Das Journal - Im Speicher der Geschichte

Reinhart Koselleck übt den skeptischen Blick auf vorschnelle Lehren aus der Vergangenheit

Die Faszination, die von Reinhart Kosel­lecks Schriften ausgeht und ihn zu einem der großen Historiker des 20. Jahrhunderts macht, gründet auf seinem Zugang zu vergangenen Begriffswelten. Geschichte ist immer mehr, als Sprache begreifen kann, und Begriffe enthalten stets mehr, als sich historisch ereignet – auf diese Unterscheidung pochen die Texte des im Februar 2006 verstorbenen Autors leidenschaftlich.

Kosellecks eigener Schreibstil zeugt von dieser Differenz. Für die Historiker, die ihrer Forschung in Archiven, tief über Akten gebeugt, nachgehen, wirkten die von ihm geprägten Begriffe abstrakt, aber suggestiv – gerade weil sie einen metaphorischen Über­schuss besaßen: «Sattelzeit» für das Jahrhundert des Durchbruchs zur modernen Welt zwischen 1750 und 1850; «Erwartungshorizont» und «Erfahrungsraum» für das seit dieser Zeit auseinander brechende Verhältnis von gemachter Erfahrung und gehegter Erwartung; oder «Zeitschichten» für die Erfahrungen, die sich über Jahrhunderte in Begriffen ablagern.

Koselleck hatte den einzigen Lehrstuhl für Theorie der Geschichte der alten Bundesrepublik inne, im ungeliebten Bielefeld, von 1973 bis zu seiner Emeritierung 1988; geistig und politisch gehörte er keinem Lager zu. Das jetzt erschienene Buch «Be­griffs­geschichten», noch von ihm selbst zusammengestellt, zeugt von seiner wissenschaftlichen Akribie, aber auch von der sprach­lichen Prägnanz seines Denkens. Der Band vereint Aufsätze aus drei Jahrzehnten. Oft nahm Koselleck Vortragseinladungen zum Anlass, Ergebnisse seiner materialgesät­tigten Studien vorzustellen (insbesondere aus dem Um­kreis des von ihm herausgege­benen siebenbändigen Lexikons «Geschicht­liche Grundbegriffe») und theoretische Reflexionen daran zu knüpfen. Wer die Begriffs­geschichte für sich entdecken will, sollte mit diesem Band einsteigen.


Patriotismus als Matrix der Moderne

Die historischen Skizzen zu Begriffen wie «Krise», «Utopie», «Revolution», «Emanzi­pation», «Bildung», «Fortschritt» und «Nie­dergang» oder zur Semantik von «bürgerli­cher Gesellschaft» zeugen nicht nur von der stupenden Gelehrsamkeit ihres Autors. Wie in den vorangegangenen Bänden «Vergangene Zukunft» (1979) und «Zeitschichten» (2000) – zwei weitere sollen noch folgen –, entfaltet Koselleck in diesen Aufsätzen vor allem das Programm einer Theorie möglicher Geschichte; systematisch hat er diese Theorie nie ausgeführt. Der neue Band führt vor – deutlicher noch als seine Vorgänger –, dass die Begriffsgeschichte die Theorie der Geschichte in den Begriffen selbst findet.

Ein Beispiel: Koselleck zeigt, wie «Patriotismus», eine Begriffsbildung des frühen 18. Jahrhunderts, zur semantischen Matrix aller späteren Ismen wurde: Republikanis­mus, Liberalismus, Sozialismus, Imperialismus, Kommunismus, Nationalismus, Faschismus – alle diese Bewegungsbegriffe enthalten, wie der Autor schreibt, eine abgründige Doppeldeutigkeit, eine Ideologieträchtigkeit, die dem Patriotismus von Anfang an innewohnt. Das Bekenntnis zum «Vaterland» galt der politischen Aufklärung als Grundlage einer legalen und gerechten Verfassung, die sich über den herrschenden Landesvater hob. Aus dem Monarchen als Wohltäter wurde so der Tyrann, der sich gegen eine «vernünftige» Ordnung stellt; und so konnte die Ermordung des Königs in der Französischen Revolution als patriotische Pflicht erscheinen.

