- Weshalb man nicht sieht, was man sieht
Kommunistische Schweden reisen durch das Kambodscha der Roten Khmer: Eine meisterhafte literarische Reportage, die sichtbar macht, wie politischer Glaube die Realitätswahrnehmung blockiert
Es war eine Reise ins Herz der Finsternis, doch was die Reisenden beschrieben, war ein Paradies. Im August 1978 besuchte eine vierköpfige Delegation aus Schweden das Reich Pol Pots. Seit mehr als drei Jahren waren die Roten Khmer an der Macht, die das vom Bürgerkrieg zermürbte Kambodscha in einer der grausamsten Revolutionen des 20. Jahrhunderts in einen vorindustriellen Bauernstaat verwandelt hatten. Im Demokratischen Kampuchea, wie die Roten Khmer ihren neuen Staat nannten, gab es weder Geld noch Privatbesitz, die Städte verödeten, auf den Feldern arbeiteten die Menschen in schwarzer Einheitskleidung und mussten sich von kargen Reisrationen ernähren.
Als vietnamesische Truppen Ende 1978 in das Nachbarland einmarschierten, kannte niemand die Zahl der Toten, die das menschenverachtende Experiment im Namen des Kommunismus gekostet hatte. Wie viele werden es gewesen sein, die vor Erschöpfung starben, verhungerten oder hingerichtet wurden? Heute schätzt man ihre Zahl auf rund 1,7 Millionen. Die „Killing Fields“, in deren Erde noch immer Totenschädel und Knochen liegen, wurden zum Sinnbild der Schreckensherrschaft.
Von alledem sahen die vier Schweden im Sommer 1978 nichts. Zwei Wochen lang reisten sie quer durch das Land, besuchten Kooperativen, besichtigten Baustellen, fotografierten lächelnde Menschen und wurden am Ende von Pol Pot persönlich empfangen, mit dem sie bei frischen Austern über die Revolution plauderten.
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Es war eine große Ausnahme, dass Ausländer das abgeschottete Land, aus dem kaum Nachrichten nach außen drangen, überhaupt besuchen durften. Die schwedischen Besucher waren willkommen. Als Mitglieder der kleinen „Freundschaftsgesellschaft Schweden-Kampuchea“ hatten sie sich, empört über die US-Politik in Südostasien, seit Langem für das ferne Land eingesetzt. Mit Herz und Seele verstanden sie sich als Revolutionäre und hofften wie viele westeuropäische und amerikanische Linke der 1970er Jahre, dass die Entwicklungsländer und ehemaligen Kolonien sich aus den Zwängen des Imperialismus befreien würden.
Dieser Glaube einte die Mitglieder der schwedischen Reisegruppe: den Krankenpfleger, die Studentin und die Redakteurin, alle um die dreißig und sehnsuchtsvoll vom Kommunismus träumend. Vierter im Bunde war der Autor Jan Myrdal, damals knapp über 50 und Schwedens berühmtester Linksintellektueller. Schon früh ein überzeugter Anhänger Maos, trat er leidenschaftlich für Pol Pot ein, der sich in seinen Plänen für eine Bauernrevolution an China orientierte.
Eine der Mitreisenden war zudem mit einem Kambodschaner verheiratet, der in seine Heimat zurückgekehrt war, um dort die Revolution zu unterstützen. Dass er 1978 vermutlich längst in einem der Foltergefängnisse umgekommen war, überstieg die Phantasie der Polit-Touristen. Denn was sie im Demokratischen Kampuchea zu sehen glaubten, entsprach ihrem Traum von einer besseren, kommunistischen Zukunft.
Es war eine Welt, in der die ehemals Unterdrückten ihr Schicksal in die Hand genommen hatten, eine, in der es keine Unterschiede zwischen den Menschen mehr zu geben schien. Warum aber sahen sie nicht den Hunger, die Folter, die zahllosen Toten? Warum glaubten sie, die Wahrheit über ein Land erkannt zu haben, dessen Sprache sie nicht einmal verstanden?
Diese Fragen führten den Journalisten Peter Fröberg Idling zu umfangreichen Recherchen. Als die Roten Khmer am 17. April 1975 Phnom Penh eroberten und die neue Zeit ausriefen, war er knapp drei Jahre alt. Die schwedischen Anti-US-Demonstrationen, zu denen ihn seine Eltern im Kinderwagen mitnahmen, gehören zu seinen frühesten Erinnerungen. Jahrzehnte später fand Fröberg Idling den enthusiastischen Reisebericht, mit dem die schwedische Delegation ihren Besuch im Demokratischen Kampuchea feierte. Knapp dreißig Jahre nach Jan Myrdal und seinen Gefährten reiste der Journalist selbst durch das heutige Kambodscha, besuchte dieselben Orte wie die damalige Reisegruppe, sprach teilweise mit denselben Menschen und stieß überall auf die Wunden, die das vierjährige Terrorregime hinterlassen hat und die bis heute nicht verheilt sind.
