Folgen einer persönlichen Kränkung Achills, des größten Helden im Heer der Achaier, berichtet), doch aus dem Duktus der Erzählung geht hervor, dass hier der Untergang der kriegerischen Adelskultur erklärt wird. Ihre Ideale, aber auch ihre Art zu kämpfen sind nicht länger zukunftsfähig, und die Darstellung des Trojanischen Krieges ist weniger ein Bericht über die unbändige Kraft dieser Kultur als eine Erzählung von ihrer Selbstzerstörung durch permanente Kämpfe gegeneinander. Gesteigertes Heroentum löscht sich schließlich gegenseitig aus.
Ein Grieche für den Ost-West-Konflikt
Herodots «Historien» sind dagegen von politischer Aufbruchsstimmung und Zukunftsgewissheit getragen (siehe die Besprechung von Ryszard Kapuscinskis «Meine Reisen mit Herodot», S. 66). Dabei stellt Herodot, auch wenn er die Feinde der Griechen, die Perser mitsamt ihren Verbündeten, keineswegs in ein ungünstiges Licht rückt oder gar als barbarische Eroberer brandmarkt, die von ihm beschriebenen Kriege in die Perspektive eines Kampfes zwischen Ost und West, zwischen Despotie und Freiheit. Was Herodot entwickelt, ist eher ein Clash of Civilizations im Sinne Samuel Huntingtons als ein Machtkampf, wie ihn die neorealistische Schule der internationalen Politik auffasst: als Blaupause für die Hegemonialkriege der europäischen Geschichte der Neuzeit.
Herodot eignete sich geschichtspolitisch für die Zeit des Ost-West-Konflikts im 20. Jahrhundert, und in diesem Sinne besitzt er auch eine gewisse Attraktivität für die weltpolitischen Konstellationen, die sich seitdem entwickelt haben. Es ist eine Norm-Asymmetrie, die im Zentrum seiner Darstellung steht und die dafür sorgt, dass der Leser seine Sympathien klar verteilt. Diese Norm-Asymmetrie steigert Herodot noch dadurch, dass zuletzt der große und mächtige Despot unterliegt, während die kleinen und schwachen Vorkämpfer der Freiheit obsiegen. Das konnte bei einiger Mühe als Grundierung des Ost-West-Konflikts dienen, aber es ist schwierig, dies auf die gegenwärtige Herausforderung des Westens durch terroristische Netzwerke zu beziehen. Sobald diese jedoch, wie bei einigen amerikanischen Intellektuellen der Fall, als neuer Totalitarismus dargestellt werden, ist das Herodot’sche Grundmuster der Konfliktanalyse wieder anwendungsfähig.
Thukydides als kühler Macht-Analytiker
Ganz anders verhält sich das bei Thukydides und der kühlen Machtanalytik, die er in seinem «Peloponnesischen Krieg» entwickelt. Weder hat er diesen Krieg als einen Konflikt zwischen den um Athen gescharten Anhängern der Demokratie und den um Sparta gescharten Parteigängern der Aristokratie dargestellt, noch ist er den Argumenten der Gegner Athens gefolgt, die von einem Befreiungskampf gegen die Thalassokratie, die athenische Seemacht, sprachen. Stattdessen rückte er eine kühle Rationalität des Machtgebrauchs in den Mittelpunkt, von des aus er dann irrationale Abweichungen leicht sichtbar machen konnte. Macht ist dabei die für beide Seiten gleichermaßen verfügbare Recheneinheit, vor der sich die wertebefrachteten Reden beider Parteien als pure Ideologie ausnehmen.
Damit hat Thukydides das analytische Raster für die europäischen Kriege der Neuzeit geliefert: Die parteilichen Begründungen beider Seiten werden hier kritisch betrachtet und auf verborgene Interessen hin untersucht. Am bekanntesten wurde dies bei der Unterscheidung zwischen «Anlass» und «Ursache», die in den Darstellungen des Ersten Weltkrieges lange Zeit die konfliktanalytische Grundierung bildete. Aber Thukydides, politisch sicherlich der scharfsinnigste unter den griechischen Historikern, verliert mit dem Ende der klassischen Staatenkriege an Gewicht für die Analyse. Der Akteurstypus, den er seinen Darstellungen zugrunde legte, ist aus dem Kriegsgeschehen verschwunden – genauer: dieser Typus setzt, auf der Basis eines Abgleichs von Kosten und Nutzen der Kriege, auf Frieden.
Es scheint, als ob heute, mit dem Relevanzverlust des Thukydides, Herodot und Homer neue Bedeutung als Analyse-Raster gewinnen könnten: Herodot als Vertreter der Norm-Asymmetrie, Homer als Beschreiber des Innenlebens heroischer Gemeinschaften. Auf keinen Fall aber sollte man die antike Historiografie und deren Kriegsbeschreibung aus dem Auge verlieren. Sie ist der ferne Spiegel unserer Gegenwart.
Herfried Münkler ist Professor für Politische Theorie an der Berliner Humboldt-Universität. Im Vorjahr erschien seine Studie «Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten».
Bücher zum Thema
Herodot
Historien
Hg. und aus dem Griechischen von Josef Feix.
Artemis & Winkler, Düsseldorf 2004. 752 S., 29,90 €
Thukydides
Der Peloponesische Krieg
Hg. und aus dem Griechischen von Georg Peter Landmann.
Artemis & Winkler, Düsseldorf 2002. 648 S., 29,90 €
Wolfgang Schadewaldt
Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den
Griechen
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002. 413 S., 14 €
Eve-Marie Becker
Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen
Geschichtsschreibung
Walter de Gruyter, Berlin/New York 2005. 308 S., 88 €
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