Die Vernunft gebietet dem Patrioten zugleich die Liebe zur Menschheit und, aus kosmopolitischer Verantwortung, den Export der eigenen Verfassungsordnung über die Grenzen hinweg. In den so beglückten Ländern entstehen eigene, aggressive Patriotismen – wie in Preußen während der Napoleonischen Kriege. Nicht nur der Bürgerkrieg, auch die Kriege zwischen den Nationen werden durch die ein- und ausgrenzende Wirkung moderner Bewegungsbegriffe radikalisiert. Die geläufige Trennung von gutem «Patriotismus» und bösem «Nationalismus» erscheint aus der Sicht des Begriffshistorikers als Selbsttäuschung: Nationalisten sind immer die anderen.

Für Koselleck ist Begriffsgeschichte mehr als nur Philologie für Historiker, auch das zeigt das Beispiel des Patriotismus-Begriffs. Historische Quellen verweisen, anders als etwa literarische Kunstwerke, sehr wohl auf eine Welt jenseits des Textes – eben auf die Geschichte. Diese besitzt ihre eigenen Wiederholungsstrukturen, die zwar sprachlich geformt sind, sich aber historisch immer wieder neu herstellen. Begriffe, zumal politisch umstrittene wie «Volk» oder «Menschheit», sind Speicher vergangener Absichten, Hoffnungen und Ängste. Sie ändern sich langsam, nur selten plötzlich.


«Geronnene Lava» im Körper

Letztlich sind es drei Gegensatzpaare, die für Koselleck die vorsprachlichen Bedingungen aller möglichen Geschichte vorgeben. Insbesondere der Aufsatz «Sprachwandel und Ereignisgeschichte» pointiert die Konfliktfelder, die begreiflich machen, wie sich Geschichte ereignet. Da ist zunächst die Spanne zwischen Früher und Später, zwischen Geburt und Tod, die jedes Leben einzigartig und zugleich zum Teil einer Genera­tions­erfahrung macht. Sodann kann alle mögliche Geschichte der Unterscheidung von Innen und Außen – Freund und Feind, in der Terminologie Carl Schmitts – nicht entrinnen. Daher die Kritik, die der Historiker auch in diesem Band an der Semantik der Aufklärung übt: Die Aufklärung beanspruch­te, diese Grenze moralisch überwölben zu können – und intensivierte dadurch politi­sche Feindschaft nur noch.

Und schließlich meint Koselleck, dass die Unterscheidung von Oben und Unten – Herr und Knecht, wie es bei Hegel und Marx heißt – alle sozialen Beziehungen in der Geschichte bestimmt. Das schließt nicht aus, dass mehr Freiheit und Gleichheit im Laufe der menschlichen Geschichte erreicht wer­den könnten. Nur werden sich soziale Hie­rarchien immer wieder neu einstellen.

Der existenzielle, teils polemische Ton dieser historischen Anthropologie lässt sich nur aus Kosellecks eigener Lebenserfahrung im 20. Jahrhundert verstehen, dem «Zeitalter der Extreme» (Eric Hobsbawm). Wiederum benutzt Koselleck eine eindringliche Metapher, um seine Erlebnisse im ZweitenWeltkrieg zu beschreiben: Erfahrungen sind wie «geronnene Lava», eingeschrieben in den Körper. Sie können nicht ohne weiteres von später erworbenem Wissen überschrieben werden. Aus bildungsbürgerlichem, preußisch-protestantischem Elternhaus kommend, hatte sich Koselleck 1941, mit achtzehn Jahren, in vaterländischem Überschwang freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Den totalen Krieg im Osten überlebte er nur zufällig.

Skepsis ist also der Grundzug von Reinhart Kosellecks Theorie. Seine «Begriffsgeschichten» bieten das Rüstzeug, um sich der Zumu­tungen des Zeitgeistes zu erwehren – nicht zuletzt der Zumutung, die eigene Gegenwart als Lehre aus der Geschichte zu verkaufen. Die Geschichte hat kein Ziel, so ließe sich die Summe ziehen. Was Historiker aber zeigen können, ist, wie jede neue Generation mit der Gewalt politischer Konflikte und mit der Ungerechtigkeit sozialer Ordnung fertig wird.

 

Reinhart Koselleck
Begriffsgeschichten
Mit einem Nachwort von Carsten Dutt.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006. 569 S., 38 €

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