() Michail Gorbatschow
Das Kapital ist schuld
Die Gier und Unvernunft einiger weniger zieht uns alle mit in die Abgründe der Finanzkrise.
Während die globale Finanzkrise immer weitere Kreise zieht, besteht kein Zweifel daran, dass der Börsencrash nicht nur die Wohlhabenden getroffen hat, deren Lebensstil davon wohl kaum beeinträchtigt sein wird, sondern auch Millionen gewöhnlicher Menschen, die ihre gesamten Ersparnisse dem Markt anvertraut hatten.
Diese Finanzkrise ist aller Wahrscheinlichkeit nach lediglich Vorbotin der vielleicht schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der dreißiger Jahre. Und sie kam nicht aus heiterem Himmel. Es gab Warnungen von verschiedenen Seiten, auch von Ökonomen, die sich für gewöhnlich an Fakten orientieren. Führende Weltpolitiker der Trilateralen Kommission und des World Political Forum mit reichlicher Erfahrung rieten ebenfalls zu Vorsicht. Sie befürchteten, die Finanzmärkte würden sich zu einer gefährlichen Blase entwickeln, die in wenig oder keinerlei Beziehung zu den tatsächlichen Waren- und Dienstleistungsflüssen stünde. All diese Warnungen blieben jedoch unbeachtet.
In den kommenden Monaten werden wir alle von der Gier und Unvernunft einiger weniger in Mitleidenschaft gezogen werden. Kein Land und keine Branche der Wirtschaft wird der Krise entkommen können. Das in den frühen achtziger Jahren verankerte Wirtschaftsmodell ist im Begriff, sich aufzulösen. Es basierte auf der Maximierung von Profiten durch die Abschaffung staatlicher Regulierung, die dem Schutze der Interessen der Gesellschaft als Ganzes diente. Jahrzehntelang wurde uns gesagt, dies komme uns allen zugute. Doch wie die Statistiken belegen, war dies nicht der Fall.
Das im Vergleich zu den fünfziger und sechziger Jahren ohnehin recht bescheidene Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte hat die wohlhabendsten Mitglieder der Gesellschaft unverhältnismäßig stark begünstigt. Der Lebensstandard der Mittelschicht indes stagnierte und die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößerte sich selbst in den wirtschaftlich stärksten Ländern zunehmend.
Unverantwortliche Kreditvergabe und der Einsatz komplexer Derivatinstrumente machten das System noch labiler. Diese Instrumente erwiesen sich als komplizierte finanzielle Pyramiden. Selbst ein Großteil der Ökonomen und Banker konnte nicht erklären, wie sie funktionieren. So profitierten vor allem ihre Erfinder davon.
Von all den Enthüllungen der vergangenen Woche hat mich eine Tatsache ganz besonders betroffen gemacht: Einigen Schätzungen zufolge gewährten die führenden Investmentbanken der USA im vergangenen Jahr Bonuszahlungen in Höhe von 38 Milliarden Dollar. Teilt man diese Zahl durch die Gesamtheit ihrer Mitarbeiter, erhält man einen Betrag von 200.000 Dollar pro Person – dies entspricht dem Vierfachen des Einkommens einer amerikanischen Durchschnittsfamilie! Obendrein gab es noch die sogenannten Golden Parachutes, Abfindungen in Millionenhöhe, die den Führungskräften derjenigen Banken gezahlt wurden, die pleitegingen oder von der Regierung gerettet werden mussten.
Im Endeffekt läuft es auf Folgendes hinaus: Ruinöser Kapitalismus für die Mehrheit und „Sozialismus“ – in Form von Regierungshilfen – für diejenigen, die ohnehin bereits reich sind. Aber in drei oder vier Jahren, wenn die akute Phase der Krise vorüber ist, werden wir von denselben Leuten hören, dass Kapitalismus in Reinform die beste Lösung ist und wir sie von staatlicher Regulierung befreien sollten. Bis zur nächsten, noch verheerenderen Krise?
Die Folgen des derzeitigen Globalisierungsmodells zeigen sich in der Deindustrialisierung ganzer Regionen sowie in verfallener Infrastruktur, nicht funktionierenden sozialen Strukturen und in Spannungen, die durch unkontrollierte und nicht regulierte wirtschaftliche und soziale Vorgänge und Migrationsprozesse verursacht wurden. Der moralische Schaden war enorm und spiegelt sich selbst in der Sprache wider: So wurde beispielsweise aus Steuerhinterziehung „Steuerplanung“ und aus Massenentlassungen „Personaloptimierung“.
Das Konzept des freien Handels als Patentrezept für jedwedes Problem hat das der nachhaltigen Entwicklung, welches die Umwelt zugunsten der nachfolgenden Generationen schützen soll, verdrängt. „Morgen ist auch noch ein Tag“ lautet die Einstellung – und das zu einer Zeit, in der von der Uno finanzierten Studien zufolge 60 Prozent der Ökosysteme bereits geschädigt sind.
Die Rolle des Staates und der Zivilgesellschaft hat an Bedeutung verloren. Menschen werden nicht wirklich als Bürger gesehen, sondern bestenfalls als „Verbraucher staatlicher Dienste“.Das Ergebnis ist eine explosive Mischung aus Sozialdarwinismus, getreu dem Motto „Der Stärkere überlebt, der Schwächere stirbt“ und des Prinzips „Nach uns die Sintflut“.
Die wachsende Krise der Weltwirtschaft ist nun endlich in den Mittelpunkt des Interesses der politischen Entscheidungsträger gerückt. Aus verständlichen Gründen konzentrieren sich diese auf sofortige Rettungsmaßnahmen, die natürlich notwendig sind. Darüber hinaus ist es aber auch unerlässlich, die Grundlagen des sozioökonomischen Modells der modernen Gesellschaft zu überdenken, ich würde sogar sagen, bis hin zu der dahinterstehenden Philosophie. Dieses Modell hat sich als ziemlich primitiv erwiesen und basiert gänzlich auf Profit, Konsumverhalten und persönlicher Bereicherung.
Übersetzung: Gwenola Walka
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