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Fröberg Idling gibt sich allerdings nicht mit der Perspektive des Nachgeborenen zufrieden, der leichtes Spiel damit hätte, aus historischem Abstand die Irrtümer seiner Vorgänger zu kritisieren. So einfach macht er es sich nicht, und darin liegt eine große Stärke seines Buches. Es ist ein differenzierter Essay, Geschichtsbuch, Reisebericht und politischer Kommentar in einem, dazu eine behutsame Erkundung der menschlichen Wahrnehmung und ihrer blinden Flecke. Wir mögen heute die politische Naivität der Reisenden des Jahres 1978 belächeln, doch welche politische Ignoranz wird man später einmal uns vorwerfen?
Verschiedene Erzählstränge sind in den 265 oft sehr kurzen Kapiteln kunstvoll miteinander verflochten, im Wechsel der Perspektiven und Zeiten entsteht ein faszinierendes Panorama. Der Autor geht weit in die Geschichte Kambodschas zurück und schildert, wie das kleine Land aufgrund seiner Nachbarschaft zu Vietnam zum Ziel amerikanischer Bombenangriffe wurde und welch seltsame Rolle der immer freundliche Prinz Sihanouk in den wechselnden Regierungen spielte, bis er von den Roten Khmer zur Legitimation ihrer Herrschaft benutzt wurde.
Faszinierend ist die Lebensgeschichte des Diktators: Der begabte Saloth Sar, der sich später Pol Pot nannte, kam Anfang der fünfziger Jahre als Student nach Paris, trat dort der kommunistischen Partei bei, lebte dann in seiner Heimat jahrelang im Untergrund und errichtete schließlich mit alten Studienfreunden aus der Pariser Zeit sein Terrorregime.
Als gewissenhafter Journalist nahm Fröberg Idling auch Verbindung zu den Mitgliedern der Delegation von 1978 auf. Die drei Jüngeren unter ihnen gaben zu erkennen, dass sie ihre damalige Reise inzwischen als Irrtum begriffen. Nicht so der unerschütterliche Jan Myrdal, der bis heute auf seinem Urteil beharrt: „Ich sah, was ich sah, und darüber habe ich geschrieben.“ Dem „Unpersönlichkeitskult“ Pol Pots, der wenig über sich selbst preisgab und seinen Untertanen gewaltsam jede Individualität austreiben wollte, stellt Fröberg Idling eine Spurensuche entgegen, die respektvoll einzelne Lebensgeschichten würdigt.
In seinen Gesprächen mit Kambodschanern, die Pol Pots Herrschaft überlebt haben, gewinnt der staatliche Terror beklemmende Anschaulichkeit. Aber auch Angehörige des damaligen Regimes machte er ausfindig, etwa den ehemaligen Staatschef des Demokratischen Kampuchea, der unbehelligt in einem seiner Häuser in der Provinz lebte. Ein wirkliches Gespräch mit ihm war jedoch nicht möglich; er wich allen Fragen über seine Zeit mit Pol Pot aus, darin der Unbeirrbarkeit Jan Myrdals verwandt.
Parolen Pol Pots durchziehen wie ein basso continuo das Buch und illustrieren die erschreckende Schlichtheit seiner Politik. „LIEBER AUS VERSEHEN EINEN UNSCHULDIGEN TÖTEN ALS EINEN FEIND IN DEN EIGENEN REIHEN BEHALTEN“ – Frödberg Idling versucht zu begreifen, wie die kambodschanischen Revolutionäre ihre unmenschliche Mentalität ausbilden konnten, und warum ihre Sympathisanten im fernen Schweden darauf so begeistert reagierten, dass sie noch im dunkelsten Terror das Paradies zu entdecken glaubten. Dass dies ohne jede Besserwisserei gelingt, zeichnet den Reisebericht aus, der in seiner Vielschichtigkeit das Beste bietet, was eine literarische Reportage überhaupt zu leisten vermag.
Peter Fröberg Idling: Pol Pots Lächeln. Aus dem Schwedischen von Andrea Frederiksson-Zederbauer. Edition Büchergilde, Frankfurt a.M. 2013, 352 S., 22.95€
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