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Sarah Bolen - Die Edeltätowiererin

Eine gutbürgerliche Straße, Blümchentapete, Schmerzen. Zu Besuch bei der Tätowiererin Sarah Bolen 

Autoreninfo

Bergmann, Lena

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Das ältere Paar aus dem Schwabenland versucht, durch die Fensterfront ins Innere des Ladenlokals zu spähen. „Isch des a Reschdoront?“ Der rote Samtvorhang und der geschwungene Schriftzug haben sie offenbar neugierig gemacht. Der Name „Black Mirror Parlour“ weist allerdings in keine offensichtliche kulinarische Richtung. Die Kreuzberger Fichtestraße ist nämlich vor allem für ihre Restaurants bekannt. Touristen zieht es ins „Hartmanns“, ein österreichisches Sternelokal, oder ins „Le Cochon Bourgeois“, wo auch Jürgen Trittin gelegentlich gesichtet wird. Gerne zeigen Taxifahrer ihren Kunden, wo Walter Momper wohnt, Berlins ehemaliger Bürgermeister. 
 
Bei Momper schräg gegenüber, im Ladenlokal mit der Hausnummer 25, ist nun seit ein paar Monaten der „Black Mirror Parlour“ zu Hause, der von außen so einladend wie ein Restaurant oder ein hochwertiges Antiquariat wirkt. Stilsichere Blumentapete, ein geschwungenes Sofa, davor ein großer Strauß auf dem Biedermeiertisch. Doch hinter den schwarz lackierten Flügeltüren legt sich hier täglich eine internationale Klientel auf eine Holzliege mit Lederbezug, um sich stundenlang unter Schmerzen feine Nadeln in die Haut stechen zu lassen. 
 
Hätte das schwäbische Rentnerpaar die Betreiberin im Türrahmen stehen sehen, in knappen Shorts und ärmelfreiem Top, hätte es wohl nicht weiter nach der Menükarte gesucht. Von weitem sieht Sarah Bolen so aus, als trüge sie einen Ganzkörperanzug aus zarter schwarzer Spitze. Bei näherem Hinschauen ziehen sich über ihre nackten Gliedmaßen Schiffe in rauem Wellengang, Vögel mit gebogenen Schnäbeln und scherenschnittartige Menschenköpfe, eingefasst in ornamentale Rahmen. Von ihrem Kehlkopf mustert das Gegenüber ein Auge. Natürlich war auch der Vermieter zu Beginn von ihrem Aussehen irritiert, erzählt Bolen, „und wie alle anderen Vermieter war er von der Idee eines Tattoo-Studios in seinem Haus nicht begeistert.“ Doch als die Kanadierin während der Besichtigung in holprigem Deutsch von der Bausubstanz schwärmte und radebrechend darlegte, wie sie die triste Zahnarztpraxis in ein optisches Schmuckkästchen verwandeln würde, war er gerührt. Es dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass Bolen, wenn man die Tattoos ausblendet, wie ein braves Vorstadtmädchen wirkt, das ein wenig lispelt und viel kichert.
 
„Ich wollte Tätowiererin werden, seit ich mich als Kind für Musik interessiert habe“, erinnert sich Bolen. „Alle, die ich cool fand, waren tätowiert. Ich war immer das einzige Mädchen, das sich im örtlichen Tattoo-Studio rumgetrieben hat.“ Jedes Tattoo auf ihrem heute beinahe vollends bedeckten Körper symbolisiert für sie etwas Persönliches – wie viele ihrer Kunden nutzt sie das Tattoo auch als Markierung eines Lebensabschnitts. Mit 22 griff sie erstmals selbst zur Nadel, mittlerweile praktiziert sie die Kunst am Körper seit zwölf Jahren. Unter Tätowierern gibt es eine Faustregel: Nach zehn Jahren ist man gut. Und wer gut ist, kann auch gut verdienen.
 

Die Branche hat sich zu einer Edelindustrie entwickelt. Tattoos waren schon immer subkulturelle Statussymbole, doch Berühmtheiten tragen sie heute wie Designer-Taschen. Auf den Internetseiten großer Salons werden Meisterstecher selbstbewusst als Künstler vermarktet, es gibt Fachzeitschriften und internationale Messen. Gute Motive landen auf Online-Plattformen wie Instagram und Pinterest, wo man Detail­aufnahmen findet. So verbreitet sich auch die Arbeit von Bolen. Der Darwin, den sie einem Holländer in die Haut gebrannt hat, erregte zum Beispiel viel Aufsehen. Das gleiche Motiv sticht sie jedoch nie. Wenn ein Kunde sich meldet, hat er meist schon eine ungefähre Vorstellung. Bolen setzt sich dann hin und macht eine Skizze – die der Kunde erst sieht, wenn er das Studio betritt.

Mit dem Berliner Kreativprekariat, seinen Co-Working-Spaces und Dumping-Preisen hat Bolens Berufsalltag wenig zu tun. Sie wacht morgens ohne Wecker auf, zeichnet sich ein paar Stunden warm und entwirft Motive, bevor sie ab ein Uhr im Laden ihre Kunden empfängt. Sie konzentriert sich auf eine Person am Tag und richtet sich zeitlich nach ihren Kunden und deren Ankunftszeiten – denn meist fliegen sie von irgendwo ein. Der Preis für ein einfaches Tattoo beginnt bei 250 Euro. Doch in der Regel sticht sie komplexe, ineinander übergehende Motive, bei denen sich die Honorare schnell summieren.

So hat sich die Ästhetin eine komplette Renovierung des Ladens finanzieren können. Es half, dass sie auch einen Abschluss in Interior Design hat: „Als ich vor Jahren eine Phase hatte, in der ich beim Tätowieren nicht besser wurde, schrieb ich mich zum Studium in Vancouver ein.“ Dort zeichnete sie alles mit der Hand, während ihre Kommilitonen digital planten. Die vornehm-anrüchige, in bestem Sinne altmodische Einrichtung des Studios trägt dazu bei, dass ihre Kunden, meist im Alter von 20 bis 45, sich trotz Schmerzen beim Stechen wohl fühlen. Kein Neonlicht über einem Plastiksitz auf Fliesenboden wie in anderen Studios. Bolen serviert Kaffee mit Biomilch, Musik spielt gegen das Surren der Tätowiernadeln an. Das Altmodische setzt sich fort in ihrer Arbeit: Im Trend sind wieder Motive aus den Anfängen der Tätowier-Kultur, Seemannsmotive wie Anker, Rosen mit Schriftzügen oder Herzen. Geweihe, so viel ist klar, gibt es bei Sarah Bolen nicht am A., sondern nur an der Wand.

Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir den Namen von Sarah Bolen falsch geschrieben. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

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